FAZ  5. November 2010

Metropolen werden niemals fertig
Was von den Vätern wir gelernt: Vor hundert Jahren förderte Berlin den internationalen Städtebau. Was 1910 begann, besteht noch heute bestens.

 

Viele Städte der industrialisierten Länder explodierten in den Jahren um 1900 förmlich. Immer größere Menschenmassen mussten behaust, versorgt und transportiert werden, Wohnungen und Arbeitsstätten mussten ebenso geplant werden wie Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, Frei- und Naherholungsräume. Der als Planungsdisziplin noch junge Städtebau zog damals das öffentliche Interesse auf sich. Zum Beispiel in Berlin, wo 1910 der Wettbewerb "Groß-Berlin" entschieden wurde - zehn Jahre bevor die Zusammenlegung der Stadt und der sie umgebenden Gemeinden erfolgte.

Die fünfzehn Wettbewerbs-Entwürfe, die maßgeblichen Einfluss auf die weiteren Planungen Berlins haben sollten, bildeten den Kern einer gigantischen "Allgemeinen Städtebau-Ausstellung" in der Hochschule für die Bildenden Künste an der Charlottenburger Hardenbergstraße. Rund 65 000 Besucher sahen seinerzeit Pläne und Modelle aus München, Hamburg, Nürnberg, Köln und Stuttgart, aus Wien, Budapest, Stockholm, Paris und London sowie Chicago und Boston. Nie zuvor und nie danach hatte der Städtebau derart viele Menschen angezogen.

Hundert Jahre später erlebt die Disziplin eine Renaissance nicht nur in stetig wachsenden Megastädten wie Schanghai, Dubai und Mumbai, sondern auch in der "Alten Welt". Denn die Industriestädte des frühen zwanzigsten Jahrhunderts müssen sich den neuen Bedingungen einer postindustriellen Zukunft anpassen. Dabei aber können sie auf die weitsichtigen Taten der Zeit um 1900 zurückgreifen - die städtische Infrastruktur, den Gebäudebestand, Plätze, Parks und Grünanlagen.

Eine Ausstellung des Architekturmuseums der Technischen Universität Berlin erinnert nun an die "Allgemeine Städtebau-Ausstellung" von 1910, kombiniert mit aktuellen Blicken auf vier Metropolen, die bereits 1910 Hauptrollen spielten: Berlin, Paris, London und Chicago. Schon damals hatten sie statt modischer radikaler Utopien die Reform und Weiterentwicklung des Bestands im Blick: So legten Daniel H. Burnham und Edward H. Bennett 1909 ihren berühmten "Chicago Plan" vor, der Eingriffe in die chaotische Stadtstruktur nach dem Vorbild der epochalen Umgestaltung von Paris durch Baron Haussmann zum Vorbild hatte; Verkehrsachsen, aber auch Parks - selbst am Ufer des Michigansees - spielten eine Hauptrolle. London setzte seinerzeit, begeistert von Ebenezer Howards "Gartenstadtidealen", auf Dezentralisierung und innerstädtische Verdichtung, in deren Folge Geschäftsbauten das Wohnen verdrängten. In Frankreich schufen Eugène Hénard und andere (unrealisierte) Pläne eines "Grand Paris", nach denen das überbevölkerte Zentrum zugunsten der Vorstädte ("Banlieues") und eines Systems von Grün- und Erholungsflächen entlastet werden sollte.

Für Berlin, dessen sozialer Zerklüftung der krasse Unterschied zwischen viel zu engen Mietkasernen in der Altstadt und den Arbeiterbezirken sowie den meist von privaten Terraingesellschaften geplanten Stadthaus- und Villenvierteln im Süden und Westen der Stadt entsprach, initiierte der Wettbewerb "Groß-Berlin" eine von üppigen Grünräumen und großzügigen Verkehrssystemen bestimmte Infrastruktur, die bis heute das Bild der Stadt prägt. So schuf beispielsweise der damals vorgeschlagene Nord-Süd-Bahntunnel die Voraussetzung für einen Hauptbahnhof, der bekanntlich erst knapp hundert Jahre später eröffnet werden konnte.

Die Revitalisierung der Zentren, das Bewahren und Verknüpfen städtischer Grünräume, das Beheben von Wohnungs- und Verkehrsproblemen, das Denken in stadtregionalen Zusammenhängen: der heutige Städtebau hat noch die gleichen Themen zu bewältigen wie um 1910. Dazu kommen neue wie die Revitalisierung von Großwohnsiedlungen der Nachkriegszeit und Industriebrachen, das Einführen nachhaltiger Energie- und Klimakonzepte und, wie die Unruhen von "Stuttgart 21" oder die um "Media Spree" in Berlin belegen, weitreichende Bürgerbeteiligung.

Welche konkreten Aufgaben zurzeit in den vier genannten Städten anstehen, zeigt der zweite Teil der Ausstellung: Chicago strebt an, die "grünste Stadt der USA" zu werden. Mit der Revitalisierung des Zentrums, die den städtischen Mittelstand begünstigt, nimmt man allerdings eine Verschärfung der sozialen Polarisierung zwischen Kernstadt und Peripherie samt der Ausdehnung der Metropolregion in Kauf. London, das in den vergangenen zehn Jahren vor allem längs der Themse eine "urban renaissance" erlebt hat, nutzt die Vorbereitung für die Olympischen Spiele 2012 zur Wiederbelebung des bislang vernachlässigten Ostens. Für "Grand Paris" hat Staatspräsident Nicolas Sarkozy schon im Herbst 2008 ein Gutachterverfahren mit anschließenden Ausstellungen und Debatten initiiert. Die Ergebnisse dieses Ideenwettstreits "für die Zeit nach dem Kyoto-Protokoll" werden nun von den beteiligten zehn Planergruppen gemeinsam mit den Planungsbüros der Stadt Paris und der Region Île-de-France konkretisiert.

In Berlin wiederum ist der Prozess der "kritischen Rekonstruktion" der Stadtmitte ins Stocken geraten. Derzeit konzentrieren sich städtebauliche Energien entlang der östlichen Spree und in der lange vernachlässigten "City West". Im Blick sind auch innenstadtnahe Riesenareale wie die Flughäfen Tempelhof und Tegel samt dem im Bau befindlichen neuen Flughafen Schönefeld, der dem Südosten Berlins neue Impulse geben soll. Gleichzeitig müssen traditionelle Arbeiterquartiere und die Plattenbausiedlungen im Ostteil der Stadt stabilisiert werden.

Städtebau, ob 1910 oder heute, ist dank hunderterlei widerstreitender Interessen, Ansprüche und Pflichten eine Herkulesarbeit. Dabei den Blick für das Ganze zu wahren und den für gestalterische Qualitäten zu schärfen - darin liegt ehemals wie heute die Kunst. In welchen Bildern die jeweiligen Planergenerationen ihre Visionen illustrieren, auch davon erzählt die Berliner Schau.  Oliver G. Hamm

Berlin Paris London Chicago.100 Jahre "Allgemeine Städtebau-Ausstellung" in Berlin. Architekturforum der Technischen Universität Berlin. Bis 10. Dezember. Der Katalog (DOM Publishers) kostet 48 Euro.