Christian Thielemann und Elisabeth Sobotka starten in ihre erste Spielzeit Unter den Linden
Berliner Morgenpost vom 17.08.2024 von Volker Blech
Am Dirigentenpult in der Staatsoper Unter den Linden ist der Wechsel praktisch schon vorfristig vollzogen worden, auch wenn Christian Thielemann offiziell sein Amt als Generalmusikdirektor erst mit der beginnenden Saison antritt. Er hatte den aus gesundheitlichen Gründen zurückgetretenen Daniel Barenboim bereits in Opernaufführungen oder zuletzt beim Konzert „Staatsoper für alle“ auf dem Bebelplatz abgelöst. Im Intendantenzimmer nimmt Elisabeth Sobotka jetzt den Platz ihres langjährigen Vorgängers Matthias Schulz ein. Die Staatsoper befindet sich im Übergang.
Die neue Saison und hoffentlich auch Ära startet am 2. September mit einem Abonnementkonzert, gefolgt von einem Tag der offenen Tür am 7. September. Als erste Premiere der neuen Ära ist Giuseppe Verdis „Nabucco“ am 2. Oktober angekündigt.
Über seine Amtszeit hat Matthias Schulz ein Buch mit dem Titel „Sieben Jahre Staatsoper Unter den Linden 2017-2024“ hinterlassen. Es beschreibt die Jahre seit der Rückkehr in das sanierte Opernhaus in Mitte. Zuvor war das gesamte Ensemble einige Kilometer weit ins Charlottenburger Schiller-Theater gezogen. Mehr als 600 Mitarbeiter aus den künstlerischen Bereichen, dem Management, der Technik oder Verwaltung fanden sich im Sommer 2010 im Schiller-Theater wieder. Der Aufenthalt zog sich aber länger hin als gedacht. Die verschleppte Sanierung wurde im Land Berlin zu einem Skandal und deutschlandweit immer wieder in einem Atemzug mit der Dauerbaustelle Flughafen genannt.
Fast vergessen ist das Erstaunen, als bei der Sanierung plötzlich alte Holzpfähle in 17 Metern Tiefe auftauchten. Das alte Berlin der Preußenkönige tauchte aus dem Untergrund hervor. Die störenden Pfähle führten zu höheren Sanierungskosten und einer weiteren Bauverzögerung . Aber wichtiger war seinerzeit der Blick in historische Stadtpläne, die offenbarten, wie wichtig das zwischen 1741 und 1743 entstandene Theatergebäude für die geistige und kulturelle Entwicklung der Stadtgesellschaft war. „Seither hat es Kriegs- und Friedenszeiten, Umbauten und Zerstörungen, Glanzphasen und Krisen, Wandel und Kontinuitäten erlebt“, heißt es im Buch, „wie kaum ein anderer Ort der mächtig angewachsenen, dynamisch sich entwickelnden Stadt.“ Die Stadt, die Lindenoper und ihre Künstler sind traditionell eng miteinander verbunden.
Zuletzt hatte der argentinisch-israelische Pianist und Stardirigent Daniel Barenboim drei Jahrzehnte lang die musikalischen Geschicke des Opernhauses und seiner Staatskapelle geleitet. Es begann Silvester 1991 mit Beethovens 9. Sinfonie, es folgte im Herbst 1992 Wagners „Parsifal“ als erste Opernproduktion. Barenboims Bilanz ist beachtlich: Als Musikchef hat er rund 760 Opern- und Ballettaufführungen und 850 Konzerte dirigiert. Der Dirigent hatte höchste Maßstäbe an seine Staatskapelle gesetzt und konnte das im Osten Berlins gelegene Opernhaus nach der deutschen Wiedervereinigung, die am 3. Oktober 1990 vollzogen wurde, in nur wenigen Jahren in den Kosmos der international wichtigen Häuser zurückkatapultieren. Barenboim hatte auch eingeführt, dass die Eröffnungspremieren jeweils am 3. Oktober stattfinden.
Der 80-jährige Barenboim hatte im Januar 2023 aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt erklärt. Für seine Leistungen wurde er im vergangenen Jahr zum Berliner Ehrenbürger und in diesem Jahre auch zum Ehrenmitglied der Staatsoper Unter den Linden ernannt. Der Ära Daniel Barenboims ist im Buch - neben den chronologisch abgehandelten künstlerischen Produktionen der vergangenen sieben Jahre - ein eigenes Kapitel gewidmet. Erwähnt werden neben den künstlerischen Triumphen auch sein politisches und gesellschaftliches Engagement. Er ist Gründer des West-Eastern Divan Orchestra und der Barenboim-Said Akademie, die auf der Rückseite der Staatsoper angesiedelt ist. Dort ist der lehrende Starkünstler nach wie vor anzutreffen.
Die Staatskapelle hatte für die Nachfolge am Pult schnell einen Wunschkandidaten. Bei der Neuproduktion von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov war Christian Thielemann für Barenboim eingesprungen. Die Premieren fanden international Beachtung, und in Berlin war anschließend nur noch Thielemann als möglicher Nachfolger im Gespräch. „Ich freue mich, dass ich dieses Orchester in diesem formidablen Zustand vorfinde“, sagte der Berliner Stardirigent, der inzwischen seinen ersten Fünf-Jahres-Vertrag geschlossen hat, bei der Präsentation des Spielplans für 2024/25. In der ersten Saison ist mit „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss (1864-1949) im Juli 2025 eine Opernpremiere unter seiner Leitung vorgesehen. Für Konzerte mit der Staatskapelle steht Thielemann mehrfach am Pult. Im Oktober gibt es etwa ein Konzert mit Pianist Igor Levit.
Für das Konzert zum Jahreswechsel verzichtet Thielemann auf die sonst traditionell übliche Neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven und hat ein Programm aus Tonfilmen und Theaterstücken der Weimarer Zeit unter anderem von Kurt Weill zusammengestellt.
Im Oktober soll Anna Netrebko in die Staatsoper zurückkehren
Thielemann möchte gerne auf verschiedenen Schienen fahren, aber wie jeder große Dirigent hat er seine musikalischen Vorlieben. „Richard Strauss war 20 Jahre lang hier Hofkapellmeister und hat von 1898 bis 1918 über 1000 Aufführungen dirigiert“, so Thielemann: „Ich schaue auf Strauss-Opern, die hier länger nicht gespielt wurden.“
Die bevorstehende Eröffnungspremiere von Verdis „Nabucco“ wird von Emma Dante inszeniert und von Bertrand de Billy dirigiert. Aber dieser Einstand am 2. Oktober hat es in sich, denn die russische Starsopranistin Anna Netrebko wird an die Staatsoper zurückkehren und die Abigaille singen. Bei ihrem letzten großen Auftritt im vergangenen September gab es lautstarke Demonstrationen von ukrainischen Aktivisten vorm Opernhaus, der damalige Intendant Matthias Schulz musste vorab verbale Verteidigungsschlachten führen. Wegen ihrer angeblichen Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin war Netrebko nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine in die Kritik geraten.
Bei ihrer Spielzeitvorschau positionierte sich auch Elisabeth Sobotka, bisher Chefin der Bregenzer Festspiele, zu Netrebko. „Sie ist wirklich eine große Künstlerin. Sie hat eine große Dummheit gemacht, sie hat sich davon distanziert. Selbstverständlich ist der Krieg eine Katastrophe und durch nichts zu rechtfertigen.“ Aber Netrebko habe keine Kontakte zu Russland mehr. „Natürlich hoffe ich, dass es zu keinen Demonstrationen kommt. Ich finde sie nicht gerechtfertigt.“
Vorgänger Matthias Schulz hatte im Bilanzbuch auch über das Opernhaus im Krisenmodus gesprochen. „Es gab wirklich unglaubliche Krisen, die größtenteils noch andauern sowie gesamtgesellschaftliche Entwicklungen: Krieg, Corona-Pandemie, eine veränderte Führungskultur, Diversität, Digitalisierung, Klimawandel, auch eine Polarisierung in der Gesellschaft, die sehr stark wahrnehmbar ist.“
Die Berliner Publizistin Carolin Emcke war die Gesprächspartnerin von Schulz in dem Interview. Sie sieht die Oper als öffentlich geförderte Institution schon in einer Verpflichtung, aber nicht zur politischen Dienstleistung. „In jeder Rede wird betont, wie demokratiefördernd Theater oder Musik oder Film sein sollen. Es ist unausstehlich. Je öfter ich das höre in den Reden von Kultursenator:innen oder Kulturstaatsminister:innen, umso zweckfreier wünsche ich mir die Kultur.“ Das neue Leitungsteam muss sich diesen Fragen stellen.
„Als künstlerische Leitlinie formuliert: die großartige Tradition des Hauses bewahren und in die Zukunft führen“, sagt Elisabeth Sobotka: „In einem Opernhaus begegnen sich Menschen mit sehr unterschiedlichen Erwartungen, erleben in Gemeinschaft eine Vorstellung und jeder einzelne Mensch nimmt etwas anderes mit. Es gibt nicht die eine Wahrheit für alle. Auch das erzählt eine Oper.“