Tagesspiegel vom 10.06.2023 von Teresa Roelcke

In einer Vortragsankündigung der verschwiegenen „Kammergesellschaft“ wird zur „überfälligen Zivilisierung“ des zentralen Bezirks aufgerufen. Der Tagesspiegel hat sich das angehört.

Schon der Titel der Veranstaltung lässt aufhorchen: „Renaissance der Berliner Mitte durch die Reichen & Schönen!“ Eingeladen wird zum 192. „Kammer-Gericht“ der sogenannten „Kammergesellschaft“, am vergangenen Freitagmittag im ersten Stock des Waldorf Astoria am Breitscheidplatz: zu einem Mittagessen in „sorgfältiger Platzierung“ mit einem kurzen Vortrag vom Stadtforscher Benedikt Goebel „in der Tradition der pointierten Tischrede“.

Auf der Website der Kammergesellschaft ist die Einladung nicht zu finden, aber irgendjemand hat sie in einem Online-Forum geleakt. Um die angeblich „überfällige Zivilisierung, im Wortsinne Verbürgerlichung“ der Berliner historischen Mitte solle es in Goebels Vortrag gehen: „Es ist unnatürlich und kontraproduktiv, dass in der historischen Mitte der Metropole nur Sozialmieter wohnen – erst der Zuzug von Wohlhabenden wird ein lebendiges und nachhaltiges Zentrum ermöglichen“.

Nur Sozialmieter? Fast alle Flächen und Gebäude in der Gegend zwischen Spreekanal und Stadtbahn seien im Besitz des Landes Berlin und seiner Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), behauptet der Einladungstext. Mag sein, dass die WBM hier viele Bestände hat, aber längst nicht alle davon sind Sozialwohnungen. Und natürlich gibt es auch private Eigentümer in der Gegend. Aus Sicht des Ankündigungstextes ist hingegen klar: „Stadtmitten sind als Orte gesteigerter Lebensfreude zu gestalten – nicht als soziale Brennpunkte!“

Der Berliner Mitte mangele es an Vielfalt, womit gemeint ist: Eigentümervielfalt . Abhilfe wäre möglich: „Es gibt in Berlin aber viele Akteure: Baugruppen, Genossenschaften und engagierte Bauherrinnen und Bauherren , die auch hier gerne ihr Bestes für die Stadt geben wollen. Der Stadtkern wird ohne diese Vielfalt der Eigentümer nicht in der notwendigen Qualität wiederentstehen.“

Tatsächlich hat die neue schwarz-rote Koalition angekündigt, sich von der bisherigen Senatslinie abwenden zu wollen, landeseigene Grundstücke höchstens in Erbpacht zu vergeben: Genossenschaften sollen nun auch Grundstücke kaufen können. Von anderen privaten Akteuren als möglichen Käufern landeseigener Grundstücke ist im neuen Koalitionsvertrag nicht die Rede.

Es rumort um die Berliner Mitte

Trotzdem scheint bei den landeseigene Grundstücke in Mitte gerade in Bewegung zu sein: Hinter vorgehaltener Hand ist von mehreren Flächen die Rede, deren Vergabe durch das Land unter der neuen Regierung demnächst anstehen könnte. Dass am Molkenmarkt nun nicht mehr nur Landeseigene bauen sollen, steht sogar im Koalitionsvertrag.

Erst vor wenigen Wochen hat der Senat außerdem eine Art „Masterplan“ für die historische Mitte ausgeschrieben. Er betrifft das Areal des Rathaus- und Marx-Engels-Forums, aber der Siegerentwurf für die dort geplante Freiraumgestaltung taucht in der Ausschreibung nicht auf. Noch vor kurzem, in den Koalitionsverhandlungen, hatten sich SPD und CDU nicht auf eine Linie für die Freifläche zwischen Fernsehturm und Spree einigen konnten: Die SPD wollte am Plan der Umsetzung des Siegerentwurfs von Stephan Lenzen festhalten, die CDU wohl eher eine altstadtähnliche Bebauung .

Und last but not least ist der Architekten- und Ingenieurverein (AIV) gerade dabei, eine Genossenschaft zu gründen, um sich damit womöglich auf landeseigene Grundstücke wie etwa am Molkenmarkt zu bewerben.

Goebel fordert schon lange die Privatisierung

Der Kammergesellschafts-Referent Goebel ist in der Gemengelage kein Unbekannter: 2021 startete er eine Petition, die eine kleinteilige Parzellierung und Vergabe der Molkenmarkt -Grundstücke auch an private Bauherren forderte. „Vielfalt geht anders! Es gibt in dieser vitalen Stadt Berlin viele Akteure, Baugruppen , Genossenschaften und engagierte Bauherrinnen und Bauherren , die hier gern ihr Bestes geben wollen“, hieß in dieser Petition mit ähnlichem Wortlaut wie in der Einladung zum Lunch im Waldorf Astoria, allerdings ohne die gleichen polemischen Ergänzungen gegenüber der aktuellen Bewohnerschaft der Berliner Mitte.

Goebel ist außerdem Gründer der „ Planungsgruppe Stadtkern“, der auch die heutige Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt lange Zeit angehört hat, sowie Vorstandsmitglied des AIV. 2022 gründete er mit der 91-jährigen Unternehmerin Marie-Luise Schwarz-Schilling die „Stiftung Mitte Berlin “, die sich laut Selbstbeschreibung für „neue Häuser auf dem Stadtgrundriss der 1920er Jahre“ einsetzt, „anstelle des jetzigen Lochs in der Berliner Mitte, das aus zugigen Verkehrs - und Freiflächen besteht.“ Laut Website sucht die Stiftung noch nach Zustiftern. Womöglich sollen sich diese nun auch aus den Kreisen der „Reichen und Schönen“ in der Kammergesellschaft rekrutieren.

„Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Medien, Kunst und Kultur“ kommen in der Kammergesellschaft laut Selbstbeschreibung zusammen. Womöglich sind darunter auch solche, die Einfluss darauf nehmen könnten, dass es mit der „Verbürgerlichung“ beziehungsweise „Zivilisierung“ der Berliner Mitte klappt. Selbstverständlich ist eine solche Veranstaltung auch für die Öffentlichkeit von Interesse. Die Anmeldung des Tagesspiegels zur Veranstaltung wurde zunächst ohne Einschränkung bestätigt, dann aber am Vorabend des Mittagessens durch den Hinweis ergänzt: Man tage „off the records“, die Veranstaltungen der Gesellschaft seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.

Außer dem Selbstversuch, dass Kaviar gewöhnungsbedürftig ist, wenn man nicht zu den „Reichen und Schönen“ gehört, berichten wir daher nicht aus der Veranstaltung selbst. Im Anschluss war es aber möglich, dem Referenten Benedikt Goebel noch einige Fragen „on the record“ zu stellen. Vor allem die Frage: Wer soll sich denn eigentlich leisten können, in der Berliner Mitte zu bauen , angesichts der extrem wertvollen Grundstücke?

„Wenn der Senat bereit wäre, Flächen zu verkaufen, dann gibt es sicherlich auch Interessenten“, meint Goebel dazu, auch wenn er nicht präzisiert, wer das sein könnte. Als Investoren möchte er diese potenziellen Bauherren nicht bezeichnen, denn Investoren zeichneten sich dadurch aus, dass sie ganze Blöcke, Quartiere oder Stadtteile entwickeln wollten: „Wir wollen keine Investoren, sondern Bauherren und die Bauherren , die, wenn der Senat das so mitmacht, nur kleine Parzellen bekommen, winzige Flächen von mehreren 100 Quadratmetern.“

Diese Flächen seien natürlich immer noch teuer für die privaten Bauherren , das sieht auch Goebel so: „Die Bauherren müssen Geld mitbringen, weil sie sich dort repräsentieren wollen mit ihren Themen, Nutzungen oder Interessen aller Art.“ Womöglich schließt eine „Vielfalt“, die auf diese Weise erzeugt wurde, am Ende doch ziemlich viele Menschen aus.

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