„Keine Verkehrswende mit der Brechstange“
Tagesspiegel vom 22.05.2023 von Christian Latz

Frau Schreiner, mit welchem Verkehrsmittel bewegen Sie sich selbst bevorzugt durch die Stadt? Ich fahre meistens mit dem Auto durch die Stadt. Das ist aber bei uns in der Familie sehr unterschiedlich. Mein Mann fährt jedes Jahr 6000 Kilometer mit dem Fahrrad. Meine Kinder nutzen eher einen Mix aus ÖPNV und Fahrrad. Aber bei mir ist es schon durch die Termine meistens der Pkw.

Ihre Partei, die CDU, hat im Wahlkampf für sich auch als Autofahrer-Partei geworben. Machen Sie nun vor allem noch für diese Klientel Politik? Nein, überhaupt nicht. Ich bin nicht angetreten, um das Mobilitätsverhalten der Berliner zu bewerten oder gar zu verurteilen. Meine Aufgabe als Senatorin ist, vernünftige Rahmenbedingungen für alle Verkehrsteilnehmer zu schaffen, mehr Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppen zu erreichen – und für mehr Verkehrssicherheit zu sorgen.

Halten Sie einen Teil des Autoverkehrs in der Stadt für verzichtbar? Ich sehe schon, dass wir den Autoverkehr eindämmen müssen. Zur Wahrheit gehört aber, dass Berlin schon jetzt eine Großstadt mit sehr wenigen Autos pro Einwohner ist. Aber klar, wenn man durch die Straßen fährt, versteht man das Bedürfnis von vielen, den Autoverkehr weiter zu reduzieren. Dem fühle ich mich verpflichtet.

Welchen Teil des Autoverkehrs meinen Sie damit? Ich sehe den Schwerpunkt beim Pendelverkehr. Wir haben hunderttausende Pendelbewegungen am Tag. Wir müssen daher in den Außenbezirken bessere Park &Ride-Angebote schaffen, beim öffentlichen Nahverkehr Lücken schließen und den Takt verdichten, damit Pendler leichter umsteigen können – und wollen. Zudem müssen am Stadtrand neue Radwege entstehen, so dass auch in den Außenbezirken die Leute mit dem Fahrrad sicher ans Ziel kommen können. Ich bin überzeugt, dass ein entsprechendes Angebot von sehr vielen genutzt würde. Wer stellt sich schon gerne in den Stau?

Sie wollen den öffentlichen Nahverkehr ausbauen? Richtig: Wir wollen an den U-Bahnausbau ran und die U3 zum Mexikoplatz und die U7 zur Heerstraße und zum BER verlängern. Darüber hinaus hat die BVG noch viele andere Streckenpläne in der Schublade. Wir werden uns da jetzt abstimmen müssen, was man prioritär angeht. Das ist natürlich immer eine Kosten-Nutzen-Frage. Da muss ich mir noch einen Überblick verschaffen.

Welche Strecken haben noch für Sie Priorität? Neben den genannten noch die U8 ins Märkische Viertel und die U2-Verlängerung nach Pankow-Kirche. Aber auch die U10 nach Weißensee muss man sich anschauen.

Die U10 wäre ein wirkliches Großvorhaben. Ja, aber genau deshalb muss man hier frühzeitig prüfen, was in welchen Zeiträumen möglich ist. Es gibt ja teilweise schon Vorleistungen. Wenn man Pankow und den Berliner Norden entwickeln will, muss man da ran.

Wollen Sie mehr separate Spuren für den Busverkehr einrichten? Natürlich will ich mehr Busspuren einrichten. Aber dabei muss man rechtlich sauber bleiben. Die Hürden für die Einrichtung sind insbesondere durch die vorgeschriebene Zahl an Bussen pro Stunde sehr hoch. Aber überall dort, wo der Bedarf nachgewiesen werden kann, brauchen wir Busspuren für die Beschleunigung. Wenn Busse immer langsamer vorankommen, ist der ÖPNV nicht attraktiv. Wir wollen aber mit guten Angeboten überzeugen.

Ihre erste Entscheidung war, die schon auf den Weg ins Parlament befindlichen Teile des Mobilitätsgesetzes zum Wirtschaftsverkehr und zur neuen Mobilität zurückzuziehen, warum? Ich sehe im Mobilitätsgesetz mehrere Sachen kritisch. Schon zu Beginn gibt es darin eine Generalklausel, die sehr apodiktisch den Individualverkehr zurückdrängen möchte. In dieser Form hat das sehr weitreichende Auswirkungen auf alle anderen Paragrafen im Gesetz. Auch heißt es, dass Parkplätze wegfallen sollen. Das ist mir zu ideologisch, schon vom Ansatz her. Wenn wir Klimaschutz ernst nehmen, brauchen wir eine Antriebswende und auch die Infrastruktur dafür: Wir brauchen also Platz auf den Straßen für Elektroautos. Auch die erleichterte Entwidmung von Straßen halte ich für problematisch, gerade vor dem Hintergrund, wie es bei der Friedrichstraße gelaufen ist.

Bedenken haben Sie offenbar überall dort, wo die Regelungen den Autoverkehr einschränken würden. Ist das als Absage an die Verkehrswende zu verstehen? Nein, das ist keine Absage an die Verkehrswende. Aber es ist die Absage an eine Verkehrswende mit der Brechstange, die bestehende Bedürfnisse der Menschen ignoriert. Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, ein Verkehrsmittel prominent zu verteufeln. Ich will, dass wir dieses Gegeneinander überwinden und für jeden Verkehrsteilnehmer ein Angebot schaffen. Radfahrer sollen vernünftige Radwege bekommen, Autofahrer sollen auf guten Straßen ohne Löcher unterwegs sein – und für ÖPNV-Nutzer brauchen wir ein sehr attraktives Angebot.

Also alles für alle. Nur dass die Straßen leider nur eine begrenzte Breite haben. Es mag sich anhören wie die Quadratur des Kreises – und natürlich ist nicht für alle überall unbegrenzt Platz da. Aber: Es ist ganz sicher keine Lösung, einfach eine Schablone über die ganze Stadt zu legen. So verprellen wir die Menschen und erreichen gar nichts. Wir brauchen Leitlinien für die Verkehrswende, natürlich, aber am Ende spielen immer auch die Gegebenheiten vor Ort eine Rolle.

Und wie wollen Sie das lösen, wenn der Platz nicht für alle reicht? Wenn die Straße nur einen begrenzten Raum hat, dann muss man Kompromisse machen. Dann ist der Radweg eben schmaler als 2,50 Meter oder es fallen Parkplätze weg. Was die beste Lösung ist, gilt es jeweils direkt am Ort zu entscheiden – und das kann auch mal Autofahrer treffen. Wenn wir uns aber vornehmen, für alle ein gutes Angebot zu machen, dann bekommen wir die Polarisierung aus der Debatte heraus und erreichen viel mehr für die Stadt und die Menschen.

Autofahrer klagen, dass sie in der Stadt kaum vorankämen. Müssen sie sich an den Stau gewöhnen? In der Großstadt müssen Autofahrer diesen Zustand ein Stück weit akzeptieren, ja. Der Stadtraum ist nun mal begrenzt. Deswegen muss es natürlich unser Ziel sein, den Individualverkehr in Grenzen zu halten. Zugleich kümmern wir uns aber um einen optimierten Verkehrsfluss auf den Straßen, zum Beispiel durch verbesserte Baustellenkoordination und kluge Ampelschaltungen.

Eines der zentralen Vorhaben der neuen Koalition ist das 29-Euro-Ticket. Angesichts zahlreicher Alternativangebote wie dem Deutschland-Ticket als Jobticket: Warum soll Berlin für eine Insellösung mehrere hundert MillionenEuro investieren? Ich bin derzeit dabei, gemeinsam mit dem VBB ein Konzept für ein 29-Euro-Ticket zu entwickeln. Eine Alternative dazu wäre eine Rabattierung des Deutschlandtickets. Das wird auch in anderen Bundesländern gemacht. Dafür schauen wir uns die Bevölkerungsstruktur und die Bedürfnisse jenseits der bestehenden Tickets genau an, um ein in sich stimmiges System zu entwickeln. Das 29-Euro-Ticket soll eine Lücke füllen, die aktuell noch besteht. Wie groß diese Lücke ist, müssen wir prüfen und eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen.

Und wenn der Nutzerkreis zu klein ist, kommt das 29-Euro-Ticket nicht? Wir wollen und werden zu einem stimmigen Tarifsystem kommen.

Wann waren Sie zuletzt an der Friedrichstraße? Am vorigen Wochenende. Gut gefallen hat es mir nicht. Ich habe das Gefühl, dass die Straße vor der Sperrung wesentlich belebter war.

Wie stellen Sie sich die Zukunft der Friedrichstraße vor? Wir brauchen ein Gesamtkonzept, bei dem man auch den Gendarmenmarkt betrachtet. Dort könnte rundherum eine Flaniermeile entstehen. Auch den Checkpoint Charlie jenseits der Leipziger Straße müssen wir in die Pläne mit einbeziehen. Es darf gern etwas größer gedacht werden.

Und dafür dann wieder Autos in der Friedrichstraße? Das steht noch nicht fest. Genau deshalb braucht es ein Gesamtkonzept, an dem dann auch die Stadtgesellschaft beteiligt wird, vor allem die Anlieger. Ich bin keine Gegnerin von Fußgängerzonen, ganz und gar nicht: Ich kann mir gut vorstellen, dass man in den Kiezen Fußgängerzonen einrichtet. Ich bin sehr dafür, den Verkehr aus den Kiezen rauszuholen.

Können Sie ein Beispiel nennen? Ich komme aus Pankow, dort könnte sich der Bereich südlich des Mirbachplatzes in Weißensee für eine Flaniermeile eignen. In Kreuzberg beispielsweise, wo es durch die Markthalle Neun ohnehin einen Publikumsmagneten gibt, kann man ebenfalls eine attraktivere Umgebung schaffen. Die Bezirke kennen sich hier aus und sollten aus meiner Sicht mutig sein mit solchen Projekten.

Sie sind auch zuständig für Klimaschutz. Schwarz-Rot will zehn Milliarden Euro investieren. Was genau soll passieren? Geld bereitstellen ist das eine, die Umsetzung ist deutlich schwieriger. Die drei großen Themen heißen Gebäudeeffizienz, Umbau der Energie- und Wärmeversorgung sowie Verkehr. Bei der energetischen Sanierung müssen wir als Land Vorbild sein und zeigen, dass und wie es geht. Auch beim Bau von Solaranlagen müssen wir vorankommen und über modernisierte Denkmalschutz -Bestimmungen nachdenken. Im Bereich Wärmeversorgung befürworte ich die Nutzung von Geothermie. Wenn wir mehrere Orte in Berlin identifizieren können, wo wir wirklich mit Geothermie arbeiten, wäre das ein großer Fortschritt.

Gibt es da konkrete Projekte? Wir stehen in Oberschöneweide kurz vor einer 4,5 Kilometer tiefen Probebohrung. Wenn alles gut geht, könnten dort in ein paar Jahren Zehntausende Haushalte mit Strom und Wärme versorgt werden. Das ist ein europaweit einzigartiges Modellprojekt. Wenn wir mehr Standorte in Berlin identifizieren, wo das technisch möglich ist, hätten wir einen großen Schritt gemacht.

Bis wann ist Berlin klimaneutral? So schnell wie möglich. 2040 ist ein Zeitpunkt, den wir uns als Ziel setzen.

Haben Sie sich schon daran gewöhnt, als Verkehrssenatorin im Kreuzfeuer zu stehen?

Dass man Kritik von allen Seiten erntet, liegt an der Komplexität des Themas. Das sehe ich sportlich. Bei den vielen Bedürfnissen in einer Fast-Vier-Millionen-Stadt wird man es nie allen recht machen können. Darauf war ich eingestellt. Im Moment finde ich das bereichernd.

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In Wohngebieten schließt Schreiner autofreie Zonen nicht aus. „Ich kann mir gut vorstellen, dass man in den Kiezen Fußgängerzonen einrichtet.“

Zitat

Es ist nicht der richtige Weg, ein Verkehrsmittel prominent zu verteufeln.

Umweltsenatorin Manja Schreiner (CDU)

Infobox

Manja Schreiner wurde 1978 in Wismar geboren und wuchs bei Rostock auf. Die promovierte Juristin ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt seit 2007 in Berlin.

Seit 2012 ist Schreiner Mitglied der Berliner CDU und seit 2019 Vize-Landesvorsitzende. Seit dem 27. April 2023 ist sie Senatorin fürMobilität, Verkehr , Klimaschutz und Umwelt.

Schreiner arbeitete zunächst als Justiziarin bei dem Touristikunternehmen AIDA Cruises und wechselte dann zum Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). Später war sie für den Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) und die Fachgemeinschaft Bau Berlin und Brandenburg tätig.

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Finanzsenator Stefan Evers (CDU) hält an einer Neuauflage des 29-Euro-Tickets fest. „Wir werden alles daransetzen. Dafür arbeiten wir auf mehreren Ebenen und müssen uns zum Beispiel mit Brandenburg verständigen“, sagte Evers der „Berliner Morgenpost“. Zu klären sei unter anderem, wie das Ticket konkret ausgestaltet werde. „Mit dem Deutschland-Ticket für 49 Euro haben wir jetzt eine Basis, auf der man gegebenenfalls aufsetzen kann“, so der Finanzsenator. Die Verkehrsverwaltung prüfe dies derzeit. „Aber das Ziel ist fest verabredet: die Wiedereinführung des 29-Euro-Tickets für alle.“ Einen konkreten Zeitpunkt nannte Evers nicht. (dpa)

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