Anwohner erwarten durch neue Bebauung mehr Lebensqualität – es gibt aber auch Kritik
Morgenpost vom 09.11.2023 von Patrick Goldstein

Kreuzberg: Ratten, Kriminalität, Obdachlosigkeit und marode Leitungen in den Gebäuden: Der Mehringplatz in Kreuzberg gilt seit vielen Jahren als Problemviertel. Engagierte Mieter wie Detlef Minsberg schöpfen jetzt allerdings Hoffnung. Eine neue Bebauung mit Sozial-, aber auch Eigentumswohnungen, modernen Büroräumen und Platz für dringend benötigte Geschäfte, so ihre Erwartung, soll Impulse für mehr Sicherheit und Lebensqualität in den Kiez bringen.

Am Mittwochabend stellten die Eigentümer des Grundstücks ihre Baupläne bei der Sitzung des Sanierungsbeirats im Nachbarschaftszentrum „Kiezstube“ vor. Ihr Projekt ist ein langer Riegel, der von der Friedrichstraße entlang der Franz-Klühs-Straße bis schräg gegenüber der SPD-Zentrale an der Wilhelmstraße reichen soll. Auf dem Areal befindet sich derzeit eine abgeriegelte Parkpalette, die in der Nachbarschaft von einer begehrten Stellfläche zum Ärgernis geworden ist. Ebenfalls bebaut wird ein versiegelter Bereich sowie der Grund eines im Juli unter breitem Protest der Anwohner geschlossenen und nun abzureißenden Supermarkt-Flachbaus, in dem sich zuletzt ein Edeka-Laden befunden hatte.

Die EL Projektentwicklung Mehringplatz GmbH, Eigentümer seit 2019, beabsichtigt, vier einzelne Gebäude zu errichten, die untereinander verbunden sind. Die Vorlage des Unternehmens zeigt einen einstöckigen Bau an der Friedrichstraße, in dessen Erd- und Untergeschoss ein Supermarkt einziehen soll. In dem Papier ist erneut Edeka als Mieter verzeichnet.

In Richtung Wilhelmstraße sind Gebäude in acht- und elfgeschossiger Höhe vorgesehen. Dort sind Wohnen und Gewerbe geplant. Ins Erdgeschoss kommt das Gewerbe auf ganzer Länge. Daran knüpft Quartiersrat-Sprecher Minsberg einige Hoffnung. „Wenn in den Etagen demnächst Büroangestellte arbeiten, kommt damit eine gewisse Kaufkraft ins Viertel. Und das wird dem Kiez guttun.“

Hier leben überproportional viele Empfänger von Grundsicherung

Im Viertel Mehringplatz, das Teil des Sanierungs- und Milieuschutzgebiets südliche Friedrichstadt ist, leben überproportional viele Empfänger von Grundsicherung – laut letztem demografischen Stand 2017 sind es 25 Prozent, Minsberg spricht von inzwischen 50 Prozent. Die Entwickler des neuen Gebäudekomplexes wollen nun 30 Prozent Gewerbe in ihre Objekte bringen sowie 70 Prozent Wohnen. Dieses wiederum soll zu 30 Prozent aus Sozialwohnungen bestehen. Über die Verteilung des Rests auf freie Vermietung und Eigentumswohnungen machten die Eigentümer keine Angaben.

Ihre Ankündigung, nur 80 Parkplätze in der neuen Tiefgarage anzubieten, enttäuscht Minsberg. Die Entwickler sagen, die Innenstadtlage biete zum Ersatz des eigenen Wagens ein üppiges Angebot von öffentlichem Personennahverkehr und Carsharing. Minsberg hingegen sagt, die Unterversorgung werde unter den 360 Mietparteien, die an das Grundstück grenzen, soziale Spannung bringen. „Da wird es im Kiez dann jene geben, die sich einen Parkplatz leisten können – und die anderen.“ Minsberg parkt momentan für monatlich 100 Euro in einem kommunalen Parkhaus. „In der Gegend werden aber jetzt schon 150 bis 200 Euro genommen.“ Das werde sich mit dem Neubau verschärfen, mutmaßt der Quartiersrat.

Optimistisch stimmt Minsberg dagegen der bevorstehende Abriss des Parkhauses. Wenn er in der fünften Etage seines 16-stöckigen Hauses an der Wilhelmstraße aus dem Fenster schaut, blickt er direkt darauf. Seit 2015 ist es geschlossen, später wurde es mit Brettern verrammelt und umzäunt. „Dort übernachten Obdachlose, es gibt Drogen, Prostitution, Müll und Gestank.“ Derlei ist Folge einer jahrelangen Verwahrlosung der Hochhäuser Wilhelmstraße 2–6 und Mehringplatz 12–14. „Die langjährigen privaten Eigentümer waren ein anonymes Konsortium in Luxemburg und Großbritannien. Da wurde nichts in die Instandhaltung gesteckt“, sagt Minsberg. Die Folge waren Löcher, durch die es in die oberen Wohnungen regnete, Rohrbrüche und Schimmelbefall. 2019 ließ das Gesundheitsamt Friedrichshain-Kreuzberg den Keller eines der Häuser sperren. Durch dessen Gänge waren tote Ratten gespült worden. Inzwischen hat die landeseigene Wohnungsgesellschaft Howoge den Block gekauft und Sanierungsarbeiten begonnen, die beim Quartiersrat gut ankommen.

Seitens der Entwickler heißt es, man werde wohl in diesem Jahr noch mit Baumfällungen am Parkhaus beginnen, um die für das kommende Jahr geplanten Abrissarbeiten vorzubereiten. Da man bereits Baurecht hat, steht jetzt nur noch die sanierungsrechtliche Genehmigung durch den Bezirk aus.

Dort ist Baustadtrat Florian Schmidt (Grüne) bereits einen Schritt weiter. Er hat den gesamten Block 616, in dem sich das aktuelle Projekt befindet, in den Blick genommen. Eingegrenzt wird es von Franz-Klühs-, Friedrich-, Wilhelm- und Friedrich-Stampfer-Straße. Dort sieht er das größte Neubau-Entwicklungspotenzial im Sanierungsgebiet. Mit einer weit gefassten Konstruktion könnte es auf der Blockfläche neue Bebauung geben, wieder mit einem Wohnanteil von 70 Prozent.

Schmidt hat dazu die Eigentümer des derzeit noch freien Teils im Areal an einen Tisch gebracht. Neben der Howoge mit einer Grünfläche ist dies die AOK, der ein Parkplatz gehört, den sie verkaufen würde. Die kleine Friedrich-Stampfer-Straße ist in Bezirksverwaltung, eine Bebauung hält Schmidt für realistisch. Er hat ein zweistufiges städtebauliches Werkstattverfahren auf den Weg gebracht, einschließlich umfassender Bürgerbeteiligung.

Vier Planungsbüros sind nun beauftragt, Entwürfe für eine Gestaltung des Blocks 616 vorzulegen und unter anderem zu zeigen: Was ist maximal möglich, was minimal? Dem Stadtrat geht es dabei um nicht weniger, als „den Mehringplatz zu Ende zu bauen “. Im kommenden Monat werden die ersten Entwürfe präsentiert.

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