Das Berliner Gymnasium zum Grauen Kloster feiert seine Gründung vor 450 Jahren. Am ursprünglichen Standort möchte eine Stiftung an die bedeutende Bautradition anknüpfen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.05.2024 von Georg Dybe und Benedikt Goebel

Seit der Eröffnung vor fünf Jahren streben Hunderttausende Besucher durch die James-Simon-Galerie zu den Museen der Berliner Museumsinsel in der Mitte der Bundeshauptstadt. Die Baumwollhandlung „Gebrüder Simon“ des Namensgebers stand dort, wo heute der Fernsehturm steht. James Simon war einer der bedeutendsten Kunstmäzene des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Der Familienbetrieb und seine Zustiftungen in den Staatlichen Museen sind aber nicht die einzige Verbindung von Simon zur Berliner Mitte. Er war auch Absolvent des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, der ehemals vornehmsten Schule Preußens. Zusammen mit der zugehörigen Klosterkirche als bauhistorisch bedeutendstem Gebäude Berlins war die Schule ein kultureller Leuchtturm in der Mitte der Stadt.

Vor 450 Jahren, am 13. Juli 1574, stiftete der brandenburgische Kurfürst Johann Georg in den Räumen des säkularisierten Berliner Franziskanerklosters diese Schule, die die Geschicke Berlins und Deutschlands über Jahrhunderte beeinflusste. Das Jubiläum gibt Anlass, die lange Geschichte Berlins vor dem 19. Jahrhundert, vor dem Aufstieg zur Weltstadt, zu vergegenwärtigen. Denn Berlin hatte schon weit vor der Reichseinigung 1871 als Residenz eines der sieben Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches nationale Bedeutung.

In der Mitte Berlins bestehen von den ehemals mehr als 1000 Gebäuden aus der Zeit vor 1574 nur noch drei Kirchen und eine Ruine. Bei der Ruine handelt es sich um die ehemalige Kirche des Franziskanerklosters. Mit dieser Kirche kam die Steinsichtigkeit des Ziegelbaus nach italienischem Vorbild nach Brandenburg beziehungsweise Preußen. Der kleine Baustein , sorgfältig gebrannt und verfugt, ermöglichte gänzlich Neues: wetterfeste, durch spezielle Formsteine und Terrakotten detaillierte und zugleich vornehm-schlichte Architektur. Mit ihren eleganten, zurückhaltenden Formen könnte man die Klosterkirche mit einigem guten Willen als Bauhaus des Mittelalters bezeichnen. Das Franziskanerkloster, nach der Kleidung der Mönche das Graue Kloster genannt, war im ausgehenden 13. Jahrhundert zusammen mit der aula berolinensis (später Hohes Haus genannt), der Stadtresidenz der Markgrafen, in der späteren Klosterstraße angelegt worden. Kloster und Kirche wurden mit Unterstützung der Bauhütte des Klosters Chorin (heute Landkreis Barnim, Brandenburg) errichtet. Das Gelände grenzte an die gleichzeitig und unter tätiger Mithilfe des Klosters errichtete Stadtmauer, deren Reste heute noch vorhanden sind. Wie oft bei Klosteranlagen bildete die Klosterkirche den Mittelpunkt des Areals. Sie blieb auch nach der Säkularisierung baulich untrennbar mit dem Gelände verbunden, das nun als Schule genutzt wurde. Trotzdem verfiel sie im Laufe der Jahrhunderte. Ein Schulchronist berichtet, dass bei der 200-Jahr-Feier der Schule 1774 Boden und Bänke der Kirche so baufällig waren, dass sie „gestützt und gebaut“ werden mussten. Die Restaurierung der Klosterkirche ab 1842 bildete zusammen mit der teilweisen Wiederherstellung der Klosteranlage in Chorin und der Marienburg im heutigen Polen den Auftakt der preußischen Denkmalpflege.

Unter den höheren Schulen Berlins und Preußens ragte das nach der Reformation und Säkularisierung des Klosters – und der Zwischennutzung als erste Druckerei Berlins durch den Schweizer Leonhard Thurneysser zum Thurn – gestiftete Gymnasium zum Grauen Kloster weit heraus. Denn da die preußischen Landesuniversitäten bewusst nicht in Berlin angesiedelt wurden, war das Gymnasium fast 250 Jahre lang, bis zur Gründung der Universität im Jahr 1810, die höchste Bildungseinrichtung der Hauptstadt. Daher lernten und wirkten hier zahlreiche Gelehrte und Künstler, die Berlin , Brandenburg und Preußen prägten, wie der Komponist Johann Crüger, der Dichter Michael Schirmer, der Geograph Anton Friedrich Büsching, der Altphilologe August Boeckh, der Theologe Friedrich Schleiermacher, der Dichter Karl Philipp Moritz, Turnvater Jahn, der Historiker Johann Gustav Droysen und drei seinerzeit namhafte Vertreter der Rektoren-Dynastie Bellermann. Die bekanntesten Schüler waren Johann Gottfried Schadow, Karl Friedrich Schinkel und Otto von Bismarck.

Schinkel und Bismarck waren alles andere als Vorzeigeschüler. Aufgrund ihrer späteren Prominenz wurden – und werden sie bis heute – gleichwohl in der Reihe bekannter Absolventen ganz vorne genannt. Der Reichskanzler schrieb in seinen Lebenserinnerungen, er habe das Graue Kloster mit der Überzeugung verlassen, dass die Republik die vernünftigste Staatsform sei – zweifellos ein großes Kompliment für seine alte Schule.

Mehr als 370 Jahre bestand die Schule an der Klosterstraße. Nach schweren Beschädigungen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs musste der Schulbetrieb nach dem Krieg an anderen Standorten im nunmehr zu Ostberlin gehörenden Stadtzentrum fortgesetzt werden. Den Namen Gymnasium zum Grauen Kloster trug die Schule bis zur Umbenennung durch die DDR-Behörden 1958. Fünf Jahre später übernahm eine Westberliner Schule, das Evangelische Gymnasium, die Tradition des Grauen Klosters – und heißt seitdem Evangelisches Gymnasium zum Grauen Kloster. Eine Geschichte, wie sie nur im geteilten Berlin vorkommen konnte.

Neben der Kirche bildete das 1474 erbaute Kapitelhaus das Herz der Anlage. Sein Obergeschoss bildete einen einzigen großen Saal, in dem sich die Mönche zum Kapitel genannten Ordenskonvent versammelten. Durch die Südostecke des Hauses führte der mittelalterliche Kreuzgang. 1865 wurden ein Außentreppenhaus angebaut und das Haus um eine Etage mit zwei Sälen aufgestockt, darunter der bekannte Singesaal. Obwohl im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das Gebäude seitens der DDR-Behörden als denkmalwürdig eingestuft, es wurden Sicherungsarbeiten durchgeführt. Im Zuge der Neugestaltung des Ostberliner Zentrums („Aufbau des Stadtzentrums der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“ – so der Beschluss des SED-Politbüros im Jahr 1967) wurde es im Juni 1968 dann jedoch abgerissen. Über das Schulgelände wurde anschließend eine achtspurige Hauptstraße geführt. Damit war einer der wichtigsten baulichen Zeugen des mittelalterlichen Berlins verschwunden.

Aus heutiger Sicht unverständlich ist, dass die neue Hauptstraße knapp am Kapitelhaus vorbeiführte. Man hätte das Gebäude also trotz des Straßenbaus erhalten können – aber die Zeiten, sie waren nicht so. So deutet bis auf die Klosterkirchenruine heute nichts mehr darauf hin, dass sich hier in der Mitte Berlins einst eine Altstadt und das vornehme Gymnasium befunden haben.

Das Ensemble der Schulgebäude wies mit dem dreistöckigen Direktorwohnhaus von 1786 auch einen bedeutenden Berliner Barockbau auf. Das Duo von Klosterkirche und Direktorwohnhaus bildete 150 Jahre lang die Schauansicht des Gymnasiums. An das Direktorwohnhaus schloss sich seit dem 19. Jahrhundert ein nach Schinkel-Vorbild errichteter Arkadengang an, der das Entree zum Areal bildete.

Im Obergeschoss des Direktorwohnhauses war die Streitsche Stiftung untergebracht. Auch diese Stiftung, eine der ältesten noch existierenden Stiftungen Berlins , würde man im vermeintlich erst durch die industrielle Revolution groß gewordenen Berlin eigentlich nicht erwarten. An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert hatte ein Schüler namens Sigismund Streit das Gymnasium zum Grauen Kloster besucht. Obwohl er die Schule ohne Abitur verließ und sich als Kaufmann in Venedig niederließ, erinnerte er sich gerne seiner Schulzeit. Gegen Ende seines Lebens beschloss der am „Handelshof der Deutschen“ zu Vermögen gekommene Kaufmann, seinem alten Gymnasium Geld, Bücher und Kunstwerke zu stiften. Der Kern der überlassenen Bibliothek blieb – anders als das Direktorwohnhaus selbst – im Zweiten Weltkrieg erhalten. Er befindet sich heute als eigenständige Sammlung in der Zentral- und Landesbibliothek von Berlin .

Unter den fast 50 Gemälden, die Sigismund Streit seiner früheren Schule schenkte, waren auch vier großformatige Stadtansichten Venedigs von Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto. Sie hingen fortan in der Schulaula. Auch sie überstanden den Krieg. Als Dauerleihgabe der Streitschen Stiftung sind sie in der Gemäldegalerie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ausgestellt.

Die Klosterkirche war nicht einer Kirchengemeinde zugeordnet, sondern jahrhundertelang im Besitz der Schule. Erst 1938 wurde sie auf Drängen der evangelischen Kirche an die Gemeinde St. Nikolai und St. Marien übertragen. Bei einem Bombenangriff gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Kirche schwer beschädigt. Damit endete die Geschichte der Klosterkirche als Kirche – als Ruine entfaltet sie bis heute ein zweites Leben. Während der Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 initiierte der Kulturbund der DDR in der Kirchenruine eine Fotoausstellung. Dadurch rückte die Kirchenruine ins Blickfeld politischer Funktionäre: „Aus Sicht der staatlichen Kirchenpolitik ist festzustellen, daß die Entscheidung, in dieser Kirchenruine eine Veranstaltung oder Ausstellung durchzuführen, nicht günstig ist. Seit Jahren wirken wir den Versuchen der Kirche entgegen, die Ruine für kirchliche Zwecke, Kirchenkonzerte und Posaunenkonzerte zu nutzen.“ Die Schlussfolgerung der Funktionäre lautete: „Nach den Weltfestspielen wird zu prüfen sein, ob diese Ruine … erworben wird.“

Und so kam es. Für eine sehr geringe Summe wurde die Ruine 1978 von der Kirchengemeinde an den ostdeutschen Staat verkauft. Die Landeskirche, die keine Einwilligung erteilt hatte, bezweifelte, dass seitens der DDR-Behörden ein angemessener Kaufpreis bezahlt worden war, den Verkauf konnte sie aber nicht mehr verhindern. Gut zehn Jahre später, nach der politischen Wende in der DDR, versuchte die Kirchengemeinde die Ruine zurückzubekommen. Das Berliner Landesamt zur Regelung öffentlicher Vermögensfragen versagte dies, da der Kaufvertrag aus dem Jahr 1978 nicht dem Vermögensgesetz unterliege. Seitdem steht die Kirchenruine im Eigentum des Landes Berlin , das sie dem Bezirk Mitte zugeordnet hat, der die Ruine für zeitgenössische Kunstausstellungen nutzt.

Der 450. Stiftungstag des Gymnasiums zum Grauen Kloster ist auch Anlass für einen Blick in die Zukunft. Im Moment ist das frühere Schulgelände eine unwirtliche Gegend, der allein die Klosterkirchenruine Atmosphäre verleiht. Das Land Berlin hat in den vergangenen Jahren die Ende der Sechzigerjahre angelegte achtspurige Hauptstraße auf sechs Spuren verschmälert und den Straßenverlauf verschwenkt. Dadurch steht das gesamte frühere Schulgelände wieder zur Verfügung.

Drei grundlegende Fragen werden darüber entscheiden, wie dieser Teil des mittelalterlichen Kerns von Berlin zukünftig gestaltet wird: Wem gehört das Areal, wie wird es genutzt, und wie soll es bebaut werden?

Die Eigentumsklärung der Grundstücke des Grauen Klosters hat es zu überregionaler Prominenz gebracht: In Berlin sind die Grundstücke des Grauen Klosters das letzte offene DDR-Restitutionsverfahren, vielleicht sind sie sogar eines der letzten Verfahren in ganz Ostdeutschland. Das Land Berlin ist im Grundbuch als Eigentümer eingetragen. Den Restitutionsantrag hat die Stiftung Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster gestellt, die gegenüber dem Land Berlin stets Einigungsbereitschaft bekundet hat. Aber noch schwebt die Eigentumsklärung und die mit ihr verwobene Frage nach der zukünftigen Nutzung des Geländes.

Im Jahr 2016 hat das Land Berlin einen das frühere Schulgelände einschließenden Bebauungsplan festgesetzt. Man tut dem Plan sicherlich nicht unrecht, wenn man seine Festsetzungen als typischen Berliner Kompromiss einordnet: Die eine Hälfte des früheren Schulstandortes wurde zur dauerhaften Grünfläche erklärt. Auf der anderen Hälfte sieht der Plan die Errichtung einer Schule vor. Was diesen Kompromiss unbefriedigend macht, ist die Tatsache, dass er auf der einen Seite eine Grünfläche mit überschaubarer Aufenthaltsqualität – eingeengt zwischen Kirchenruine und Nachbargebäuden – festschreibt. Auf der anderen Seite gefährdet die Verknappung des Platzes den Neubau einer Schule: Die Berliner Schulverwaltung hat bestätigt, dass dort unter den geltenden Regeln keine öffentliche Schule errichtet werden kann. Ein privater Schulbauherr hat sich bisher nicht gefunden.

Wenn man sich das eindrucksvolle frühere Gebäudeensemble vergegenwärtigt, dann stellt sich auch die Frage nach der Architektur einer zukünftigen Bebauung . Hier steht die Debatte noch am Anfang. Die Neubebauung muss sich sicherlich auf die Klosterkirche beziehen, ohne sie zu dominieren. Das Baumaterial Ziegel als grundlegender Baustoff der zukünftigen Gebäude könnte dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Der Berliner Landesarchäologe Matthias Wemhoff hat mit seiner Forderung, dass ein Gebäude in der Kubatur des Kapitelhauses errichtet werden sollte, einen weiteren Ton gesetzt. Das stadtbildprägende Direktorenwohnhaus wäre ebenfalls ein Kandidat für eine Wiederherstellung. Auch die Andeutung der bei archäologischen Grabungen entdeckten Reste des Kreuzgangs erscheint naheliegend.

Damit schlösse sich ein Kreis: Das Gymnasium war baulich ein Zeugnis des mittelalterlichen Berlins und eine Schule von höchster Strahlkraft. Diesem Anspruch muss die zukünftige Gestaltung und Nutzung dieses Areals gerecht werden. Das wäre sicher auch im Sinne des kulturell wie gesellschaftspolitisch engagierten Klosteraners James Simon.

Georg Dybe ist Vorsitzender der Stiftung Berlinisches Gymnasium zum Grauen Kloster und der Vereinigung ehemaliger Klosteraner.

Benedikt Goebel ist Vorstand der Stiftung Mitte Berlin .

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