Soziale Mischung unter Druck: Debatte um „Nachteilsausgleich“ und Obergrenzen für einkommensschwache Gruppen in bestimmten Quartieren.
Morgenpost vom 27.05.2024 von Isabell Jürgens

Das soziale Klima in den Großsiedlungen steht zunehmend unter Druck. Darauf weisen Strukturdaten hin, die Experten am Montag bei einer Anhörung im Stadtentwicklungsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses vorgelegt haben. Die Veränderungen in der Bewohnerstruktur seien teils so tiefgreifend, dass sie zur Überforderung der Nachbarschaften führen könnten, so die Warnung. An sie knüpften die Wissenschaftler teils drastische Forderungen. Denn immer mehr Berlinerinnen und Berliner leben in den Großsiedlungen, überwiegend am Stadtrand.

Eine Million und damit jeder vierte Berliner wohnt in einer der 51 Großwohnsiedlungen der Hauptstadt – Tendenz steigend. Denn nicht nur, dass überwiegend an den Stadträndern Berlins neue Großsiedlungen entstehen. Bestehende Siedlungen werden zudem mit weiteren Wohnungen „nachverdichtet“. Zwar sind viele dieser Siedlungen deutlich besser als ihr oft schlechter Ruf – auch weil das Land Berlin viel Geld in die Hand genommen hat, um Gebäudesubstanz und Wohnumfeld zu verbessern.

Kinderarmut deutlich gestiegen

Nach einer Studie des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e.V., die deren Vorstandsvorsitzender Bernd Hunger den Ausschussmitgliedern vorstellte, ist der Anteil von Haushalten mit Transferbezug (19 Prozent) und von in Armut lebenden Kindern (43,8 Prozent) in großen Wohngebieten inzwischen doppelt so hoch wie in anderen Berliner Quartieren. In den Großsiedlungen der westlichen Stadtbezirke sieht es demnach noch dramatischer aus: H .

Verteilung im Stadtgebiet problematisch

„Dazu kommt, dass sich die Großsiedlungen im Stadtgebiet sehr ungleich verteilen“, umriss der Wissenschaftler ein weiteres Problem. Im Vergleich der zwölf Bezirke falle auf, dass diese sich im Berliner Nordosten konzentrieren , während es im Südwesen, vor allem im Bezirk Steglitz-Zehlendorf, kaum Bestände gebe. Allein in den Wohnstädten Hellersdorf, Marzahn und Neu Hohenschönhausen lebten rund 243.000 Menschen und damit 29 Prozent aller Berliner Großsiedlungsbewohner.

Im Süden der Stadt ragen die Gropiusstadt, im Norden das Märkische Viertel (jeweils knapp 40.000 Einwohner) sowie im Westen die Gebiete Heerstraße und Falkenhagener Feld (jeweils etwa 20.000 Einwohnern) heraus.

„Mein dringender Appell: Schauen Sie genau, wo Sie die Stadt weiterbauen“, wandte sich Hunger an die Abgeordneten und Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD). „In den Großsiedlungen wächst die nächste Generation heran, das prägt die gesamte Gesellschaft und nicht nur das Leben derjenigen, die in den Siedlungen wohnen“, so der Experte. Daher sei es auch keine gute Idee, dort nur auf den sozialen Wohnungsbau zu setzen. Es müsse auch Angebote für einkommensstärkere Gruppen geben.

Obergrenzen für Zuzug bestimmter Gruppen

„Deshalb appelliere ich zudem für flexiblere Einkommensgrenzen im Bereich des geförderten Wohnraums“, sagte Hunger. Zudem sollte auch darüber nachgedacht werden, wie etwa in Dänemark, bestimmte Obergrenzen für den Zuzug bestimmter Gruppen in Großsiedlungen zu setzen, in der diese ohnehin schon dominierten und die Nachbarschaften offenkundig überforderten. Etwa durch den Zuzug von Arbeitslosen, wenn sich dadurch der Anteil der Menschen ohne Arbeit in bestimmten Quartieren noch weiter erhöhe. „Und auch vor dem Hintergrund der sollte auch über diesen ,rosa Elefanten im Raum‘ gesprochen werden“, regte Hunger an.

Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund steigt überdurchschnittlich

Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt laut Studie bezogen auf alle Großsiedlungen mit 36 Prozent zwar nur knapp über dem Berliner Durchschnittswert (34 Prozent). Der Anteil in den Großsiedlungen der östlichen Bezirke liegt mit 24,9 Prozent sogar erheblich darunter, während in den Großsiedlungen der westlichen Bezirke knapp jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat.

Bemerkenswert ist nach Angaben der Studie aber die Schnelligkeit der Veränderungen. So habe sich im Zeitraum 2012 und 2018 der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den Großsiedlungen der westlichen Bezirke von 42,7 auf 49,4 Prozent erhöht. In den Großsiedlungen der östlichen Bezirke stieg der Anteil von 15,8 auf 24,9 Prozent. Die Quartiere seien in besonderem Maße zu Ankunftsorten für Zugewanderte und aus der Innenstadt Verdrängte mit Migrationshintergrund geworden.

Forscher fordert „dauerhaften Nachteilsausgleich für Großsiedlungen“

Angesichts der Aufgabe der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, Menschen mit geförderten Wohnraum zu versorgen, die es am freien Markt besonders schwer haben, schlug Matthias Bernt, Forschungsgruppenleiter am Leibniz - Institut   für Raumbezogene Sozialforschung , einen anderen Lösungsansatz vor. „Großsiedlungen werden von der gesamtstädtische Aufgaben im besonderen Maße in Anspruch genommen“, sagte Berndt. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit eines „dauerhaften Nachteilsausgleichs“, anstatt projektbezogener, immer wieder neu zu beantragender Stadtteil- und Integrationsprogramme.

Stadtentwicklungssenator verweist auf Neubauvorhaben

Zudem, so Bernt, empfehle er dem Stadtentwicklungssenator, der Konzentration von einkommensschwachen Haushalten am Stadtrand entgegenzuwirken. „Die Probleme der Großwohnsiedlungen sind Ausdruck davon, dass es in der Innenstadt kaum noch bezahlbare Wohnungen gibt. Die Landespolitik steuere nicht im ausreichenden Maße dagegen. Im Gegenteil: „Steglitz-Zehlendorf hat ein Zehntel der landeseigenen Wohnungen von Lichtenberg-Hohenschönhausen. Und in Lichtenberg Hohenschönhausen werden zehnmal so viele landeseigene Wohnungen neu gebaut wie in Steglitz-Zehlendorf.“ Gleiches gelte für die Aufkäufe von Wohnungsbeständen. „Von den zuletzt gekauften 4500 Wohnungen befanden sich die meisten in Lichtenberg-Hohenschönhausen“, kritisierte Bernt.

Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler verwies auf die zahlreichen Wohnungsbauvorhaben im ehemaligen Westteil der Stadt. Von den 50.000 Wohnungen, die der Senat in Großsiedlungen plane, befänden sich 30.000 im Westteil. „12.000 in Spandau, 5000 im Schumacher Quartier in Tegel, 3000 in der Europacity, 2500 in und 2000 in Tegel-Nord“, nannte Gaebler Beispiele. „Wir müssen aber auch sehen, dass es in Steglitz-Zehlendorf nicht so viele landeseigene Flächen gibt, auf denen man etwas vorantreiben kann“, gab der Senator zu bedenken. In Charlottenburg-Wilmersdorf sei dies ähnlich.

Weiter verwies Gaebler darauf, dass aus den MUF, den modularen Flüchtlingsunterkünften, später normale Wohneinheiten werden können. Damit würde auch in Gebieten wie Zehlendorf oder Westend „entsprechende Ergänzungen der Sozialstruktur“ geben.

Spezielle Programme für von Armut betroffene Anwohner

Der Stadtentwicklungssenator verwies zudem auf eine aktuelle Untersuchung in 24 der 51 Berliner Großsiedlungen. Die befragten Bewohner hätten trotz aller benannter Probleme „über eine verhältnismäßig hohe Wohnzufriedenheit“ berichtet. Das zeige, dass Verbundenheit mit dem Quartier vorhanden sei.

Zudem habe der Senat 23 Wohnsiedlungen mit besonderem Aufmerksamkeitsbereich identifiziert, deren Bewohnerschaft besonders stark von Armut betroffen sei. Mit dem Programm „Stärkung Berliner Großsiedlungen“ wolle man dem entgegenwirken. In verschiedenen Schwerpunkten wie „nachbarschaftliches Miteinander“ oder „Integration Kinder und Jugendliche“, oder „Attraktiver öffentlicher Raum“ könnten Mittel beantragt werden. Dieses Programm werde gut angenommen und trotz schwieriger Haushaltslage fortgeführt, sagte Gaebler. Zudem gebe es das Programm „Sauberkeit und Sicherheit in den Großsiedlungen", das 2023 angelaufen sei. Dafür stehen berlinweit bis 2025 Mittel in Höhe von rund 9,5 Millionen Euro zur Verfügung.

Auch sei klar, dass es für das auslaufende Quartiersmanagement, das nicht mehr verlängert werden könne, eine Verstetigung geben soll. Dies müsse aber mit den Bezirken zusammengebracht werden. Mittel über Städtebauförderung des Bundes seien nicht beliebig ausdehnbar.