Berlin verfügt über etwa 220 Friedhöfe. Einige der historischen Ruhestätten hat unser Autor gemeinsam mit seinem Enkel erkundet.
Berliner Zeitung vom 18.03.2024 von Joseph Weisbrod

Ich schiebe die Zukunft vor mir her. Das meine ich wörtlich. Vor dem zwei Meter hohen Heinrich-Heine-Denkmal im Volkspark am Weinberg in Berlin -Mitte trete ich andächtig auf die rote Fußbremse des Kinderwagens.

Während der auf dem Pariser Friedhof Montmartre ruhende Dichter sich von Deutschland in der Nacht um den Schlaf gebracht wähnt, schlummert der Sohn meines Sohnes selig vor sich hin.

Das tut er zum Glück auch noch, als ich mit der Babykutsche die laute Invalidenstraße entlang im Gehweg-Slalom zum Evangelischen Sophien-Friedhof manövriere. Unser Rundgang führt neben dem Haupteingang Bergstraße von der Friedhofskapelle aus Klinkerstein rechts der von alten Bäumen gesäumten Hauptallee in das sogenannte Musikerquartier. Der klingendste Name auf einem schlichten gusseisernen Grabkreuz: Wilhelm Bach (1759–1845), der letzte Enkel von Johann Sebastian Bach .

Ganz in der Nähe die mit Bronzestatue und Sarkophag veredelte Jugendstil-Grabanlage von Carl Bechstein, dem Gründer der gleichnamigen Pianoforte-Fabrik. Kein Geringerer als Richard Wagner soll seinen vom Bayern-König Ludwig II. spendierten „Bechstein“ so geschätzt haben, dass er mit diesem Klavier einige seiner Meisterwerke komponierte.

Die schnurgerade Zentralachse endet direkt an der ehemaligen Mauergrenze an der Bernauer Straße. Das DDR -Regime ließ Anfang der 1960er-Jahre die Wohnhäuser für die Grenzanlagen abreißen und funktionierte 50 Meter des Friedhofsgeländes zum Todesstreifen um, der seit der Wende zum Freilichtmuseum der Gedenkstätte Berliner Mauer gehört.

Abstecher auf den St. Elisabeth-Friedhof

Mein kleiner Enkel räuspert sich unter der warmen Decke, justiert seinen Schnuller und schläft friedlich weiter. Über den ehemaligen Todesstreifen erreichen wir die Versöhnungskirche. Sie war für die Kirchgänger in Ost und West seit dem Mauerbau 1961 geschlossen, wurde als Grenz-Wachturm benutzt und 1985 auf Befehl der DDR-Regierung gesprengt. Die heutige, achteckige Kapelle der Versöhnung enthält auch Originalmauern des 1892 errichteten Vorgängerbaus.

Der Kleine im Kinderwagen ist inzwischen aufgewacht, lächelt seinen Opa an und nuckelt schmatzend am Milchfläschchen. Den Abstecher auf den angrenzenden St. Elisabeth-Friedhof gestattet mein Enkel ohne Quengelei. Die Begräbnisstätte aus dem Jahr 1844 ist mit 27.000 Quadratmetern deutlich überschaubarer als der zweieinhalbmal so große Sophien-Friedhof.

Nicht von ungefähr mahnt die Besuchertafel: „Dieser Friedhof ist keine Parkanlage!“ Wären da nicht die Gräber von weithin unbekannten Theologen, Komponisten, Schriftstellern, Gutsbesitzern, das Sandstein-Monument für die Fabrikantenfamilie Wollank, der griechische Grabtempel der Famile Carl Schmidt, die historischen Skulpturen und die 1884 im gotischen Stil erbaute Friedhofskapelle: Man würde sich wie in einem botanischen Garten fühlen! Kein Wunder, dass sich auch heute noch Menschen gerne auf dem St. Elisabeth-Friedhof beisetzen lassen.

Froh, dass es am nächsten Tag in Berlin nicht regnet, nutze ich das ausgiebige Mittagsnickerchen meines Enkels für einen weiteren Friedhofstrip. Heute starten wir am Rosenthaler Platz Richtung Dorotheenstädtischer Friedhof . Vielleicht der schönste, auf jeden Fall prominenteste unter den etwa 220 Berliner Friedhöfen! Wie praktisch, dass gleich neben dem Eingang das „brecht-haus“ liegt. Klein geschrieben, wie es sich für den großen Bertolt Brecht gehört. In diesem 1840 errichteten Gebäude an der Chausseestraße 125 haben der Dramatiker und die Schauspielerin Helene Weigel, eines der bedeutendsten Künstlerpaare des 20. Jahrhunderts, seit Oktober 1953 gewohnt.

Brecht hielt seinen täglichen Blick auf den Friedhof in einem Gedicht fest, bevor er drei Tage nach seinem Tod am 14. August 1956 dorthin „umzog“. An der roten Ziegelsteinmauer fanden Bertolt Brecht und die 1971 verstorbene Helene „Mutter Courage“ Weigel ihre letzte gemeinsame Ruhestätte. Das unscheinbare Grab markieren zwei unbearbeitete Granitfindlinge mit den Namen der Verstorbenen. Der „Dreigroschenoper“-Autor hatte verfügt: „Im Falle meines Todes will ich nirgends aufgebahrt und öffentlich aufgestellt werden. Am Grab soll nicht geredet werden.“

Man spürt es hier auf Schritt und Tritt, andere Omas und Opas mit Kinderwagen im Flüsterton grüßend: Der 1762 angelegte Friedhof atmet wie kaum ein anderer Geistes-, Kultur- und Industriegeschichte! In der Nachbarschaft von Brecht/Weigel ruhen neben Heinrich Mann („Der Untertan“) unter anderem die Schriftstellerin Anna Seghers („Das siebte Kreuz“), der Schauspieler Bernhard Minetti, der Industrielle August Borsig, der Architekt Karl Friedrich Schinkel, die Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Johann Gottlieb Fichte, der Komponist und Brecht-Gefährte Hanns Eisler , der Regisseur Heiner Müller, der 1945 im KZ ermordete Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer und Alt-Bundespräsident Johannes Rau .

Die nächste, zu Fuß bequem erreichbare Station. Der älteste Jüdische Friedhof in Berlin an der Großen Hamburger Straße. Er wurde 1672 eröffnet, 1827 geschlossen und 1943 von den Nazis zerstört. Vom angrenzenden Sammellager ließ die Gestapo 55.000 jüdische Bürger in die Vernichtungslager Auschwitz und Theresienstadt deportierten. An diese furchtbare Zeit mahnt eine mich tief berührende Figurengruppe des Bildhauers Willi Lammert: 13 fast lebensgroße Frauen und Mädchen aus Bronze. Eine Gedenktafel mahnt eindringlich in Versalbuchstaben: VERGESST DAS NIE. WEHRT DEM KRIEG. HÜTET DEN FRIEDEN. Unwillkürlich schaue ich in das neugierige Gesichtchen meines kleinen Nachgeborenen im Kinderwagen.

Sammelgräber aus dem Zweiten Weltkrieg

Seit 50 Jahren ist dieser Friedhof eine Grünanlage unter Denkmalschutz. Unter der einheitlichen, typischen Bepflanzung befinden sich Sammelgräber mit 2425 Berliner Toten aus den letzten Kampftagen des Zweiten Weltkriegs . Die jüdischen Gräber und die Kriegsopfer-Gräber sind nicht zu unterscheiden. Was würde wohl der bedeutendste der hier Beigesetzten dazu sagen? Dem Philosophen und Vorkämpfer der jüdischen Aufklärung Moses Mendelssohn (1729–1786), Vorbild für Lessings „Nathan der Weise“ und Großvater des Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy, gebührt der einzige erhaltene Grabstein.

Unsere Opa-Enkel-Friedhofstour endet gleichsam auf preußisch-militärischem Boden. An der Kleinen Rosenthaler Straße betreten wir einen der ältesten Friedhöfe Berlins – mit einer mehr als 300-jährigen Geschichte. 32 Grabkreuze aus der Blütezeit des Berliner Eisenkunstgusses erinnern an Preußens Kriegstüchtigkeit. Der Alte Garnisonfriedhof war zunächst ein Doppel-, man könnte auch sagen: Zwei-Klassen-Friedhof. Die größere östliche Seite bildete der „Gemeinenfriedhof“ mit seinen einfachen Reihengräbern. Der von einer Mauer umgebene Offiziersfriedhof im westlichen Teil ist bis heute erhalten.

Am meisten beeindruckt mich der schwarze Granitstein mit der Inschrift: „Curt Kruge, geb. 30. Juni 1889. Leut. i. Rgt. Kömigs-Jäer z. Ofd., starb, mit dem Säbel in der Faust den Heldentod in Polen am 21. September 1914“. Nach der Wiedervereinigung übernahm das Naturschutz- und Grünflächenamt Mitte die Verwaltung und Pflege des Alten Garnisonfriedhofs.

Keine Großstadt-Hektik, kein Lärm, keine Hunde, kein Handyklingeln! Die ehrwürdigen Friedhöfe in Berlin - Mitte mit ihren mehr oder weniger kunstvollen Grabmälern, ihrer üppigen Flora und Fauna, ihren alten Bäumen, Hecken, Sträuchern und Wiesen sind Balsam für Geist und Seele, Beruhigungsmittel für Säuglinge und nicht zuletzt unverzichtbare Biotope für Fledermäuse, Eulen, Insekten und viele andere Lebewesen im Zentrum der Hauptstadt.

Die nachhaltige Pflege der historischen Friedhöfe in Berlin -Mitte: Ein wichtiges Kapitel im „Handlungsprogramm Berliner Stadtgrün 2030“, das im Frühjahr 2020 vom Berliner Senat verabschiedet wurde!

Nach seiner jahrzehntelangen Führungstätigkeit in der Verlagsbranche schreibt der ausgebildete Verlagsbuchhändler und passionierte Journalist Joseph Weisbrod am liebsten über Bücher, Italien, Reisen und Fußball.

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