Am Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster führte Direktor Gedike als Erster die Prüfung von Leistungen ein – als Voraussetzung für den Universitätsbesuch
Berliner-Zeitung vom 02.09.2024 von Maritta Tkalec

Als Karl Marx im August 1835 seine Abiturprüfungen zu bestehen hatte, lagen Anstrengungen vor dem Siebzehnjährigen, die heutige Abiturienten verstören würden. Insgesamt sieben Arbeiten waren abzuliefern, alle in Präsenz und unter Aufsicht zu schreiben. Fünf Stunden Zeit standen für den Deutschaufsatz zur Verfügung (sein Thema „Betrachtungen eines Jünglings bei der Wahl seines Berufs“), ebenso viele für einen Aufsatz in lateinischer Sprache, einen über Religion und für eine schriftliche Mathematikprüfung. Je zwei bis drei Stunden hatte der Prüfling für Übersetzungen ins Lateinische und Französische; ein griechischer Text war ins Deutsche zu übertragen.

Einen Monat später standen die drei Tage währenden mündlichen Prüfungen an. Am 24. September 1835 hielt der spätere Revolutionär und Welterklärer sein Schulabgangszeugnis in der Hand, denn das bedeutete Abitur, abgeleitet vom lateinischen abire, ab- beziehungsweise weggehen. Er hatte einen Notendurchschnitt von 2,4. Es war zugleich das Reifezeugnis, das zum Universitätsstudium berechtigte.

Ein Pfarrerssohn aus der Prignitz

Karl Marx legte die Prüfungen im seit 1815 preußischen Trier ab. Auch dort galt, was seinen Ausgang fast 50 Jahre zuvor in Berlin genommen hatte, als ein begnadeter und leidenschaftlicher Pädagoge 1788 das „Reglement für die Prüfung an den Gelehrten Schulen“ erarbeitete – das Regelwerk für das Abitur, das dann als königliches Edikt in Kraft trat.

Der Prignitzer Pfarrerssohn Friedrich Gedike (1754–1803), „der Vater des Abiturs“, leitete zunächst das Friedrichswerdersche Gymnasium und ab 1793 das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster, dessen Fundamente heute unter einer struppigen Grünfläche rund um die Ruine der 700 Jahre alten, von den Franziskanern erbauten Klosterkirche liegen.

Als Schuldirektor und Mitglied im Oberschulkollegium reformierte Gedike die Bildungsanstalten in Theorie und Praxis Schritt um Schritt: Er führte regelmäßige Prüfungen, standardisierte Zensuren und die Verwendung von Lehr- und Lesebüchern nach Pestalozzi’schem Vorbild ein, revolutionierte das Schreibenlernen wie auch den Latein- und Griechischunterricht.

Er erdachte und verwirklichte das noch heute praktizierte Referendariat für angehende Lehrer, die in einem „Seminarium für gelehrte Schulen“ an seinem Gymnasium von erfahrenen Kollegen in die Pädagogik und den Schulunterricht eingeführt wurden – eine nicht zu überschätzende Professionalisierung des bis dahin nicht besonders geachteten Berufsstandes, für den es kein universitäres Studium gab. Lehrer waren bis in des 18. Jahrhundert zumeist studierte Theologen – aber sie verdienten weniger als Pfarrer. Und so strebten die meisten nach der Erlangung einer Pfarrstelle.

Der in Berlin berühmt gewordene Schulpraktiker, Philosoph und Professor Wilhelm Dilthey (1833–1911) lobte Gedikes Lebenswerk, sein energisches Streben nach Hebung der öffentlichen Schulen und des Lehrerstandes. Gedikes „imperatorische Natur“, womit er dessen Durchsetzungskraft und Allgegenwart im gesellschaftlichen Leben Berlins meinte, habe feste Formen für die Arbeit in der Schule und die Kontrolle ihrer Leistung geschaffen, zum Beispiel die systematische Ordnung der Hausarbeiten und der Schulzensuren.

Das Abiturientenexamen entsprach dem Wunsch nach Leistungssteigerung und dem der Obrigkeit nach mehr Ordnung; „zu viele unreife Jünglinge eilen unwissend zur Universität“ hatte Gedike im Reglement geschrieben. Fortan sollte „ein detailirtes Zeugnis über ihre bei der Prüfung befundene Reife oder Unreife zu Universität“ erbracht werden. Das Lehrerkollegium prüfte im Beisein eines königlichen Kommissars.

Die Historikerin Susanne Knackmuß betreut für die Streitsche Stiftung die „Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster“, also die wertvolle Überlieferung dieses ältesten Berliner Gymnasiums. Sie erinnerte im Juni während einer Veranstaltung zum 450-jährigen Bestehen der Schule daran, dass sich mit Gedikes Abiturreglement nun auch die Söhne Adeliger, die, wie in begüterten Familien üblich, von Hauslehrern erzogen wurden, einer bürgerlich-staatlichen Leistungsprüfung unterziehen mussten.

Das Abiturreglement von Gedike rief so Protest hervor, viele Schülerväter versuchten jahrzehntelang durch Eingaben an die Schulbehörden die Anforderungen abzuschwächen oder sogar die Abiturprüfung zu umgehen. Man wollte, so man gehobenen Standes war und die Mittel hatte, ein Universitätsstudium beginnen – ungeachtet der intellektuellen Fähigkeiten des Studienanfängers.

Doch war fortan die Gewährung eines öffentlichen Stipendiums, etwa für Schulgeld oder Unterkunft, an das Bestehen der Reifeprüfung gekoppelt. Zu denen, die Bildungsfortschritt bremsten, gehört auch der in vielerlei Hinsicht aufgeklärte Monarch Friedrich II. (1712–1786). Er befand, für die Kinder vom Lande reiche „ein bisschen lesen und schreiben“, wüssten sie aber zu viel, „so laufen sie alle in die Städte und wollen Secretairs und so was werden“. Zum Abiturexamen konnte er sich aber, da 1786 gestorben, nicht äußern.

Die von Gedike erarbeitete Prüfungsreform trat 1788 in Kraft. Noch bis 1809 sollte es dauern, bis Wilhelm von Humboldt, zur Zeit des zu Reformen getriebenen Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), schließlich die Universität zu Berlin gründete. Es waren sehr unruhige Jahre der Besatzung Berlins durch Napoleon, der beginnenden großen Preußischen Reformen durch Stein und Hardenberg und die Befreiungskriege. Bis zur Eröffnung der Universität 1810 war das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster die älteste, höchste und wohl angesehenste Bildungsanstalt an der Spree.

Die Einführung der Abiturprüfung blieb nicht die letzte der von diesem humanistischen, nicht konfessionellen Gymnasium ausgehende Reform. So kam – Susanne Knackmuß hat auf der Festveranstaltung auch darauf verwiesen – um 1900 ein Direktor des Grauen Klosters auf die Idee, die reguläre Schulstunde auf 45 Minuten zu begrenzen. Das heute übliche, weil der realen Konzentrationsspanne der Schülerschaft entsprechende Maß. Der schülerfreundliche Nebeneffekt am Grauen Kloster: So waren mehr Stunden am Vormittag möglich und der Nachmittagsunterricht entfiel – wichtig für die Schüler, die nicht nur aus Mitte, sondern traditionell aus allen Teilen der Großstadt kamen.

Das Abitur veränderte sich seit seiner Einführung beständig – mal vom Willen getrieben, durch hohe Anforderungen die Qualität der Abgänger zu sichern, mal von Klagen über die „Überbürdung“ der Schüler zum Absenken der Anforderungen motiviert. 1834, ein Jahr bevor Schüler Karl Marx seine Reife nachzuweisen hatte, war ein „Abiturienten-Prüfungs-Reglement“ in Kraft getreten – nun endlich war das Bestehen des staatlichen Abiturexamens am Gymnasium die Voraussetzung für ein Universitätsstudium geworden.

Hinfort galt für Preußen wie für alle anderen Staaten des Deutschen Bundes das „Zeugnis der wissenschaftlichen Vorbereitung zum Studium“ als zwingende Voraussetzung für die Immatrikulation an einer Universität. Als das Abitur per Bundesgesetz Pflicht wurde, stand neben dem bildungspolitischen Bestreben auch ein polizeiliches. Universitäten galten als Herde revolutionärer Umtriebe, der Obrigkeitsstaat wollte sie besser überwachen.

Deshalb beinhaltete das „Zeugnis der wissenschaftlichen Vorbereitung auf das Studium“ auch ein Urteil über das „sittliche Betragen“. Karl Marx erhielt den Vermerk: „Sein sittliches Aufführen gegen Vorgesetzte und Mitschüler war gut.“ Im Ergebnis erhoben Gedikes Reglement und die damit einhergehenden hohen Bildungsansprüche die Gymnasien zu mächtigen Institutionen: Hier entschied sich, ob sich die Hochschultüren öffneten oder verschlossen blieben.

Die Noten der Abiturienten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sahen deutlich „schlechter“ aus als heutiger Abgangszeugnisse. Ein Durchschnitt mit einer Eins vor dem Komma kam praktisch nicht vor. Die in den „Sammlungen des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster“ aufbewahrten Zeugnisse belegen, dass „befriedigend“ und „genügend“ die gängigsten Bewertungen waren, selbst ein Klassenbester der Prima, der letzten Gymnasialstufe, konnte nur ein einziges mit „sehr gut“ bewertetes Fach vorweisen. Das war dann allerdings die Fachrichtung, die dieser Schüler später zu seinem Beruf machen sollte.

Klagen über die Härten erreichten das preußische Kultusministerium, das 1837 die Lehrer mahnte, „die einzelnen Anforderungen an die Abiturienten so zu ermäßigen, dass jeder Schüler von hinreichenden Anlagen und von gehörigem Fleiße der letzten Prüfung mit Ruhe und ohne ängstliche Vorbereitungsarbeit entgegensehen könnte“. 1856 entfielen in einer entschlackten Prüfungsordnung etliche der mündlichen Prüfungen.

Nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 mehrte sich die Kritik an der Ausrichtung des gymnasialen Unterrichts. Kaiser Wilhelm II. klagte in seiner Eigenschaft als König von Preußen höchstpersönlich auf einer Schulkonferenz 1890, den Gymnasien fehle es „vor allem an der nationalen Basis“. Er wollte mehr Deutschunterricht, denn „wir sollten junge nationale Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer“. Nach 1901 galt für das Preußische Gymnasialabitur: ein deutscher Aufsatz, eine mathematische Arbeit, eine Übersetzung vom Deutschen ins Lateinische, eine Übersetzung aus dem Griechischen.

Das neue Jahrhundert brachte heiße Debatten, ob das humanistische Bildungsideal mit seiner Orientierung an (alten) Sprachen noch zeitgemäß sei, ob die höhere Schule nicht besser „reale Bildungsgüter“, also Naturwissenschaften und neuere Fremdsprachen vermitteln solle. „Realschulen“ hatte es bereits seit 1859 gegeben, aber sie konnten keine Hochschulreife verleihen – bis ihnen Wilhelm II. im Juni 1900 dieses Recht verlieh und mit dem Realgymnasium einen weiteren Zugang zur Universität eröffnete.

Entzug des Namens in der DDR

In der Weimarer Republik häuften sich Schulreformen und Änderungen der Abiturprüfungsordnung. 1937/38 wurde die Abiturstufe in ganz Deutschland auf acht Jahre verkürzt, die Schultypenvielfalt auf eine Oberschule für Jungen beziehungsweise Mädchen und das altsprachliche Gymnasium auf eine Sonderform reduziert. Im Grauen Kloster nahm 1923 eine Studienanstalt für Mädchen ihre Arbeit auf, in der diese Gymnasialunterricht erhielten, der sie zum Abitur in Griechisch und Latein befähigte. Die Nationalsozialisten setzen dieser Mädchenbildung 1941 ein Ende.

Das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster blieb mit Latein- und Griechischunterricht erhalten, bis ihm 1958 der jahrhundertealte Name entzogen wurde; dieser Traditionsbruch führte zur 2. Erweiterten Oberschule (EOS) Berlin -Mitte. Dort galt wie überall in der DDR ein Zentralabitur nach zwölf Jahren, allerdings erhielten die Klassen im C-Zweig weiterhin altsprachlichen Unterricht.

In der Bundesrepublik griff die Oberstufenreform der 1970er-Jahre, im föderalen System führte die Schulhoheit in jedem Bundesland zu anderen Maßstäben. Die schwer überschaubare Vielfalt gilt heute als Problem. Seit 1990 führten die fünf neuen Bundesländer jeweils eigene Systeme ein. Trotz dieser Vielfalt: Die Bildungsresultate sacken im internationalen Vergleich ab, dennoch erreichten die Abiturnotendurchschnitte unbekannten Glanz.

Das Evangelische Gymnasium in Berlin -Schmargendorf, das die Tradition der 450 Jahre alten Bildungsstätte unter dem prestigeträchtigen Namen „zum Grauen Kloster“ seit 1963 fortführt, meldete 2023 stolz einen Abiturnotendurchschnitt von 1,79. Das hätte es unter den strengen Augen des „Vaters des Abiturs“ Gedike nicht gegeben.

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