Tagesspiegel vom 29.06.2023 von Rolf Brockschmidt

Eine Leerstelle im Berliner Gedächtnis

Der Neue Markt von Berlin? Wo soll der gewesen sein? Es ist ein Ort, an der die Stadtgesellschaft von Berlin prägte. Doch heute ist er aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Während der Molkenmarkt gerade archäologisch untersucht wird, bevor er – dem alten Straßenmuster folgend – wieder bebaut werden soll, gibt es eine solche geschichtssensible Planung für den Neuen Markt bis heute nicht wirklich. Er ist eine Leerstelle im Gedächtnis Berlins.

Zu Geschichte und Umbau des Neuen Marktes in der historischen Mitte Berlins hat die Historische Kommission zu Berlin jetzt das Colloquium „Der Neue Markt und das Marienviertel. Ein vergessenes Stadtquartier in der historischen Mitte Berlins “ in der Berlin -Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften veranstaltet.

Spiegel der Stadtgesellschaft

Heute steht die mittelalterliche Marienkirche als schmucker Solitär etwas verloren an der verkehrsreichen Karl-Liebknecht-Straße gegenüber dem Roten Rathaus. Die mittelalterlichen Spuren des alten Berliner Rathauses könnte man theoretisch besichtigen, wenn das in zwei Koalitionsverträgen beschlossene Archäologische Fenster am neuen U-Bahnhof realisiert worden wäre, aber der Berliner Senat scheint wenig an der Geschichte der Stadt interessiert zu sein.

Der Neue Markt mit der dazugehörenden Marienkirche war Ausdruck des wirtschaftlichen Aufschwungs Berlins im Mittelalter. Cölln, wie es damals hieß, mit seinem Alten Markt ( Molkenmarkt) in Spreenähe platzte aus allen Nähten und eine Stadterweiterung war zwingend geboten, um auch von dem sich entwickelnden Fernhandel zu profitieren.

Der rechteckig angelegte Neue Markt am Hohen Steinweg, der ersten gepflasterten Straße Berlins, diente vor allem dem Fernhandel. Von hier wurden Getreide und Bauholz für Hamburg und den Nordseeraum transportiert, wie Matthias Wemhoff, Direktor des Museums für Vor- und Frühgeschichte der Staatlichen Museen zu Berlin erzählte. Da die Berliner Quellenlage zum Mittelalter spärlich sei, lasse sich die Entwicklung nur im Vergleich mit anderen norddeutschen Städten nachvollziehen, etwa mit Brandenburg.

Angelegt um 1250, war der Platz gleichzeitig bis ins späte 18. Jahrhundert bedeutender Vieh- und Fleischmarkt. Seine Parzellen auf dem Markt, die Größen der Buden, waren genau vorgeschrieben und diese Marktordnung wurde von der Stadt überwacht. Der Neue Markt und das benachbarte Rathaus seien Ausdruck des gewachsenen Selbstbewusstseins einer verfassten Bürgerschaft, so Bauforscherin Andrea Sonnleitner vom Landesdenkmalamt Brandenburg.

Dieses Bewusstsein habe sich auch in der Innendekoration der Marienkirche gespiegelt: Bis zur Reformation hatte die Marienkirche 27 sogenannte Bürgeraltäre, wie die Historikerin Doris Bulach nachweisen konnte. Mit diesen Bürgeraltären verewigten sich vor allem Handwerker, die Tuchmachergilde und verschiedene Bruderschaften. Auch die Landesherrschaft hatte Altäre gestiftet. „Der soziale Raum der Stadt“ war Bulach zufolge im Kirchenraum repräsentiert.

Auch blutige Geschichtskapitel

Dass der Neue Markt Zentrum des Stadtgeschehens war, zeigen auch blutigen Episoden, wie Jörn R. Christophersen, Historiker an der Humboldt-Uni, darstellte. So wurde dort etwa der Probst von Bernau 1324 von Berliner Bürgern ermordet und 1458 der Waldenser Matthias Hagen wegen Häresie verbrannt, um ein Exempel zu statuieren. „Der Landesherr demonstrierte seine Macht auf dem wichtigsten Platz vor der Bürgerkirche“. Auch der Prozess gegen jüdische Mitbürger wegen angeblicher Hostienschändung fand auf dem Neuen Markt 1510 statt.

Im späten 19. Jahrhundert verlor der Neue Markt durch den Bau der Markthallen am Alexanderplatz an Bedeutung. Einige der die Marienkirche umgebenden Häuser wurde abgerissen, um der neuen breiten Kaiser-Wilhelm-Straße, der heutigen Karl-Liebknechtstraße, Platz zu machen, erklärte der Stadtforscher Benedikt Goebel. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Freiflächen im Herzen Berlins unangetastet blieben, habe daran gelegen, dass die DDR keine Investitionsmittel zur Verfügung hatte.

Seit 1970 seien der Neue Markt und das Marienviertel nicht mehr in den Karten verzeichnet gewesen, berichtete der Urbanitätsforscher Paul Sigel. Ein Park und der Fernsehturm hätten das alte Straßennetz bedeckt und alle Spuren getilgt. Das Setting der sechziger Jahre sei inzwischen selbst historisch. Mit dem Siegerentwurf des Wettbewerbs zur Neugestaltung des Rathausforums von RMP Stephan Lenzen von 2021 werde nun ein neues Kapitel aufgeschlagen.

Genau das aber stößt auf heftigen Widerspruch, wie die Abschlussdiskussion schnell zeigte. Die Marienkirche und die DDR-Moderne seien prägend für das Areal, für das der Entwurf nun eine Klammer schaffe, sagte Christoph Schmidt vom Landesunternehmen Grün Berlin, das den Plan nun bearbeiten muss. Dass der Neue Markt in der aktuellen Planung nicht mehr vorkommt, findet der Landesarchäologe Wemhoff „geschichtsvergessen“. Ein Marktplatz sei auch ein Ort der Demokratie, ein entscheidender Teil der Bürgerstadt Berlin, an den man sich erinnern müsse. Einen Verzicht könne sich eine Stadt eigentlich nicht leisten.
Ich möchte, dass die Planung noch einmal in die Hand genommen wird“, forderte Wemhoff – man verpasse sonst „eine historische Chance“.

***

Der Tagesspiegel im Internet: www.tagesspiegel.de