Seit 25 Jahren wird die Bundesrepublik von Berlin aus regiert. Wie ein Mann dafür gesorgt hat, dass der Regierungsumzug gelang
Morgenpost vom 31.08.2024 von Isabell Jürgens

Es ist ein einzigartiger Vorgang in der Geschichte der Bundesrepublik: Vor 25 Jahren zogen Regierung und Bundestag mit enormen logistischem Aufwand von Bonn nach Berlin um. Der 1. September 1999 markiert den offiziellen Arbeitsbeginn von Parlament und Regierung in Berlin . Damit die Umzugsaktion überhaupt stattfinden konnte, waren in den Jahren zuvor gewaltige bauliche Kraftanstrengungen nötig. Es galt, Platz zu schaffen für 14 Ministerien , Bundespräsident, Bundesrat, Bundestag und Bundeskanzleramt. Dass dies unter Einhaltung des Kosten- und Zeitplans gelang, grenzt, zumal in der von Baudesastern wie dem BER leidgeprüften Stadt, beinahe an ein Wunder. Vollbracht hat es maßgeblich Manfred Rettig, Referatsleiter für Regierungsbauten und Ministerialdirigent unter insgesamt fünf verschiedenen Bauministern .

Der gebürtige Münsteraner, Jahrgang 1952, der an der TU Berlin Architektur und Städtebau studiert hat, wurde 1991 zum „ Referatsleiter für Regierungsbauten“ im Hause der Bauministerin Irmgard Schwaetzer (FDP). In dem Jahr, in dem sich der Bundestag am 20. Juni 1991 mit der knappen Mehrheit von 338 gegen 320 Stimmen für Berlin als künftigen Sitz von Parlament und Regierung entschied. Der damals 39-Jährige hatte sich zuvor unter anderem als Prüfer großer und teurer Bauvorhaben beim Bundesrechnungshof einen Namen gemacht. Wertvolle Erfahrungen für die kommenden Aufgaben: „Die Kostenexplosion beim Gästehaus der Bundesregierung auf dem Petersberg bei Bonn hat mir vor Augen geführt, was beim Bauen alles schiefgehen kann“, sagt Rettig bei einem Rundgang durch das Regierungsviertel.

Denn ein Bundestagsbeschluss ist das eine. Etwas ganz anderes ist es, ihn auch in die Realität umzusetzen. Zumal der Umzug für viele der Regierungsmitarbeiter keine Herzensangelegenheit war, schließlich hatte man sich am Rhein gemütlich eingerichtet. „Es gab in allen Ministerien zum Teil völlig unproduktive Arbeitskreise , die Protokolle über Protokolle geschrieben haben – einzig mit dem Ziel, den Umzug möglichst zu verzögern“, erinnert sich der heute 72-Jährige. Zunächst mit Erfolg: Der geplante Umzug, der eigentlich schon 1995 stattfinden sollte, geriet ins Stocken.

Erst nach zähen Debatten und knapp drei Jahre nach dem sogenannten Hauptstadtbeschluss schufen die Parlamentarier mit dem Berlin /Bonn-Gesetz die rechtlichen Voraussetzungen für die Verwirklichung des Umzugsbeschlusses nach Berlin . Festgelegt wurde nun, dass der Umzug bis zum Jahr 2000 abgeschlossen sein sollte. Zudem wurde für die Gesamtkosten einschließlich der Ausgleichsmaßnahmen für Bonn die Obergrenze von 20 Milliarden Mark (10,2 Milliarden Euro) festgelegt. Ein wichtiger Schritt: Die Gegner des Berlin -Umzuges hatten zuvor vor allem die Kosten des Umzuges ins Feld geführt und eine Verschiebung ins Jahr 2010 vorgeschlagen.

Unter Bauminister Klaus Töpfer (CDU) wurde Manfred Rettig 1994 zum Stabsstellenleiter für den Regierungsumzug ernannt. Seine erste Maßnahme: Mit Rückendeckung Töpfers schaffte Rettig alle Umzugs-Arbeitskreise in den Ministerien ab. „Wir forderten nur noch ihre Raumprogramme ab, schufen kurze Entscheidungswege und machten klare Vorgaben“, sagt Rettig. Und er engagierte beratende Ingenieurbüros, die die von den Ministerien eingereichten Flächenanforderungen gründlich prüften – und um 100.000 Quadratmeter zusammenstrichen .

„Das entspricht der doppelten Größe des Humboldt Forums“, nennt Rettig eine Größenordnung. Der Flächenvergleich ist nicht zufällig gewählt. Rettig, der nach Abschluss des Regierungsumzugs die Geschäftsführung der Bundesbaugesellschaft Berlin GmbH übernahm, die unter anderem für die Bauten des deutschen Bundestages und das Kanzleramt zuständig war, koordinierte von 2009 bis 2016 als Vorstand der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss Planung und Durchführung des Wiederaufbaus.

„Dadurch, dass wir aus den aufgeblasenen Raumprogrammen die Luft rausgelassen haben, ist es uns sogar gelungen, die Kostenvorgaben um eine Milliarde Mark zu unterschreiten – ich habe mir mein Gehalt also wirklich verdient“, scherzt Rettig. Und der Stolz darauf ist ihm noch heute deutlich anzumerken.

Erbitterter Streit um „historisch kontaminierte Gebäude“

Genauso wie darauf, dass es gelungen ist, viele Ministerien in Altbauten unterzubringen. Denn auch dieser Entscheidung waren zähe Verhandlungen vorausgegangen. Während vor allem auf Berliner Seite darauf gedrängt wurde, im Sinne der Stadtreparatur vorhandene und teils marode Gebäude zu sanieren und zu nutzen, gab es vor allem unter den Bonn-Befürwortern eine klare Präferenz, die zu Einrichtungen des Bundes überwiegend in zusammenhängenden Neubauten unterzubringen. Der Vorwurf, dass damit die Umzugskosten so in die Höhe getrieben werden sollten, dieser damit politisch untragbar werde, sei vermutlich nicht ganz falsch, meint Rettig.

Um sich ein Bild davon zu machen, welche Altbauten in Berlin für die weitere Nutzung überhaupt infrage kamen, fuhren Bauminister Töpfer, der damalige Berliner Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) und Manfred Rettig in der Woche zwischen Weihnachten und dem Jahreswechsel 1994/1995 kreuz und quer durch Berlin . Denn zu diesem Zeitpunkt waren zwar schon der Umbau des Reichstagsgebäudes zum neuen Sitz des Bundestags durch den Londoner Stararchitekten Sir Norman Foster entschieden. Die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach dem Umzug in das umgebaute Reichstagsgebäude, der drei Jahre dauerte und 600 Millionen Mark kostete, fand am 4. Oktober 1999 statt.

Nahezu parallel wurde auch bereits Axel Schultes und Charlotte Franks Spreebogen-Entwurf für die Bauten des Bundestags ausgewählt – das gleiche Duo, das 1995 auch den Wettbewerb für den Neubau des Bundeskanzleramtes ( Bauzeit : 1997–2000; Kosten: 465 Millionen Mark) für sich entscheiden konnte. Noch längst nicht klar war jedoch, wo all die Ministerien unterkommen sollten. Klar war für Rettig nur, dass dafür, schon aus Kostengründen, Bestandsbauten genutzt werden sollten.

Das sah zwar auch Bauminister Töpfer so – aber längst nicht alle Regierungsmitglieder und Bundestagsabgeordneten. „Besonders erbittert wurde gegen den Einzug in sogenannte ,historisch kontaminierte Gebäude‘ gestritten“, sagt Rettig. Als solches galt etwa die einstige Reichsbank der Nationalsozialisten , in die zu DDR-Zeiten das Zentralkomitee der SED einzog. Das neoklassizistische, wuchtige Gebäude mit seinen annähernd 1000 Büroräumen wurde schließlich von 1997 bis 2000 für 350 Millionen Mark saniert und zum Außenministerium umgebaut. Der angrenzende Neubau für das Auswärtige Amt am Werderschen Markt, der eine Bruttogeschossfläche von rund 50.000 Quadratmetern umfasste, wurde in der nach heutigen Maßstäben rekordverdächtigen Bauzeit von zwei Jahren (1997–1999) für 200 Millionen Mark errichtet.

Als „historisch kontaminiert“ galt auch der riesenhafte Komplex an der Wilhelmstraße in Mitte, der als erster Repräsentationsbau des NS-Regimes für das Reichsluftfahrtministerium 1937 fertig wurde. Nach 1945 diente es zunächst der sowjetischen Militäradministration, bevor es nach einigen Zwischennutzungen zum „Haus der Ministerien “ der DDR wurde. Nach 1990 zog die Treuhandanstalt ein, schließlich wurde das Gebäude mit einer Bruttogeschossfläche von 112.000 Quadratmetern für 500 Millionen Mark saniert und für Bundesministerium der Finanzen hergerichtet.

Wirtschaftsministerium als Öko-Vorbild

Für Rettig hat der Um- und Erweiterungsbau der Militärischen Forschungs- und Ausbildungsstätte mit dem Ensemble des historischen Invalidenhauses zwischen Berlin -Spandauer-Schifffahrtskanal, Invalidenstraße und Scharnhorststraße eine ganz besondere Bedeutung. Das Gebäude, das zuletzt als DDR-Regierungskrankenhaus diente, wurde für das Bundesministerium für Wirtschaft hergerichtet und erhielt auf dem Ergänzungsbau eine 180 Meter lange Photovoltaik-Anlage. Die macht das Gebäude in puncto Energieeffizienz „zum innovativsten Bundesbau“, wie der bekennende Solarfan – „unser Einfamilienhaus war das erste Sonnenhaus in Nordrhein-Westfalen“ – anmerkt.

Das von den Kritikern erwartete Umzugs-Chaos jedenfalls blieb aus, Bundestag und Bundesregierung nahmen ihre Arbeit in Berlin auf. Auch, wenn Abgeordnete und ihre Mitarbeiter zunächst in Übergangsquartiere ziehen und einige Ministerien noch mit Baustellenlärm arbeiten mussten, weil doch noch nicht alles fertig war. Oder, wie etwa der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), „der unbedingt der erste in Berlin sein wollte“, wie Rettig sich erinnert, zunächst in ein Provisorium ziehen mussten. Am 23. August 1999 nahm der Kanzler seine Amtsgeschäfte in der neuen, alten Hauptstadt auf. Jedoch, weil am Kanzleramt bis 2001 noch gewerkelt wurde, zunächst im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR .

Innenministerium zog zur Miete ein

Nur für eines der Ministerien wichen Töpfer und sein Stabsleiter Rettig zudem von der sonst so strickten Altbau-Linie ab. 1999 zog das Innenministerium in das angemietete „Bürozentrum am Moabiter Spreebogen“ auf dem Gelände der einstigen Bolle-Meierei . Es hatte sich herausgestellt, dass die Kosten für die Sanierung des bundeseigenen Gebäudes an der Mauerstraße enorm hoch, die Immobile zudem aus Sicherheitsgründen ungeeignet war, begründet Rettig die Ausnahme. Erst 2015 zog das Innenministerium schließlich in einen eigens errichteten Neubau auf dem Moabiter Werder.

Nach 25 Jahren sind wesentliche Teile der Parlaments- und Regierungsbauten inzwischen sichtbar sanierungsbedürftig – wie etwa die angewitterte Fassade am Kanzleramt. „Wir stehen nun kurz vor notwendigen Instandsetzungsmaßnahmen. Auch hier steht erheblicher Kostenbedarf an, der in der Öffentlichkeit oft zu Kritik führt. Allerdings, gibt Rettig zu bedenken, dass dies ein ganz normaler Vorgang ist, wie jeder Häuslebauer wisse: „Nach 25 Jahren sind Technik und Fassade einfach überholungsbedürftig.“

Parlament und Regierung mit wachsendem Platzbedarf

Angesichts der regen Bautätigkeit für Einrichtungen des Bundes in Berlin ist es kaum zu glauben, dass der Umzug von Bundestag und Bundesregierung vor 25 Jahren für abgeschlossen erklärt wurde. Denn sowohl für Bundestag, der vom 5. bis 31. Juli 1999 insgesamt 24 Züge mit 50.000 Kubikmeter Umzugsgut belud, wie es in der Chronik des Bundestags vermerkt ist, als auch für die Bundesregierung wird derzeit heftig an Erweiterungsgebäuden gearbeitet.

Die  Erweiterung des Bundeskanzleramtes  ( Baukosten  2022 geschätzt: 777 Millionen Euro), den (205 Millionen Euro) und den  Bundesrat –Anbau mit Besucherzentrum  (rund 132 Millionen Euro) - drei Projekte, die sich aktuell im Bau befinden. Die Erweiterung des Innenministeriums, das erst 2015 fertiggestellt wurde, wird noch in diesem Jahr Turm mit Büroflächen für bis zu 350 Mitarbeitende und einem Besucherzentrum fertig (112 Millionen Euro).

Zudem sind unter anderem Neubauten für das  Umweltministerium an der Niederkirchnerstraße in Mitte (240 Millionen Euro) und das  Besucherzentrum für das Reichstagsgebäude  (vorläufige Schätzung: mehr als 200 Millionen Euro) in  Planung .

„Vollständiger Umzug“ lässt auf sich warten

Noch heute haben sechs von 14 Ministerien gemäß Hauptstadtbeschluss ihren ersten Dienstsitz in Bonn. Manfred Rettig ist davon überzeugt, dass der vollständige Regierungsumzug nach Berlin in absehbarer Zeit erfolgen wird. „Das ist ein sukzessiver Prozess, der sich nicht aufhalten lassen wird“, sagt Rettig. Nach jeder Legislaturperiode würden Ministerien neu zugeschnitten und verändert, manche gar ganz wegfallen, wie etwa das Bundesministerium für Post und Telekommunikation (1998 aufgelöst). Jede dieser Veränderungen habe bisher die Folge gehabt, dass der Platzbedarf in Berlin wachse. „In zehn Jahren wird der Prozess abgeschlossen sein“, lautet seine Prognose.

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