Kaum jemand prägte die deutsche Politik wie der CDU-Politiker. Ein Blick auf die Höhepunkte und die dunkelsten Stunden seiner Karriere.
Morgenpost vom 27.12.2023 von Jan Dörner

Es war ein Leben aus dem Geschichtsbuch: Wolfgang Schäuble hat die politischen Geschehnisse der Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen fünf Jahrzehnten geprägt wie kaum jemand anders. Von der deutschen Einheit über die Nachwendezeit bis zur Eurokrise beeinflusste der Badener die deutsche Politik entscheidend, als Innenminister, Finanzminister und Bundestagspräsident. Am Abend des zweiten Weihnachtstags starb Schäuble im Kreis seiner Familie im Alter von 81 Jahren.

Wolfgang Schäuble führte ein Leben für die Politik, auch nach dem Anschlag am 12. Oktober 1990. Ein psychisch kranker Mann schoss bei einer Wahlkampfveranstaltung auf den -Politiker. Schäuble war seitdem vom dritten Brustwirbel abwärts gelähmt und musste im Rollstuhl sitzen. Den gebürtigen Freiburger hielten seine gesundheitlichen Einschränkungen nie davon ab, in höchste politische Ämter zurückzukehren. Die Welt der politischen Entscheidungen, des Staatsapparats, der Macht waren das Leben von Wolfgang Schäuble.

Parlamentsrekord: 50 Jahre im Bundestag

Sie sei mit ihrem Mann verheiratet, „ohne vergrämt zu sein“, sagte Schäubles Ehefrau Ingeborg einmal. Als Frau des Spitzenpolitikers habe sie gelernt, „relativ selbstständig zu leben, auf ausgiebig gemeinsame Zeit zu verzichten und viel Verständnis zu zeigen“. Stets unterstützte Ingeborg Schäuble ihren Mann, erst zuletzt trat er kürzer, um ihr zu helfen. Nach einem schweren Fahrradunfall im vergangenen Juli musste Ingeborg Schäuble notoperiert werden, drei Monate lag sie auf der Intensivstation.

Das Paar war seit 1969 verheiratet. Drei Jahre später zog der studierte Jurist im Wahlkreis Offenburg erstmals als direkt gewählter Abgeordneter in ein. Bis zuletzt hatte der evangelische Christdemokrat seinen Sitz inne – mehr als fünfzig Jahre lang, immer als direkt gewählter Kandidat. In der Geschichte des deutschen Parlamentarismus übte seit 1871 sein Mandat niemand so lange aus wie Schäuble.

Helmut Kohl berief Schäuble in die Regierung

Seine Karriere in Regierungsämtern begann 1984: CDU-Kanzler Helmut Kohl berief Schäuble zum Bundesminister für besondere Aufgaben und zu seinem Kanzleramtschef. Nach seinem Wechsel an die Spitze des Bundesinnenministeriums im Frühjahr 1989 verhandelte Schäuble 1990 die Staatsverträge zur deutschen Wiedervereinigung. Der am 31. August 1990 im Ost- Berliner Kronprinzenpalais Unter den Linden unterzeichnete Einigungsvertrag trägt Schäubles Unterschrift.

Im folgenden Jahr warb Schäuble in einer emotionalen Rede im Bundestag dafür, Berlin zum Regierungssitz des wiedervereinigten Landes zu machen. Das Parlament stimmte zu – damals eine umstrittene Entscheidung. Die Stimmung in der alten Bundeshauptstadt Bonn beschrieb Schäuble „An den Brücken hingen Transparente mit der Aufschrift: ‚Stoppt Schäubles Wahnsinn‘. Ich bin eine Zeit lang gar nicht in Bonn aufgetreten und selbst Jahre später, bei einem Besuch der Universität, brauchte es ein gewisses Polizeiaufgebot.“

Nach dem Attentat zweifelte Schäuble an einem Leben im Rollstuhl

Die Verhandlungen zur Wiedervereinigung waren bis dahin der Höhepunkt in Schäubles Karriere. Der damals 47-Jährige strotzte vor Energie, Bilder aus den Jahren zeigen einen sportlichen Mann in kurzen Hosen und Pullunder beim Tennis. Im Oktober 1990 folgte der Tag, der sein Leben für immer veränderte: Von hinten feuerte ein unter Verfolgungswahn leidender Angreifer zwei Schüsse aus einem Revolver auf Schäuble, eine Kugel traf seinen Kiefer, die andere bohrte sich ins Rückenmark. Als der Querschnittsgelähmte im Krankenhaus aus dem Koma erwachte, zweifelte er am Sinn eines Lebens im Rollstuhl: „Ich weiß gar nicht, ob ich… ob ich so will.“

Doch Schäuble kämpfte sich zurück, ins Leben, in die Politik. Journalisten, Verhandlungspartnern, politischen Freunden und Gegnern machte er klar: „Ich will keinen Rabatt.“ Seine Frau Ingeborg hätte es damals gerne gesehen, wenn sich ihr Mann aus der Politik zurückgezogen hätte. Schäuble fragte sie damals: „Willst du wirklich, dass ich dann ohne alles bin?“

Interview mit Wolfgang Schäuble:

In der Eurokrise war Schäuble in Griechenland verhasst

Wiederholt berichtete der Vater von vier Kindern von den Beschwerlichkeiten eines querschnittsgelähmten Spitzenpolitikers. Aber: „Ich habe immer versucht, den Rollstuhl nicht zu inszenieren“, betonte Schäuble einmal. Als er während der Euro-Schuldenkrise als Finanzminister Europas strengster Sparer war, achtete Schäuble bei den Vorfahrten zur den unzähligen Krisensitzungen der Eurogruppe in Brüssel darauf, niemals dabei gefilmt zu werden, wie er mit Hilfe seiner Bodyguards vom Rücksitz seiner Limousine in den Rollstuhl gehoben wurde.

In war Schäuble damals verhasst, weil er gegenüber dem hoch verschuldeten Staat auf einem rigiden Sparkurs bestand. Sogar einen zeitweiligen Rauswurf des Landes aus dem Euro schloss er nicht aus. Galt der Deutsche in Südeuropa in den Jahren als möglicher Zerstörer des europäischen Zusammenhalts, sehen Anhänger Schäubles in ihm einen großen Europäer, der den Euro vor dem Zusammenbruch rettete.

Bis zuletzt war Schäuble eine Respektsperson in der CDU

Schäuble, der seine Herkunft aus dem Schwarzwald weder im Deutschen und schon gar nicht beim Englisch sprechen verbergen konnte, prägte im Februar 2015 in Bezug auf ein auslaufendes Hilfsprogramm für Griechenland den Satz: „Am 28., 24 Uhr, isch over .“ Das wurde damals als Drohung verstanden. Eine harte Sparpolitik verlangte der Finanzminister aber auch seinen Kabinettskollegen ab: Mehrere Jahre hintereinander legte er einen Haushalt mit einer „schwarzen Null“ vor, also ohne Neuverschuldung.

Nachdem im November das der schuldenfinanzierten Haushaltspolitik der Ampel-Regierung den Boden entzog, bat Unionsfraktionschef Friedrich Merz seinen Vertrauten und jahrelangen Förderer, vor den CDU/CSU-Abgeordneten um eine Einschätzung der Lage. Schäuble galt wegen seiner großen Erfahrung und seines scharfen Intellekts bis zuletzt als Respektsperson und geschätzter Ratgeber in CDU und CSU. Als die Union sich vor der Bundestagswahl 2021 entschied, die Kanzlerkandidatur Armin Laschet und nicht Markus Söder zu übertragen, spielte Schäuble eine entscheidende Rolle.

Die CDU-Spendenaffäre ist der Tiefpunkt von Schäubles Karriere

Seine schwärzesten Stunden als Politiker sind allerdings auch eng mit seiner Partei verbunden. Nach der Wiedervereinigung schied Schäuble aus der Regierung aus und stand Helmut Kohl ab 1991 als Unionsfraktionschef zur Seite. Kohl erklärte, dass er sich Schäuble als Nachfolger im wünsche, doch dazu kam es nicht. Schäuble wollte es nicht als Makel seiner Laufbahn sehen, dass er nie Kanzler wurde.

Die politische Männerfreundschaft mit Kohl zerbrach schließlich an der CDU-Spendenaffäre , in der Schäuble 1994 von dem Waffenhändler Karlheinz Schreiber eine Barspende über 100.000 Mark annahm. Schäuble hatte damals neben dem Fraktionsvorsitz auch das Amt des CDU-Parteichefs inne. Beide Posten musste er im Februar 2000 unter dem Druck der Affäre aufgeben.

„Ich bin einsam“, sagte Schäuble kürzlich dem „Spiegel“. Aus seiner Politikergeneration sei niemand mehr da. „Ich kann mein Leben jetzt betrachten, wie es zu Ende geht.“

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