Der Plan wird den Ansprüchen nicht gerecht
Tagesspiegel vom 19.11.2023 von Eike Becker

Der Molkenmarkt sieht heute wie ein Schlachtfeld aus. Die weiten Verkehrsschneisen aus sozialistischen Zeiten werden durchtrennt, aufgebrochen und gesperrt. Die Blechlawine zwängt sich bereits seit Jahren an den Kratern vorbei.

Auch in der Auseinandersetzung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen prallen die unterschiedlichen Positionen aufeinander. Noch nach über zwanzig Jahren Planung sind die Konflikte nicht geklärt.

Es geht um die Mitte der Stadtgesellschaft, den Gral der Demokraten, direkt am Roten Rathaus. Es geht um die Lagerfeuer, an denen die diversen gesellschaftlichen Gruppen Wärme und heimatliche Geborgenheit in einer als kühl empfundenen Welt suchen. Um die Sehnsucht nach Altbekanntem und Vertrautem. Das ist mit historischen, nostalgischen und traditionellen Formen sofort erreichbar. Zeitgenössische Architektur braucht länger, um so inniglich geliebt und verstanden zu werden. Kann aber viel passendere Antworten auf die diversen und steigenden Ansprüche finden.

Heimatgefühl und Modernität miteinander verbinden

Am Molkenmarkt geht es um das Bedürfnis, stolz auf die eigene Geschichte zu sein. Es geht um Heimat und um Identität in Harmonie mit der Vergangenheit. Das war schon mal ganz anders. Die Moderne schaute mit Verachtung auf die historischen Städte.

Es geht aber auch um gesellschaftliche Anerkennung und Wertschätzung. Für wen soll denn an dieser so zentralen Stelle gebaut werden? Für die, die in Berlin keine Wohnung finden können? Oder für die Bürgerlichen, deren repräsentative Bedürfnisse durch historische Altbauten befriedigt werden? Oder die Kreativen, die keine Produktions- und Ausstellungsflächen in der Stadt finden? Am besten für alle zusammen.

Und damit eskalieren die Ansprüche: Mobilität, Nachhaltigkeit, Dichte, Modulares Bauen , Fotovoltaik, Dachgärten, Fassadenbegrünung, Steildächer, Schwammstadt, Cradle to Cradle, Holzbau, öffentliche Nutzungen im Erdgeschoss, 5-Minuten-Stadt und – last but not least – in Berlin : Weltstadt.

Die Aufgabe ist zu groß für die üblichen Verfahren

Und die Stadt hofft, dass städtische Wohnungsbaugesellschaften dieses Knäuel an Aufgaben lösen. Das sind die, die darauf trainiert sind, möglichst schnell und billig zu bauen . Und daran auch schon an weniger anspruchsvollen Orten verzweifeln.

Mit ein paar Wettbewerben, zu denen eine Jury für einen Nachmittag zusammenkommt, bevor sie sich wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut, und den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, die dann etwas aus den Ergebnissen zusammenzimmern sollen, wird Berlin den bisher beschriebenen Ansprüchen für diesen besonderen Ort nicht gerecht. Das habe ich bereits verschiedentlich erlebt und kann nur entschieden davon abraten.

Mit den genannten Ansprüchen müssen Strukturen aufgebaut werden, die auch in der Lage sind, aus Versprechen Wirklichkeit werden zu lassen. Strukturen, die diesen Ansprüchen gerecht werden. Sonst bleibt davon nicht mehr, als an so vielen Stellen der Stadt: große Ankündigungen, die nicht umgesetzt werden konnten.

Für den Molkenmarkt und das Nikolaiviertel sehe ich allerdings eine andere städtische Vision, als ein bisschen Altstadt und ein bisschen Neustadt und ein bisschen Soziales und ein bisschen Kreatives.

Eine internationale Bauausstellung

Wie wäre es, wenn man die Ansprüche weiterdenken würde und für das Quartier eine internationale Bauausstellung veranstalten würde? Mit einem international besetzten Kuratorium und einem ambitionierten Beirat. Der dieses Quartier von der Auswahl der vielfältigen und widersprüchlichen internationalen Architekten bis hin zur Fertigstellung kuratiert und prägend begleitet wird.

Wenn man den genannten Ansprüchen gerecht werden will, muss man die Frage beantworten, wie viel ist uns das wert? Dafür müssen vom Land die finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden. Das ganze Thema einfach den landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften vor die Tür zu kippen in der Hoffnung, dass die schon etwas daraus machen, ist zynisch.

Aber wie soll so eine zentrale Stelle aussehen? Das zu klären, ist nicht mit ein paar schönen Renderings von historischen Altbauten im Abendlicht getan. Das bedeutet harte, intensive Arbeit, liebevolle Zuwendung für die Aufgabe und langjährige Beharrlichkeit. Es bedeutet, Millionen von Entscheidungen zu treffen, und diese immer wieder zu überprüfen und neben die Ansprüche zu stellen. Aber wenn das gelänge, könnte in Berlin ein Quartier entstehen, das Maßstäbe setzt über den Ort hinaus. Und darum sollte es an dieser zentralen Stelle gehen.

Zurzeit erreichen die Beteiligten ihre hohen Ansprüche leider nicht, auch in der Kommunikation. Mir geht es um die verbindenden Visionen einer Gesellschaft, die Bilder von sich und ihrer Zukunft entwickelt und nach ihrer Realisierung strebt.

Der Molkenmarkt könnte zum Symbol für diese sich neu erfindende Stadt werden.

Aber der Versuch an dieser Stelle das Wohnungsbauproblem zu lösen und ein paar Ateliers einzustreuen, reicht dafür nicht aus.

***

Jahrzehntelang war der Molkenmarkt in Berlin -Mitte eine mehrspurige Verkehrsader . Er soll wieder zu einem lebendigen Stadtquartier werden.

Zitat

Am Molkenmarkt geht es um das Bedürfnis, stolz auf die eigene Geschichte zu sein.

Eike Becker, Architekt

Autorenprofil

Eike Becker ist ein deutscher Architekt und Designer, der in Berlin lebt und international arbeitet. Die Immobilienbranche hält er für verantwortungslos, klimaschädlich und falsch ausgerichtet. Sein Gastbeitrag ist ein Aufruf zum konstruktiven Streit und ein Bekenntnis zu mehr Demut und Selbstkritik.

Der Tagesspiegel im Internet: www.tagesspiegel.de