Seit 27 Jahren verfällt in der Hansastraße, Ecke Buschallee ein denkmalgeschütztes Kinderkrankenhaus. Zeitzeugen erzählen, wie es früher dort war
Berliner Zeitung vom 27.07.2024 von Franz Becchi
Der Zeitungsausschnitt liegt ordentlich gefaltet auf dem Wohnzimmertisch von Heidemarie Behrendt. „Zeitzeugen gesucht“, steht darauf. Es geht um ein Gebäude, etwa dreieinhalb Kilometer von ihrem Wohnzimmer entfernt: die Ruine des ehemaligen Säuglings- und Kinderkrankenhauses in Berlin -Weißensee.
Behrendt kennt das Gelände gut. Als sie den Zeugenaufruf in der Berliner Zeitung entdeckte, sprang sie vom Sofa auf, erzählt sie. Nun sitzt sie zusammen mit ihrem Ehemann Wolfgang bei einem Glas Eiskaffee mit Sahne und blickt zurück. Ihre Mutter, Luise Michaelis, hat bis zur Rente im Jahr 1978 als Oberschwester in der Klinik gearbeitet. Heidemarie Behrendt hat sie dort oft besucht.
„Qualifizierungsvertrag“ steht auf einem Schreiben, das an den Rändern etwas vergilbt ist. Es ist sechsundfünfzig Jahre alt, Behrendt hält es behutsam in den Händen. Es ist der Beweis, dass ihre Mutter im November 1964 im Kinderkrankenhaus als Abteilungsschwester eingesetzt wurde und sich dort zur Oberschwester qualifizierte.
Das Kinderkrankenhaus wurde 1997 endgültig geschlossen. In diesen Jahren kam es in Ostdeutschland zu einem Einbruch der Geburtenzahlen, der mit den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung zusammenhing. Der Senat prognostizierte eine rückläufige Einwohnerzahl – die Treuhand sah in der Kinderklinik keinen Nutzen mehr. Behandlungen wurden in das nahegelegene Krankenhaus in der Schönstraße verlegt.
Besitzer kamen und gingen, doch seitdem ist das Areal in einen Dornröschenschlaf gefallen. Heute ist das Krankenhaus von Vegetation überwuchert: Überall wächst Unkraut, auch in den Innenräumen. An die Wände sind Graffiti gesprüht, und leere Dosen liegen auf den maroden Holzdielen. „In der DDR wäre das vermutlich nicht passiert“, sagt Herr Behrendt und lacht. Damals hätte man Sprühdosen nicht so einfach kaufen können. Dutzende Brände und Vandalismus haben den Verfall im Laufe der Jahre beschleunigt.
„Es ist sehr schade“, sagt Frau Behrendt betrübt. Das Rentnerpaar, beide 73 Jahre alt, besucht regelmäßig die Leichtathletikbahn im nahen Stadion Buschallee. „Man muss ja fit bleiben“, fügt ihr Mann hinzu, während er eine Schachtel Pralinen aus der Küche holt. Sie haben die jahrzehntelange Verwahrlosung des Geländes miterlebt. Den Niedergang eines Krankenhauses, das einst als eine der fortschrittlichsten medizinischen Einrichtungen Preußens galt.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Kindersterblichkeit hoch. Das war der Grund, warum in Weißensee das erste kommunal geführte Säuglings- und Kinderkrankenhaus des Landes entstand. Am 8. Juli 1911 wurde es mit einem großen Festakt von Königin Auguste Viktoria eröffnet. Renommierte Mediziner aus ganz Europa und Amerika nahmen an einem Kongress zum Thema Säuglingsschutz teil.
Frische Milch für die kleinen Patienten
Damals gehörte der Ortsteil zum Landkreis Niederbarnim, der sich an der Finanzierung beteiligte. Der Architekt und Baubeamte Carl James Bühring übernahm Entwurf und Bauplanung der Klinik. Neben dem Hauptgebäude bestand das Ensemble ursprünglich aus dem Auditorium, einem Isolierpavillon, einem Wirtschaftsgebäude, einer Leichenhalle und einem Pferdestall mit Wagenremise. Die Anstalt verfügte über etwa 40 Betten, kurz vor der Wende waren es insgesamt 100.
Eine Besonderheit der Klinik war eine „Muster-Kuhanlage“, die eine gute Versorgung der Neugeborenen und deren Mütter gewährleisten sollte. „Jeden Morgen schaute ich aus dem Fenster und sah, wie die Kühe gemolken wurden“, erinnert sich Michael Wetterhahn. Der Berliner , der dieses Jahr achtzig Jahre alt geworden ist, hat sich ebenfalls auf die Anzeige in der Zeitung gemeldet.
Im Jahr 1954, als Wetterhahn zehn war, wurde er mit einer schweren Lungenentzündung in der Kinderklinik in Weißensee behandelt. Er kann sich noch gut an seinen Aufenthalt erinnern. Besuche waren nur an zwei Wochentagen gestattet, um die Kinder vor Keimen zu schützen. „Das war natürlich nicht leicht“, sagt Wetterhahn. Erst ab 1978 wurden in der Kinderklinik tägliche Besucherzeiten eingeführt.
Vorher durften alle Eltern nur durch eine Fensterscheibe zu ihrem Kind Kontakt haben – eine Szene, die ein Artikel des Frankenberger Tageblatts vom Juli 1937 beschreibt. Dort wird die Kinderklinik noch als „Paul-Reyher-Krankenhaus“ bezeichnet, nach dem Namen des damaligen Direktors. Es handele sich um das „größte Gebäude der Reichshauptstadt“, heißt es im Artikel. Und weiter: „Wie glückhaft ist das Lächeln einer Mutter, wenn sie aus fremdem Munde vernimmt, dass ihr Kind bereits bedeutend erholter aussieht.“ Der große Garten und die gepflegten Anlagen, von denen dort berichtet wird, sind heute ein undurchdringlicher Wald aus Brennnesseln.
Heidemarie Behrendt holt Schwarz-weiß-Fotos aus der Mappe und legt sie auf den Tisch. Mit dem Zeigefinger deutet sie auf ein Bild: „Das muss aus den 70er-Jahren stammen“, sagt sie. Ihre Mutter ist auf dem Foto zu sehen, mit einem Glas in der Hand. Sie stößt mit ihren Kollegen auf ihren 60. Geburtstag an. Auf der Rückseite des Fotos ist das Datum vermerkt: 10. Februar 1977. Behrendt zeigt auf die Frau neben ihrer Mutter und sagt: „Und das ist Frau Radvanyi.“
Die Frau hat kurze Haare, trägt eine Brille und lacht. Ruth Radvanyi, Tochter der Schriftstellerin Anna Seghers und des Wirtschaftswissenschaftlers Laszlo Radvanyi, war Chefärztin der Klinik. Eine Medizinerin, die ihr Leben der Kindermedizin widmete. Heidemarie Behrendt beschreibt sie als kleine, strenge, robuste Frau, vor der jeder im Krankenhaus Respekt hatte und manche Kinder ein bisschen Angst. „Sie hätte für die Kleinen alles gemacht“, sagt die Rentnerin.
Radvanyi hatte selbst eine schwere Kindheit. Als Adolf Hitler Reichskanzler wurde, musste sie mit ihren jüdischen Eltern aus ihrer Geburtsstadt Berlin fliehen. Da war sie fünf. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie in Frankreich und Mexiko. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte sie Medizin in Paris und arbeitete als Ärztin in Sansibar. In den 1950er-Jahren kehrte sie zurück in die Hauptstadt – 1970 wechselte sie von der Klinik in Berlin -Buch zum Kinderkrankenhaus Weißensee, wo sie Chefärztin wurde. Als Radvanyi am 18. Juli 2010 nach langer Krankheit in Berlin starb, war von der Kinderklinik nicht mehr viel übrig.
Im Jahr 2005 wollte der Berliner Senat das Krankenhaus durch einen Verkauf an die deutsch-russische Firma MWZ Bio-Resonanz vor dem völligen Verfall bewahren. Das Unternehmen verpflichtete sich zu Investitionen in Höhe von zehn Millionen Euro und plante, ein Krebsforschungszentrum zu eröffnen. Doch das Gebäude blieb weiterhin ungenutzt.
Nach einem langen Rechtsstreit schaffte es das Land Berlin im Jahr 2018, das Geschäft rückabzuwickeln. Das Bezirksamt Pankow gab Machbarkeitsstudien in Auftrag und erstellte Konzepte für eine mögliche Nutzung des Standorts. Das Ergebnis: Eine Gemeinschaftsschule könnte hier entstehen.
Doch die Finanzierung des Projekts ist genauso unklar wie die Zuständigkeit. Fragt man das Bezirksamt, bekommt man zur Antwort: Das Land Berlin müsse gemeinsam mit dem Abgeordnetenhaus um Zustimmung zur Bereitstellung der Mittel bitten. Fragt man die Senatsverwaltung für Finanzen, heißt es, dass die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) beziehungsweise der Bezirk zuständig seien. Die Senatsverwaltung habe lediglich die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Grundstück für den Verwendungszweck „Schule“ dem Bezirk zur Verfügung stehe.
Die Berliner Immobilienmanagement wiederum teilt mit: „Das ehemalige Kinderkrankenhaus Weißensee liegt mittlerweile in der Zuständigkeit des Bezirks Pankow.“ Die kommunale Gesellschaft kümmere sich um sogenannte Verkehrssicherungsmaßnahmen , die Gefahren durch die verlassenen Gebäude vermeiden sollen. Die Ausgaben sollen diesbezüglich im Jahr 2023 bei 204.000 Euro gelegen haben, im Vorjahr bei 77.000 Euro. Die Gesamtkosten für das Objekt seit Übernahme durch die BIM liegen bis heute bei rund 700.000 Euro.
Das 28.000 Quadratmeter große Areal ist etwa fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad von Frau und Herrn Behrendts Wohnzimmer entfernt. Die Räder der M4 quietschen auf den Straßenbahnschienen, sie stoppen genau vor der ehemaligen Kinderklinik. Ein Anblick wie aus einem Roman.
Die Schriftstellerin Antonia Blum hat sich vom ehemaligen Kinderkrankenhaus inspirieren lassen und die Bücherreihe „Kinderklinik Weißensee“ geschrieben, Bestseller, alle vier Bände. Die Geschichten handeln von den Erlebnissen und Herausforderungen des Personals und der Patienten in der Weißenseer Kinderklinik, die Autorin vermischt fiktive Figuren mit realen Begebenheiten.
Antonia Blum ist nicht ihr richtiger Name. Ihre Identität will die Schriftstellerin nicht preisgeben. Auch das gehört zu den Geheimnissen, die sich um die Klinik ranken. Heidemarie Behrendt kennt die Bücher. „Vielleicht hat die Autorin selbst in der Klinik gearbeitet“, sagt sie. Um so eine Bücherserie zu verfassen, sei viel Wissen notwendig.
Weißensee als „Tor zur Vergangenheit“
Fragen der Berliner Zeitung beantwortet Blum nur per Mail. „Die Menschen vor mehr als einhundert Jahren lebten unter anderen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und mit anderen Werten“, schreibt sie. „Kinder wurden zu dieser Zeit als kleine Erwachsene betrachtet.“ Das sei einer der Gründe, warum sich die Kindermedizin als eigenständiges Fachgebiet erst spät entwickelt habe.
Die meisten Mitarbeiter der Kinderklinik in Weißensee waren Frauen – außer Pförtner und Hausmeister. „Ich erzähle von Frauen, die über sich hinauswachsen in einer männerdominierten Welt und wünsche mir, dass meine Leser mit meinen Figuren lachen und weinen können“, so Blum.
Den Weißen See sieht die Autorin als ein „Tor zur Vergangenheit“. Während eines Spaziergangs dort kam ihr die Idee zur Romanreihe, berichtet sie. Wie so viele, die einen Bezug zur Klinik haben, wünscht sie sich, dass die Klinik wieder ein Ort für Kinder werden kann und das Gebäude endlich saniert wird. Sie wohne nicht mehr in Berlin , würde aber regelmäßig zurückkommen und nach der verlassenen Klinik schauen.
Als die Weißenseer Kinderklinik 80 Jahre alt wurde, 1991, hielt Bernhard Goetzke, ehemaliger Chef der Chirurgie im Haupthaus in der Schönstraße, einen Festvortrag, den er mit den Worten von Peter Ustinov beendete: „Ich habe auf der ganzen Welt Menschen gefunden, die für Kinder gesammelt haben. Ich habe aber niemals einen General gesehen, der um Waffen gesammelt hat. Das Geld war immer da.“
Steht man vor den verfallenen Hallen der Klinik, in der jahrzehntelang Babys und Kinder geheilt wurden, muss man an diese Worte denken.