Vor zehn Jahren wurde der Flughafen Tempelhof zum Park, ohne den sich immer mehr Menschen die Stadt nicht mehr vorstellen können. Warum eigentlich?
Morgenpost vom 25.05.2024 von Uta Keseling

Berlin  Sie nennen es einfach „das Feld“, alle tun das. „Flughafen Tempelhof“, sagen nur noch die Alten, die noch erlebt haben, wie die Maschinen über den Dächern abhoben. „Tempelhofer Feld“ wiederum ist die offizielle Bezeichnung der Stadtplaner und Politiker für Berlins wohl umstrittenste 350 Hektar Land. In denen die einen wertvolles Bauland sehen und eine Lösung für den Wohnungsmangel. Und die anderen Berlins größten Ort der Freiheit. Freiheit ist der größte Wert Berlins .

Für Felicia, Ronja und ihre Freundinnen ist das Feld schlicht der Ort ihrer Kindheit. Sie sind 18 alt, wohnen rundum in verschiedenen Bezirken. „Mit fünf hab ich zum ersten Mal einen Drachen hier steigen lassen“, erinnert sich Felicia. Ronja hat noch dunkel die letzten Flugzeuge vor Augen, vor allem aber erinnert sie sich an die Zeit, als der Flughafen nach Ende des Flugbetriebs abgesperrt war. Er lag wie ein gigantisches Rätsel vor ihrer Haustür im Schillerkiez. „Ich habe meine Mutter immer wieder gefragt: Warum dürfen wir da nicht rein?“

2008 beendete Berlins historischer Innenstadtflughafen seinen Betrieb. 2010 wurde das Areal für die Öffentlichkeit geöffnet. 2011 gründete sich eine Bürgerinitiative für ein Volksbegehren gegen die Bebauung des Feldes, 2014 führte der Entscheid zum Erfolg. Seitdem gilt das sogenannte Tempelhofer-Feld-Gesetz zum Erhalt der „wertvollen Eigenschaften des Tempelhofer Feldes“ und der „darauf beruhenden Funktionen“ – noch jedenfalls.

Angesichts der Wohnungsknappheit will die schwarz-rote Landesregierung einen städtebaulichen Wettbewerb zur „behutsamen Randbebauung“ des Feldes mit Wohnungen auf den Weg bringen. Diskutiert wird auch, ob der Volksentscheids noch zeitgemäß ist. Teilweise ist das THF-Gesetz tatsächlich schon aufgehoben. Auf dem Feld dürfen weitere temporäre Flüchtlingsunterkünfte gebaut werden , beschloss das Abgeordnetenhaus im April mit den Stimmen von CDU und SPD.

Die 18-Jährigen können sich nicht vorstellen, wie Berlin ohne das Feld wäre. „Es bedeutet mir unfassbar viel“, sagt Felicia. Als Treffpunkt mit Freunden. Und der ehemalige Flughafen in seiner gigantischen Weite auch. „Einfach gut für die Augen.“ Ein Satz, der auch im übertragenen Sinn gilt. Das Feld öffnet den Blick auf die Welt.

An diesem Tag sind Felicia und ihre Freundinnen nicht nur hier, um Karten zu spielen und sich zu unterhalten. Sie sitzen auf einer schattigen Bank in den schattigen Gemeinschaftsgärten nahe der Oderstraße. Jeder dürfe hier sitzen, sagen sie, es gibt keinen Zaun, das sei ja das Schöne. Felicia ist auch gekommen, um Besucher des Feldes zu befragen. Es ist eine Hausaufgabe in der Schule. Sie soll ein fiktives Ausstellungshaus für Kunst auf dem Feld entwerfen. „Aber ich wollte zuerst wissen, was die Besucher selbst denken.“ Sie habe überraschende Vorschläge bekommen, sagt sie. „Das Schöne am Feld ist eben auch, wie unterschiedlich die Menschen hier sind.“

Am Morgen fegt frischer Westwind über die Teerflächen und Wiesen. Nachts hat es geregnet, jetzt duftet es fast wie am Meer, die hohen Wiesen im Zentrum wogen in blassblauen Wellen. Zwischen Landebahnen und „Taxiways“, den früheren Rollbahnen, sind große Bereiche mit Flatterband abgesperrt. „Hier brütet die Feldlerche“, informieren Schilder und auch die Vögel persönlich, die zwitschernd am Himmel stehen.

Vielleicht liegt es den roten Aussichtstürmen, die an Leuchttürme erinnern, vielleicht an den Vogelbeobachtungstürmen, die wirken wie die der Rettungsschwimmer am Meer. Oder auch an den Krähen, die sich wie Möwen kreischend zu Boden stürzen und um Müll streiten: Jedenfalls scheint der Vergleich mit dem „Blick übers Meer mitten in der Stadt“ auf dem Flugfeld angebracht, sobald man selbst an dessen Ufern steht.

Die morgendlichen Läufer, Radfahrer und Spaziergänger schrumpfen zu Miniaturfiguren, S-Bahnen ziehen im Süden vorbei, winzig wie Ozeandampfer am Horizont. Im Norden klingen Glocken, nur die Sirenen von Polizei oder Feuerwehr erinnern daran, dass es irgendwo noch eine reale Welt gibt. Es ist wie im Kino, wenn man spüren soll: Die Idylle trügt.

Alles, was auf dem Tempelhofer Feld passiert, hat einen Sinn

Um kurz vor halb neun stoppt ein älterer Mann mit dem Rad auf einer Startbahn, lässt das Rad fallen und steht für einige Minuten in merkwürdigen Zeitlupenbewegungen da. Das sei Tai-Chi , erklärt er danach lächelnd, während er wieder aufs Rad steigt. Er komme aus Prenzlauer Berg, arbeite als Architekt in Tempelhof. Tai-Chi auf dem Feld mache er „immer, wenn ich gute Laune habe“. Dann düst er weiter, den Fahr- und Lastenrädern entgegen, die sich gegen 9 Uhr aufs Feld ergießen. Denn das ist auch der kürzeste Weg aus den Szenevierteln Neukölln nach Kreuzberg und Mitte.

Unter dem Hashtag #feldliebe finden auch die Gemeinschaftsaktionen auf dem Feld statt. Nach dem Volksentscheid sollten Bürgervertreter einen Entwicklungs- und Pflegeplan erarbeiten, gemeinsam mit der Senatsumweltverwaltung und der landeseigenen Grün Berlin GmbH, die das Tempelhofer Feld organisatorisch betreut, pflegt und unter anderem durch einen Sicherheitsdienst schützt.

Wichtigstes Instrument zur Erschließung des Feldes sind augenscheinlich Zettel. Flyer, Schilder, Aufkleber, alles, was auf dem Tempelhofer Feld passiert, hat einen Sinn. Und eine Bedienungsanleitung. Selbst die Mülltonnen.

Am „Projektfeld Oderstraße“ dreht sich alles um nachbarschaftliche Aktionen. Fahrradwerkstatt, Halfpipe, große Gärten, in denen sich auch die Schülerinnen treffen. Ein Organigramm erklärt, wie sich das Allmende-Kontor organisiert. Es gibt Orte für „Färberpflanzen“, einen Farbgruppensprecher, Kompost-AG, Bienen-AG, einen Punkt für „Vernetzung“, zwei weitere für „Multikulti“ und „Refugees Welcome“. Nichts ist unpolitisch in Berlin , schon gar nicht die Kleingärten.

Die hölzernen Pflanzkisten sind über die Jahre etwas windschief geworden. Aber darin gedeihen wie immer Salat. Minze und Tomaten. Irgendwo schießt der Spinat, ein Rosmarinbusch blüht. Es duftet nach Rosen und Mittelmeer. Am Morgen war hier nur ein einsamer Mann unterwegs, er hatte gesagt: Der Garten erinnere ihn an Kroatien, seine Heimat.

Am Nachmittag ist der Garten voll. Mittendrin werkeln Linus, Maria und weitere Studenten der Technischen Universität (TU) Berlin an einer Balkon-Photovoltaik-Anlage. Sie gehören zum Energieseminar der TU, das in den 1980er-Jahren entstand. Damals setzten sich streikende Studenten dafür ein, dass sich Forschung und Lehre fachübergreifend mit Zukunftsthemen beschäftigen sollten wie erneuerbare Energien.

Nun ist die Zukunft da. Die Studenten haben zwei ehemalige Regenwassersammelbecken des Flughafens zu Reservoirs umgebaut. Derzeit werden die Gärten mit Trinkwasser bewässert, erklärt Linus, was die Gärtner angesichts des Klimawandels nicht gut finden. Ein Mitgärtner, früher selbst Energieseminar-Teilnehmer, schlug den Studenten das Problem als Forschungsprojekt vor.

Gerade haben die Studenten den Solarstrom an Pumpen angeschlossen. Diese sollen das gesammelte Wasser in mobile Tanks umpumpen, aus denen die Beete gegossen werden. „Wir retten nicht die Welt, aber es ist eine konkrete Idee“, sagt Linus. Wenn alles funktioniert, soll die Bewässerungsanlage feierlich eröffnet werden, erzählen die Studenten stolz.

Auch Roman Buss ist vom Bewässerungsprojekt begeistert. Er gehört zum Vorstand des Vereins Stadtteilgarten Schillerkiez, einem der drei Gartenprojekte. Die Gärtner seien auch deshalb für das Projekt, weil sie nicht wollten, dass eine reguläre Trinkwasserleitung zum Vorwand genommen würde für eine bauliche Erschließung des Feldes, sagt er. Zwar sei dies laut THF-Gesetz ausgeschlossen. „Aber manche macht es schon misstrauisch, wie viele Gebäude hier in den letzten Jahren entstanden sind.“

Gemeint sind zum Beispiel neue Toilettenhäuschen, mittlerweile drei Biergärten und ein hölzernes Freilufttheater namens „Luftschloss“. Auch er halte jegliche Bebauung des Feldes für falsch, sagt Buss. „Das würde die Wohnungsnot nicht lindern, sondern käme nur Investoren entgegen.“

Am Abend verwandelt sich das Feld wieder in das große Gemälde vom Morgen. Unter die Läufer und Radfahrer mischen sich Skater, Kitesurfer, Familien sitzen auf Wiesen beim Grillen. Der Himmel bietet mit dramatischen Wolken die übliche großartige Kulisse für Menschen wie Zirkustrainerin Thea, die auf Stelzen wie eine Scheinriesin über die Landebahn läuft. „Hier falle selbst ich weniger auf als in anderen Parks“, sagt sie. Und meint dabei sowohl ihre Größe als auch die Tatsache, dass sie Transfrau ist.

Künstler Ncube (40), Autor und Filmemacher aus Großbritannien und mit Wurzeln in Simbabwe, ist aus ähnlichen Motiven gekommen. „Ich bin gern zum Skaten hier, es ist einfach ein schöner Ort“, sagt er. Neben Musik und einem Cowboyhut hat er sein Buch dabei. Es spiele im Hollywood der 1930er-Jahre, sagt er. Der Titel „The Thrill of Being Invisible“ (etwa „Der Reiz, unsichtbar zu sein“) passt auch zum Tempelhofer Feld.

Abends werden auch am anderen Ende des Feldes Blumen gegossen. Es sind liebevoll dekorierte Balkonkästen vor den Wohncontainern der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Es gibt sie eben doch, die wirkliche Welt. Sie lässt sich nicht verdrängen. Nicht mal vom Tempelhofer Feld.

Das wiederum wird wie immer nach Sonnenuntergang abgeschlossen. Wie ein Theater, eine Welt der Illusion.

„Wir retten nicht die Welt, aber es ist eine konkrete Idee.“

Linus , Tutor im Energieseminar der TU

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