Vor 125 Jahren beschäftigte ein Thema die Berlinerinnen und Berliner genauso wie heute – der Wohnraummangel
Berliner Morgenpost vom 20.09.2023 von Isabell Jürgens
Schleppender Neubau, steigende Mieten, wachsender Wohnungsmangel: Kaum etwas beschäftigt die Berlinerinnen und Berliner so wie die Sorge um sicheres und bezahlbares Wohnen. Ein Problem, das so alt ist wie die Morgenpost selbst. „Das Gründungsjahr der Morgenpost fällt in eine Zeit eines in der Berliner Geschichte nie da gewesenen Turbowachstums“, sagt der Sozialwissenschaftler und Stadtplaner Harald Bodenschatz. Binnen zehn Jahren war die Einwohnerzahl um rund 80 Prozent auf 1,8 Millionen angewachsen. Der daraus resultierende Wohnungsmangel hatte damals weit dramatischere Folgen als heute.
Infolge des starken Bevölkerungswachstums waren um 1898 zwar – fast ausschließlich durch private Bauherren – zahlreiche Mietshäuser in den Arbeiterquartieren Wedding, Moabit und Kreuzberg errichtet worden. Doch die bankenfinanzierten, mit geringem Eigenkapital gebauten Häuser deckten den Bedarf bei Weitem nicht. Das führte dazu, dass ganze Familien auf nur wenigen Quadratmetern zusammengepfercht hausen mussten, in vielen Wohnungen teilten sich mehrere Parteien den engen Raum. In der ersten Ausgabe der Berliner Morgenpost vom 20. September 1898 findet sich unter der Anzeigenrubrik „Vermiethungen“ ein typisches Angebot: „Zwei Schlafstellen für Herren zu vermiethen bei Lange, Mariannstraße 48, Ecke Skalitzer Straße.“
Das Wort „Mietskaserne“ als abwertender Begriff, als Synonym für das Wohnungselend in der wachsenden Stadt, in dem in lichtlosen Hinterhöfen und feuchten Kellern oder im unisolierten Dachgeschoss die Menschen unter krank machenden Bedingungen hausten, findet sich auch in der Berliner Morgenpost. Als oft zitiertes Beispiel für die schlimmen Zustände galt Meyers Hof in der Ackerstraße in Wedding. „Meyers Hof bestand aus sechs Höfen, jeder mit zwei vierstöckigen Quergebäuden, in einem Abstand von jeweils zehn Metern hintereinander errichtet. In die Höfe gelangte man durch gewölbte Durchgänge, für jedes Haus gab es zwei Seiteneingänge. Nach einheitlichem Grundriss befanden sich in jedem Haus fünfzig Kleinwohnungen, meist Stube und Küche, in jedem Stockwerk durch einen gemeinsamen Flur erschlossen“, heißt es dazu im Lexikon der Berlingeschichte. Bis zu 2000 Menschen sollen im Berlin der Kaiserzeit in den rund 300 Wohnungen gelebt haben. Die letzten Reste der Wohnanlage Meyers Hof wurden in den 1970er-Jahren abgerissen.
Dass es auch anders ging, bewiesen Terraingesellschaften wie die Berlinische Boden-Gesellschaft (BBG). Die errichtete von 1900 bis 1914, allerdings ausschließlich für finanzstarke Bürger, das Bayerische Viertel, dessen qualitativ hochwertige Häuser noch heute zu den bevorzugten Wohnlagen der Stadt zählen. „In dieser Zeit bildete sich die großräumliche Trennung von Wohnvierteln für die Begüterten vor allem im Südwesten der Stadt und den Quartieren für Arbeiter im Wedding, in Moabit und in Neukölln heraus“, beschreibt der Stadtsoziologe Harald Bodenschatz, der zahlreiche Bücher und Artikel zum Thema der Berliner Stadtbaugeschichte verfasst hat, die Situation vor dem Ersten Weltkrieg.
Kündigungsschutz und Mietpreisbegrenzung sollen Revolution verhindern
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war das Kaiserreich Geschichte. Schon während des Kriegs, so Bodenschatz, hatte man Reformen angestoßen, um die Wohnsituation der Menschen zu verbessern – vor allem aber, um die sich ankündigende Revolution zu verhindern. Damit war der tiefgreifendste Bruch bei der Wohnungspolitik der letzten 150 Jahre eingeleitet. Kündigungsschutz und Mietpreisbegrenzung veränderten die Wohnverhältnisse in der Weimarer Republik grundlegend. Das führte allerdings dazu, dass die Wohnungsknappheit zunahm, denn die nunmehr bezahlbaren Mieten bewirkten, dass es sich immer mehr Familien leisten konnten, auf Untermieter zu verzichten. „Verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass der private Wohnungsbau nicht mehr rentabel war und mehr denn je zusätzliche Wohnungen fehlten“, so Bodenschatz.
Als Gegenmaßnahme wurde in der Weimarer Republik die kommunale Wohnungswirtschaft aufgebaut. 1924 wurde etwa die GEHAG Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau -Aktiengesellschaft in Berlin gegründet. Das von Gewerkschaften und Genossenschaften getragene und von der Stadt unterstützte Unternehmen ließ in den 1920er- und 1930er-Jahren zahlreiche Wohnsiedlungen in verschiedenen Bezirken anlegen. Finanziert wurden die Bauvorhaben unter anderem mit einer Hauszinssteuer, mit der man die Inflationsgewinne des vor 1918 entstandenen Wohneigentums abschöpfte.
Die Siedlungen ohne Hinterhöfe mit niedrigen Häusern, die nun als Gegenmodell zur privatwirtschaftlichen Bauspekulation mit ihren Mietskasernen im neuen, 1920 geschaffenen „Groß- Berlin “ entstanden, sollten zugleich mit ihrer neuen Architektur für eine neue Gesellschaft stehen. Sechs dieser Siedlungen der sogenannten Berliner Moderne, darunter etwa die Hufeisensiedlung in Neukölln von Bruno Taut, stehen heute auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. Bei aller Wertschätzung für den Reformgedanken und den architektonischen Wert dieser Anlagen hat Bodenschatz auch zu diesen Siedlungen kritische Anmerkungen. Denn, so der Stadtplaner und Sozialwissenschaftler, die soziale Segregation der Gesellschaft wurde durch diesen Siedlungsbau nicht etwa aufgehoben, sondern sogar weitergetrieben. „Die Masse der ungelernten Arbeiter blieben in den Mietskasernen aus der Kaiserzeit – allerdings mit Mietpreisbindung und Kündigungsschutz“, sagt er.
In die Neubauten zog dagegen die neue Mittelklasse, gebildet vor allem aus Angestellten und Beamten. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde an den institutionellen und rechtlichen Verhältnissen grundlegend nicht viel verändert, es blieb bei Mietenregulierung und Kündigungsschutz – allerdings nur für die rassistisch verstandene „Volksgemeinschaft“. Zudem wurde nun bevorzugt für bestimmte Bevölkerungsgruppen gebaut, etwa die SS-Kameradschaftssiedlung in Zehlendorf oder auch für die deutschen Arbeiter des kriegswichtigen Flugzeugwerks von Heinkel die neue Siedlung Leegebruch vor den Toren Berlins in Oranienburg.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit den verheerenden Zerstörungen ganzer Wohnviertel wurde schließlich mit der Zwangsbelegung ein neues Kapitel aufgeschlagen. Um die ausgebombten Menschen und die Millionen Flüchtlinge aus den vormals deutschen Ostgebieten unterzubringen, ein notwendiger Schritt. Erneut mussten sich nun wieder mehrere Familien eine Wohnung teilen. In Berlin reagierte man darauf 1945 mit der Genehmigung, für einige Jahre in Kleingartenkolonien wohnen zu dürfen, es entstanden als „Nissenhütten“ bezeichnete Wellblechbaracken. In den vier Besatzungszonen bestimmten nun die Alliierten, wo und was gebaut wurde. Spätestens nach dem Mauerbau gingen Ost- und West- Berlin dann vollends getrennte Wege, die „letztlich aber überraschend ähnlich ausfielen“, sagt Bodenschatz.
Erste große Mieterproteste in West- Berlin im Märkischen Viertel
In den 1960er- und 1970er-Jahren entstanden im Westteil die Großsiedlungen Märkisches Viertel (1963 bis 1974 erbaut mit 17.000 Wohnungen für bis zu 50.000 Menschen) oder die Gropiusstadt (1962 bis 1975, 18.500 Wohnungen für mehr als 50.000 Bewohner). Die dortigen Sozialwohnungen waren aber, so Bodenschatz, nur ein „finanztechnischer Begriff“ und alles andere als sozial. Die Mieter dieser Wohnungen, die im Zuge der Kahlschlagsanierung zwangsumgesetzt wurden, mussten in den Neubauten eine Miete zahlen, die dreimal höher war als in unsanierten Kreuzberger Altbauten. Das führte auch dazu, dass die ersten großen Mieterproteste in West- Berlin ihren Ursprung nicht etwa in Kreuzberg hatten, sondern im Märkischen Viertel. Ein Protest, den die Studentenbewegung für sich entdeckte und der um 1970 richtig Fahrt aufnahm. Die 1970er- und 1980er-Jahre waren geprägt von Häuserkämpfen und den „Instandbesetzungen“ leer stehender oder zum Abriss bestimmter Altbauten nicht nur in Kreuzberg.
Die Proteste und Hausbesetzungen hatten schließlich Erfolg, die Kahlschlagsanierung wurde gestoppt. Die Internationale Bauausstellung (IBA) 1984 bis 1987 wies den Weg zur „Behutsamen Stadterneuerung“. Etwas zeitverschoben fand auch in Ost- Berlin eine parallele Entwicklung statt. Hier entstanden die Großwohnsiedlungen Marzahn (1977 bis 1989 mit 60.000 Wohnungen) und wenig später Hellersdorf mit 42.000 Wohnungen vom Plattenbautyp WBS 70. Unterdessen verfielen in Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg zahlreiche Altbauten. Auch in der DDR wurde dieser Prozess von Protesten begleitet: „In den Innenstadtvierteln wehrten sich die Menschen gegen diese Art der Stadtzerstörung“, sagt Bodenschatz. Den Abriss der weitgehend bereits leergezogenen Spandauer Vorstadt verhinderte schließlich die Wiedervereinigung.
Im wiedervereinigten Berlin setzte in den frühen 1990er-Jahren, „gegründet auf völlig überzogenen Bevölkerungsprognosen“, so Bodenschatz, ein wahrer Bauboom ein. Vor allem im Ostteil entstanden riesige Entwicklungsgebiete: etwa in Karow-Nord (1992–1996) für 20.000 Einwohner, auf dem ehemaligen Schlachthofgelände an der Eldenaer Straße oder an der Rummelsburger Bucht, um nur einige zu nennen. Doch die erwarteten fünf Millionen Einwohner erwiesen sich als Fehlannahme, selbst heute, nach Jahren des anhaltenden Wachstums, leben in Berlin „nur“ 3,85 Millionen Menschen.
In den späten 1990er-Jahren setzte etwas ein, was es in Berlin so noch nie gegeben hatte: Es gab einen Überschuss an Wohnraum, die Berliner hatten keine Mühe, ein passendes Zuhause zu finden, die Preise waren niedrig und die Auswahl infolge des Leerstands hoch. Mit dem Mikrozensus von 2011 wurde der Leerstand erstmals umfassend statistisch erhoben. In Berlin standen demnach 66.000 Wohnungen leer.
Doch das Blatt wendete sich für die Mieterinnen und Mieter nur wenig später wieder zum Schlechten. Zum einen dadurch, dass das Land Berlin Anfang der 2000er-Jahre große, ehemals gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften, wie etwa die GSW, zur Deckung seiner Schulden verkauft hat. Vor allem aber auch dadurch, dass es immer mehr Menschen in die deutsche Hauptstadt zog. Von 2010 bis 2022 sind rund 400.000 neue Einwohner dazugekommen.
Spät hat die Politik reagiert, seit 2014 fördert das Land Berlin wieder den Bau von Sozialwohnungen – rund 18.040 mietpreis- und belegungsgebundene Wohnungen sind es bis heute. Auch die landeseigenen Wohnungsunternehmen bauen wieder. Doch die Zahl von jährlich 20.000 neuen Wohnungen, die sich sowohl der jetzige schwarz-rote als auch die vorherigen rot-grün-roten Senate vorgenommen hatten, wurde bislang nicht erreicht. Angesichts der explodierenden Bau - und Finanzierungskosten wird es zudem immer schwieriger, das Ziel künftig zu erreichen.
Die Enteignung großer Wohnungsunternehmen und mehr Regulierungen bei Mieterhöhungen fordern die einen. Bauen, bauen, bauen, die anderen, um das Wohnungsproblem zu lösen. Beides ist umstritten. „Aber klar ist: Wir brauchen sowohl eine Politik zur Sicherung eines preiswerten Wohnungsbestands als auch eine Politik für den Neubau preiswerter Wohnungen. Eines allein greift zu kurz, wie schon die Geschichte gezeigt hat“, betont Bodenschatz.
Wie wird die Wohnungssituation in 25 Jahren aussehen, wenn die Morgenpost 150 Jahre alt wird? „Hoffentlich entspannter, ich bin eigentlich nicht total pessimistisch“, sagt Bodenschatz. Berlin sei ein Großraum mit vielen verschiedenen Stadtzentren und einem großartigen Umland, das mit Schiene und Straße schon heute gut vernetzt sei und mit Städten wie Brandenburg an der Havel schon heute beste Möglichkeiten biete. „Wenn wir die Infrastruktur weiter ausbauen, werden wir die Herausforderungen meistern“, ist der Wissenschaftler überzeugt. Das heißt aber auch: „Wir brauchen nicht nur Wohnungsbau, sondern Städtebau.“ Gerade in Zeiten des Klimawandels. „Auch darauf müssen wir uns vorbereiten.“