Paris hat die Champs-Élysées, New York die Fifth Avenue, Berlin den Linden-Boulevard. Warum der Ort an Glanz verliert – und was zu tun ist
Berliner Morgenpost vom 17.08.2024 von Iris May

Berlin  „ Unter den Linden “ heißt die älteste Flaniermeile Berlins und wahrscheinlich die berühmteste Straße Deutschlands. Der Kulturhistoriker Erwin Seitz, der eine umfassende Biografie über die Straße verfasst hat, sieht in ihr sogar die „Visitenkarte Deutschlands“. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann der Aufstieg der sandigen Lindenstraße, deren Boden jahrzehntelang von Schweinen aus den umliegenden Bauernhöfen aufgewühlt wurde, zum eleganten Prachtboulevard. Starken Aufwind erhielt die Entwicklung durch die Eröffnung des Brandenburger Tores 1791 und den Bau der Schlossbrücke 1824 mit ihren heldenhaften Marmorskulpturen, was eine grandiose Verbindung zwischen Stadtschloss und Brandenburger Tor schuf.

Schon der Dichter Heinrich Heine schwärmte 1822: „Ja, Freund, hier unter den Linden kannst du dein Herz erbaun. Hier kannst du beisammen finden die allerschönsten Frau’n.“ Kaiser Wilhelm II. zeigte sich hier bis 1914 in der offenen Kutsche dem Volke. Und Marlene Dietrich sang: „Untern Linden promenier ich immer gern vorbei (...) Dort soupiern wir und poussiern wir. Bis zum Schlafengehn“, wobei „poussieren“ ein antiquiertes Wort für „flirten“ ist. Anno dazumal zeigte man sich auf dem Linden-Boulevard gerne im Sonntagskleid und warf einen scheuen Blick auf das andere Geschlecht.

Ein ganz anderes Bild bietet sich dem Flaneur, der heute die 1,5 Kilometer zwischen Brandenburger Tor und Museumsinsel entlangstreift. Die Linden sind stark dezimiert, die Einkehrmöglichkeiten überschaubar, regelmäßig gibt es Vandalismus. Die zahlreichen grellorangenen Mülleimer sind unübersehbar, aber alles andere als elegant. Die Volkswagen-Gruppe feiert in der Ausstellung „Iconic“ in riesigen Schauräumen ihre Fahrzeugikonen VW Bulli und VW Käfer. Microsoft bietet in der „Digital Eatery“ eine Mischung aus Showroom für Produkte, Kantine für die eigenen Mitarbeiter und kostenpflichtigem Co-Working-Space für Externe. Das rekonstruierte Kronprinzenpalais ist für Publikumsverkehr nicht zugänglich. Das Prinzessinnenpalais wurde von Springer-Chef Matthias Döpfner an die Deutsche Bank vermietet, die im „Palais Polulaire“ ihr Prestige erhöht. Als Operncafé wie früher ist es nicht nutzbar, da es außer donnerstags schon um 18 Uhr schließt.

Dabei befand sich einmal Unter den Linden das Zentrum von Berlins Kaffeehauskultur: mondäne Cafés mit glänzenden Kandelabern, Samt und schweren Holzmöbeln, in denen sich die feine Gesellschaft traf. Statt berühmter Kaffeehäuser wie dem „ Bauer “ oder dem Stammhaus des Cafés „Kranzler“ gibt es heute immer mehr Junk-Food-Filialen und Souvenirshops. Einen Großteil der Straße Unter den Linden nehmen unzugängliche Bürogebäude und die stark abgeriegelte Russische Botschaft ein. Nur im „Einstein Unter den Linden “, dem Café, das von Insidern als erweiterte Bundestagskantine bezeichnet wird, blitzt ein wenig vom erhabenen Kaffeehauscharme aus alten Zeiten auf.

„Früher war der Linden-Boulevard Chefsache. Der hatte beim Kaiser oberste Priorität“, weiß Erwin Seitz, der jahrelang zum Thema Linden-Boulevard recherchiert hat. Er weiß auch, wie komplex Entscheidungsprozesse rund um den berühmten Boulevard sind. „Die Politiker haben den Stellenwert des Prachtboulevards nicht erkannt“, findet er. Tatsächlich kann man den Bedeutungsverlust des Boulevards auch daran ablesen, dass an Weihnachten regelmäßig diskutiert wird, ob man den Linden-Boulevard festlich schmücken soll oder nicht. Beim Kurfürstendamm, der fest in den Herzen der Berliner verankert ist, gibt es die Debatte nicht.

„Der Linden-Boulevard müsste als Kulturgut institutionalisiert werden“, so Kulturhistoriker Seitz. „Er müsste wieder Chef- und Herzenssache werden.“ Rund zehn verschiedene Institutionen, darunter die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Land Berlin und der Bezirk Mitte, hätten etwas zu sagen. Eine zentrale Person wie die Kulturstaatsministerin könne die Initiative ergreifen und dem Boulevard zu mehr Glanz verhelfen.

Linden haben nicht mehr genügend Wurzelraum

Doch während Paris zwei Vollzeitbaumpfleger für die Champs-Élysées finanziert, muss das Straßen- und Grünflächenamt Mitte (SGA) die Bäume nebenbei versorgen. Die namensgebenden Bäume von Berlins Flaniermeile werden zwar regelmäßig kontrolliert, Chefsache sind sie aber bislang nicht: Zwar wurden die 54 Bäume, die 2012 im Zuge der U-Bahn- Bauarbeiten gefällt werden mussten, laut Umweltsenat sukzessive durch neue, relativ große Bäume aus der Baumschule ersetzt. 2025 müssen aber nach und nach weitere 86 von 137 Linden ausgetauscht werden, weil sie in schlechtem Zustand sind. Dies liegt nicht nur am Stress durch den Verkehr und zunehmend heiße Sommer, sondern auch daran, dass die Bäume für ihre Wurzeln einen sehr begrenzten Raum zur Verfügung haben. Dabei kann „eine Linde, die optimale Bedingungen vorfindet, bis zu 500 Jahre alt werden“, erklärt Baum -Experte Professor Dr. Hartmut Balder. Der Senat will den Boulevard wieder zum Gartendenkmal machen: Die Umgestaltung samt neuer Begrünung des Mittelstreifens Unter den Linden lässt jedoch noch mindestens bis 2026 auf sich warten.

Wie überall gibt es auch beim Thema Unter den Linden Hoffnung. Die noch im April maroden Sitzbänke sind mittlerweile weitgehend wiederhergestellt: Laut Bezirksamt wurden insgesamt 100 Bänke Unter den Linden ausgetauscht beziehungsweise erneuert. Der Großteil wurde bereits vor der Fußball-Europameisterschaft im Juni ausgetauscht. Die letzten neuen Bänke wurden in dieser Woche nahe der Humboldt-Universität aufgestellt.

Die Berliner Morgenpost im Internet: www.morgenpost.de