Experte schlägt dänisches Modell für Berlin vor: Bestimmte Gruppen sollen nicht mehr zuziehen
Morgenpost vom 28.05.2024 von Isabell Jürgens

Berlin Das soziale Klima in den Großsiedlungen steht zunehmend unter Druck. Darauf weisen Strukturdaten hin, die Experten bei einer Anhörung im Stadtentwicklungsausschuss des Abgeordnetenhauses vorgelegt haben. Die Veränderungen in der Bewohnerstruktur seien teils so tiefgreifend, dass sie zur Überforderung der Nachbarschaften führen könnten, so die Warnung. An sie knüpften die Wissenschaftler teils drastische Forderungen. Denn eine Million und damit jeder vierte Berliner wohnt in einer der 51 Großwohnsiedlungen der Hauptstadt – Tendenz steigend. Nicht nur, dass überwiegend an den Stadträndern Berlins neue Großsiedlungen entstehen. Bestehende Siedlungen werden zudem mit weiteren Wohnungen „nachverdichtet“. Zwar sind viele dieser Siedlungen deutlich besser als ihr Ruf – auch weil das Land Berlin viel Geld in die Hand genommen hat, um Gebäudesubstanz und Wohnumfeld zu verbessern.

Nach einer Studie des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e.V., die Vorstandschef Bernd Hunger vorstellte, ist der Anteil von Haushalten mit Transferbezug (19 Prozent) und von in Armut lebenden Kindern (43,8 Prozent) in großen Wohngebieten inzwischen doppelt so hoch wie in anderen Berliner Quartieren. In den Großsiedlungen der westlichen Stadtbezirke sieht es demnach noch dramatischer aus: Hier wächst jedes zweite Kind unter Hartz-IV-Bedingungen auf. „Dazu kommt, dass sich die Großsiedlungen im Stadtgebiet sehr ungleich verteilen“, umriss der Experte ein weiteres Problem.

Großsiedlungen konzentrieren sich im Nordosten der Stadt

Im Vergleich der zwölf Bezirke falle auf, dass diese sich im Berliner Nordosten konzentrieren, während es im Südwesten, vor allem in Steglitz-Zehlendorf, kaum Bestände gebe. Allein in den Wohnstädten Hellersdorf, Marzahn und Neu Hohenschönhausen lebten rund 243.000 Menschen und damit 29 Prozent aller Berliner Großsiedlungsbewohner. Im Süden der Stadt ragen die Gropiusstadt, im Norden das Märkische Viertel (jeweils knapp 40.000 Einwohner) sowie im Westen die Gebiete Heerstraße und Falkenhagener Feld (jeweils etwa 20.000 Einwohner) heraus. „Mein dringender Appell: Schauen Sie genau, wo Sie die Stadt weiterbauen“, wandte sich Hunger an die Abgeordneten und Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD). „In den Großsiedlungen wächst die nächste Generation heran, das prägt die gesamte Gesellschaft und nicht nur das Leben derjenigen, die in den Siedlungen wohnen“, so der Experte. Daher sei es auch keine gute Idee, dort nur auf den sozialen Wohnungsbau zu setzen. Es müsse auch Angebote für einkommensstärkere Gruppen geben.

Zudem sollte darüber nachgedacht werden, wie in Dänemark Obergrenzen für den Zuzug bestimmter Gruppen in Großsiedlungen zu setzen, in denen diese ohnehin schon dominierten und die Nachbarschaften offenkundig überforderten. Etwa durch den Zuzug von Arbeitslosen, wenn sich dadurch der Anteil der Menschen ohne Arbeit in bestimmten Quartieren noch weiter erhöhe. „Und auch vor dem Hintergrund der Einwanderung mit bestimmtem Migrationshintergrund, sollte auch über diesen ,rosa Elefanten im Raum‘ gesprochen werden“, regte Hunger an.

Der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund liegt laut Studie bezogen auf alle Großsiedlungen mit 36 Prozent zwar nur knapp über dem Berliner Durchschnittswert (34 Prozent). Der Anteil in den Großsiedlungen der östlichen Bezirke liegt mit 24,9 Prozent sogar erheblich darunter, während in den Großsiedlungen der westlichen Bezirke knapp jeder Zweite einen Migrationshintergrund hat. Bemerkenswert ist nach Angaben der Studie aber die Schnelligkeit der Veränderungen. So habe sich im Zeitraum 2012 bis 2018 der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in den Großsiedlungen der westlichen Bezirke von 42,7 auf 49,4 Prozent erhöht. In den Großsiedlungen der östlichen Bezirke stieg der Anteil von 15,8 auf 24,9 Prozent. Die Quartiere seien in besonderem Maße zu Ankunftsorten für Zugewanderte und aus der Innenstadt Verdrängte mit Migrationshintergrund geworden.

Angesichts der Aufgabe der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, Menschen zu versorgen, die es am freien Markt besonders schwer haben, schlug Matthias Bernt vom Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung einen anderen Ansatz vor. „Großsiedlungen werden von den gesamtstädtische Aufgaben im besonderen Maße in Anspruch genommen“, sagte Bernt. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit eines „dauerhaften Nachteilsausgleichs“ anstelle immer neuer Stadtteil- und Integrationsprogramme.

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