Die Zahl der Einwohner wächst deutlich stärker als die der Wohnungen. Die Politik verbaue jungen Menschen gerade die Zukunft, kritisiert der Chef des größten deutschen Wohnungsunternehmens.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.08.2023 von Julia Löhr

Die Zahlen lassen jeden schaudern, der in einer deutschen Großstadt eine Mietwohnung sucht. Um 20 Prozent sind die Angebotsmieten in Berlin binnen eines Jahres gestiegen. 13,23 Euro je Quadratmeter kalt wurden im zweiten Quartal dieses Jahres nach den Zahlen des Analysehauses Empirica im Mittel aufgerufen, im Vorjahresquartal waren es noch 11,02 Euro. In München werden Wohnungen im Schnitt sogar für eine Quadratmetermiete von 18,94 Euro inseriert (plus 6 Prozent), in Frankfurt für 14,56 Euro (plus 5 Prozent). Im Durchschnitt aller kreisfreien Städte in Deutschland stiegen die Angebotsmieten im zweiten Quartal gegenüber dem Vorjahr um 7 Prozent, in den Landkreisen um 4,5 Prozent. Ein Ende des Preisauftriebs ist nicht in Sicht.

Als Haupttreiber der Mieten gilt die Lücke zwischen dem Angebot an Wohnraum und der - deutlich größeren - Nachfrage. Mit einer Neubauoffensive wollte die Ampelkoalition gegensteuern, versprach 400.000 neue Wohnungen im Jahr. Doch eine Umfrage der F.A.Z. unter den zehn einwohnerstärksten Städten Deutschlands ergab, dass die Wohnungslücke noch größer wird. So ist in diesen zehn Städten zusammen die Zahl der Einwohner im Jahr 2022 um rund 211.500 gewachsen. Die Geflüchteten aus der Ukraine sind eine Ursache für den Anstieg, aber nicht die einzige. Die Zahl der Wohnungen nahm in den zehn Städten nur um knapp 48.000 zu. Der zuvor schon ausgeprägte Wohnungsmangel verschärft sich damit weiter. Auf 700.000 fehlende Wohnungen schätzte Anfang des Jahres ein Verbändebündnis die Wohnungslücke in Deutschland.

Immobilienverbände rechnen damit, dass in diesem Jahr wegen der gestiegenen Baupreise und Zinsen weniger neue Wohnungen fertiggestellt werden als die 295.300 aus dem vergangenen Jahr. Das größte private Wohnungsunternehmen Vonovia beginnt in diesem Jahr keine Neubauvorhaben. Nur etwa 3500 schon angefangene Wohnungen werden fertiggestellt. Vorstandschef Rolf Buch gibt im Gespräch mit der F.A.Z. einen düsteren Ausblick: "Wenn die Situation so bleibt, werden wir auch 2024 keine Neubauprojekte beginnen. Wir lassen unsere Baugenehmigungen in der Schublade", sagt er. "Es macht einfach keinen Sinn, unter den aktuellen Rahmenbedingungen Wohnungen zu bauen ." Um die Kosten wieder reinzuholen, seien 17 bis 20 Euro Kaltmiete je Quadratmeter nötig. "Das ist einfach zu viel. Solche Wohnungen können sich die Menschen nicht leisten."

Den Vorstoß von Bauministerin Klara Geywitz (SPD), die steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten für den Mietwohnungsbau zu verbessern, hält Buch für ungeeignet, um die Baukrise zu beheben. "Bessere Abschreibungsmöglichkeiten helfen denjenigen, die viel Steuern zahlen. Der wohlhabende Zahnarzt, dem würden die Pläne von Frau Geywitz nutzen." Wohnungsunternehmen hätten inzwischen aber "ziemlich geringe Erträge", sagt Buch, da würden bessere Abschreibungen nur wenig helfen. Vonovia legt an diesem Freitag Zahlen zum zweiten Quartal vor.

Während Gewerkschaften wie die IG BAU 50 Milliarden Euro staatliche Zuschüsse für den Sozialwohnungsbau fordern, hält der Vonovia-Chef einen stärkeren Fokus auf das mittlere Preissegment für nötig. "In Deutschland werden Wohnungen gebraucht, die zwischen 8 und 10 Euro je Quadratmeter kosten. Für Menschen, die zum Arbeiten in eine Stadt ziehen. Für junge Leute, die von zu Hause ausziehen wollen, für junge Familien. Denen verbauen wir gerade die Zukunft", sagt Buch und fügt mit Blick auf die Wahlumfragen hinzu: "Da müssen wir uns nicht wundern, wenn jemand mit den Ängsten der Menschen um Stimmen wirbt."

Der Preisauftrieb auf dem Mietwohnungsmarkt hat auch damit zu tun, dass zuletzt weniger Mieter in eine eigene Immobilie umzogen. Die Kaufpreise für Wohnungen und Häuser sind in den vergangenen Jahren noch stärker gestiegen als die Mieten. In Kombination mit den gestiegenen Zinsen - von etwa 1 Prozent Anfang 2022 auf inzwischen fast 4 Prozent - nehmen viele Haushalte von Kaufplänen Abstand. Zwar lagen die Kaufpreise für Wohnimmobilien gemäß den Zahlen des Statistischen Bundesamts im ersten Quartal dieses Jahres 6,8 Prozent niedriger als im Vorjahresquartal. Inzwischen gibt es aber auch schon Indikatoren, die auf ein Ende des Preisrückgangs hindeuten. " Der Abwärtstrend für Immobilienpreise in Deutschland ist im zweiten Quartal 2023 teilweise gestoppt", schreibt das Kieler Institut für Weltwirtschaft in einer am Donnerstag veröffentlichten Analyse.

Die Situation in den Städten unterscheidet sich je nachdem, wie begehrt sie bei Zuzüglern sind. In Berlin , der einwohnerstärksten Stadt Deutschlands, wurden im vergangenen Jahr zwar gut 17.300 Wohnungen fertig. Die Einwohnerzahl wuchs aber um 77.800. Knapp 2800 der fertiggestellten Wohnungen waren Sozialwohnungen. In Frankfurt stieg die Einwohnerzahl um fast 14.000, die Zahl der Wohnungen nur um knapp 3000. Besonders groß ist die Lücke in Stuttgart: 6300 zusätzliche Einwohner, aber nur etwas mehr als 1000 zusätzliche Wohnungen.

Handwerkspräsident Jörg Dittrich fordert einen Krisengipfel zur Flaute der Bauwirtschaft . "Dass der Bau ein Tal durchschreiten wird, ist mit Blick auf den dramatischen Rückgang bei den Baugenehmigungen in den vergangenen Monaten wohl nicht mehr gänzlich abzuwenden", sagte er am Donnerstag. Umso wichtiger sei jetzt ein Aufbruchssignal. Vonovia-Chef Rolf Buch vermisst eine klare Linie der Ampelkoalition: "Die Bauministerin will mehr Wohnungen, der Wirtschaftsminister mehr Klimaschutz, die Umweltministerin weniger Flächenverbrauch, der Finanzminister einen ausgeglichenen Haushalt, der Arbeitsminister mehr Zuwanderung: Jeder macht in seinem Bereich das Richtige, aber zusammen ergibt das nur Stückwerk", sagt er. In einem Unternehmen entscheide der Vorstandschef, was Priorität habe. "Diese Führung muss jetzt von Kanzler Scholz kommen."

Bauministerin Klara Geywitz mahnte zuletzt eine Diskussion auch über den Wohnflächenkonsum an. Im Schnitt lebt jeder Bürger aktuell auf 47,4 Quadratmetern, 1,2 Quadratmeter mehr als vor zehn Jahren. Während die SPD das Mietrecht eher noch verschärfen möchte, sehen manche Forscher in dem wachsenden Abstand zwischen günstigen Bestands- und teuren Neuverträgen eine Ursache dafür, dass kaum noch Wohnungen frei werden. "Die Mieter bleiben, solange es irgendwie geht, in ihren Wohnungen", sagt auch Buch. Früher habe die jährliche Fluktuation 10 bis 11 Prozent betragen, inzwischen seien es nur noch 6 bis 7 Prozent.

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