Berliner Zeitung vom 04.09.2023 von Anika Schlünz

Die Gegend rund um den Molkenmarkt soll neu gestaltet werden. Das Mitte-Fest in der Parochialkirche lud am Wochenende zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und Zukunft der Stadtmitte

Christin Colli steht in der Parochialkirche in Mitte und singt einen Refrain der die Zuhörer zumindest kurz stutzen lässt: „Seid willkommen in Berlin , ihr Verrückten gehört dahin, komm wir brauchen den Wahnsinn.“ Die Sängerin vom Duo Mamalluca hat mehrere Berlin -Lieder im Repertoire von Marlene Dietrich bis Hildegard Knef, aber weil sie selbst Berlinerin ist, kann sie zwischen den Liedern auch erzählen, wie es war, als Kind zur Schule zu gehen: vorbei am Gendarmenmarkt und am Bodemuseum. Dieses touristische Mitte, für Christin Colli ist es bis heue auch: Heimat.

Das Duo singt am Sonntag, als das Mitte-Fest schon fast zu Ende ist. Drei Tage lang wurde die Parochialkirche zu einem Ort, an dem Menschen miteinander diskutieren konnten, wie denn die Zukunft des alten Berliner Stadtkerns rund um den Molkenmarkt aussehen könnte.

Im vergangenen Jahr gab es schon einmal eine Veranstaltung dieser Art, doch in diesem Jahr hat man sich entschlossen ein richtiges Fest zu gestalten: mit Essen, Wein und eben Livemusik. Die Stiftung Mitte Berlin hat sich wirklich bemüht, eben nicht Plakate aufzustellen, die zum Diskutieren anregen, sondern eine anregende Atmosphäre in dieser Kirche zu schaffen.

Schulstandort im Gespräch

Brigitte Thies-Böttcher ist am Sonntag zumindest sehr zufrieden. Sie ist die Vorsitzende des Fördervereins des Gymnasiums zum Grauen Kloster. „Letztes Jahr war es auch furchtbar kalt in der Kirche“, erinnert sie sich. „Dieses Jahr habe ich nur interessante Gespräche geführt, auch mit vielen jüngeren Besuchern, was uns besonders gefreut hat.“ Es sei ja schwierig genug, über Pläne zu sprechen, die noch sehr vage sind. Aber dank der Plakate mit Entwürfen weiß man zumindest, wie es aussehen könnte.

Doch es werden nicht nur Entwürfe gezeigt, auf einem großen Plakat in der Kirche ist Berlin aus der Vogelperspektive zu sehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war viel zerstört, die Klosterkirche wurde erst in den letzten Kriegstagen bombardiert. Andere Bauwerke der Berliner Mitte, die den Krieg überlebten, wurden in den folgenden Jahren abgerissen. Besonders zwischen den Jahren 1965 und 1975 folgte ein Umbau der Stadtmitte durch die DDR-Regierung, der vor allem auf den reibungslosen Autoverkehr setzte. Dafür wurden „weitere Verluste von Baudenkmalen in Kauf genommen“, wie es auf einem Plakat in der Kirche formuliert ist.

Erst danach folgte auch in der DDR ein Umdenken. Seitdem gibt es immer wieder Diskussionen darüber, wie genau die Berliner Stadtmitte gestaltet werden soll. Dabei stehen sich bis heute zwei Fraktionen gegenüber: Soll die Stadt eine neue, moderne Mitte bekommen oder doch lieber alte, historische Gebäude rekonstruieren? Seit August liegt nun ein Rahmenplan des Senats vor, der beschreibt, welche Art von Bebauung auf welchen Grundstücken entstehen soll. So ist von circa 450 Wohnungen die Rede, von denen etwa die Hälfte „mietpreisgedämpft“ angeboten werden soll. Auch ein Schulstandort ist im Gespräch. Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) rechnet optimistisch damit, dass die ersten Bauten bereits 2028 abgeschlossen sein könnten.

Mehrere Entwürfe zeigen eine mögliche Neugestaltung des Gymnasiums zum Grauen Kloster, das 1574 gegründet und im Zweiten Weltkrieg zu großen Teilen zerstört wurde. Architekturstudenten der Fachhochschule Potsdam haben dazu Entwürfe erstellt. Zusätzlich können Besucher auf einem großen Banner eine Visualisierung des Gymnasiums sehen, so wie es heute dort stehen würde. Zwar ist die Ruine komplett als Kirche wiederaufgebaut, doch ob es jemals soweit kommt, ist noch nicht beschlossen.

Beim Mitte-Fest wird aber auch deutlich, dass es auch Gegner des Projekts gibt. Das musste auch Brigitte Thies-Böttcher vom Förderverein an diesem Wochenende feststellen. Einmal wird sie von einem Besucher schroff bei einem Gespräch unterbrochen mit dem Einwurf: „Sie wollen doch die ganzen Bäume fällen!“ Sie erklärt dann ruhig, dass es nicht darum geht, die Ruine wieder aufzubauen oder noch mehr Fläche zu versiegeln. Sie möchte viel mehr, dass durch die Schule wieder Leben in das Viertel kommt.

Das ist ein Satz, den so ähnlich viele aussprechen an diesem Wochenende, auch Hubertus Müller, stellvertretender Vorsitzender des Vereins Berliner Historische Mitte . Er sagt: „Im Stadtkern müssen wieder Menschen leben und sich dort auch aufhalten können.“ Das sei das Prinzip der europäischen Stadt, „das ist das, was funktioniert“. Auch Bernhard Wolter, ehemaliger Sprecher des Humboldt-Forums, will vor allem eines: Eine Nutzung, die „wieder Leben zurück in die Stadt bringt“. Dafür sei es wichtig, vielfältig zu bauen .

Bei der Eröffnung des Mitte-Fests sprach auch Marie-Luise Schwarz-Schilling, Gründerin der Stiftung Mitte Berlin . Das Ziel der Stiftung sei es, aus der Mitte Berlins „wieder ein lebenswertes Stadtzentrum zu machen“, sagte die Gründerin. Stiftungsvorstand Benedikt Goebel setzt sich ein für eine „schöne Mitte“, sagte er in seiner Rede, „das hat Berlin auch verdient“.

Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) betonte in ihrer Rede, dass die Denkmäler der Stadt sehr wohl mit modernen Bedürfnissen harmonieren könnten. Die Geschichte Berlins sei ein „Reichtum“, der eine große Anziehungskraft für Besucher habe. Sie sei froh, dass eine Diskussion über das Neben- und Übereinander der historischen Entwicklung Berlins angestoßen werde. Die Ideen der Stiftung nennt sie „einen großen Gewinn für die Stadt“.

Die Veranstaltung wird musikalisch begleitet, außerdem gibt es kostenlose Führungen durch die Stadtmitte. Am Freitag wurde die Führung von Detlef Hilbrecht geleitet, der lange Zeit Busfahrer bei der BVG war. Er erzählte den Besuchern von der Geschichte Berlins , von der ältesten Mauer in der Klosterkirche aus dem 13. Jahrhundert oder der Zeit, als die U2 gebaut wurde und die Berliner in der damals gestauten Spree baden gingen. Eine Stunde Führung reicht kaum aus für seine detailreichen Geschichten.

Abstieg in die Gruft

In diversen Führungen wurde den Besuchern die Geschichte der Klosterkirche , des Klosterviertels und des Friedhofs der Parochialkirche veranschaulicht. Mutige Besucher konnten sogar in die Gruft der Parochialkirche hinabsteigen. Bezahlt wurde diese beim Kirchenbau von den Nutzern: Rund 400 Taler mussten Gemeindemitglieder zur Bauzeit der Kirche für eine Gruft aufbringen, Einzelplätze gab es auch für etwas weniger Geld.

Am Sonnabend standen die archäologischen Ausgrabungen auf dem Großen Jüdenhof im Fokus. Bis heute ist nicht vollständig geklärt, ob und wann die Gegend hauptsächlich von Juden bewohnt wurde. Eberhard Völker vom Landesdenkmalamt Berlin und Lutz Mauersberger vom Berlin -Mitte-Archiv informierten die Besucher über diese geschichtsträchtige Debatte. Im Lauf der Jahrhunderte wurde der Große Jüdenhof aber auch von vielen Menschen bewohnt, die keine Juden waren – auch, weil Juden immer wieder aus Berlin vertrieben wurden.

Am Sonntag gab es noch eine Diskussionsrunde mit Petra Kahlfeld, der Senatsbaudirektorin. Brigitte Thies-Böttcher ist jedenfalls guten Mutes, dass es mit der aktuellen Koalition im Roten Rathaus gelinge, mehr als nur Pläne für diesen wichtigen Teil Berlins zu schmieden. Das zumindest ist ein Satz, den sie oft gehört hat von Besuchern beim Mitte-Fest: „Endlich passiert hier einmal etwas.“ Wenn dann jemand resigniert sage, es werde doch wieder alles nur zerredet, dann entgegne sie: „Hätten Sie im Jahr 2001 gedacht, dass Sie einmal im fertigen Humboldt-Forum stehen werden?“

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