Kai Wegner enthüllt eine Ausstellung mit radikalen Rückbau-Plänen für zehn Berliner Magistralen – in Köpenick, Mitte und Spandau.
Berliner Zeitung vom 05.09.2024 von Hans Wolfgang Hoffmann
Wer dem CDU-Politiker Kai Wegner wegen des Wahlplakats „ Berlin , lass Dir das Auto nicht verbieten“ ins Rote Rathaus verhalf, muss jetzt sehr stark sein. Am Donnerstag enthüllt der Senatschef höchstselbst kühnste Verkehrswende -Pläne für Berlin : als Schirmherr der Ausstellung „immer modern! Berlin und seine Straßen“. Dort sind zehn prominente Magistralen nicht wiederzuerkennen. Egal ob bei den Altstadtumfahrungen von Köpenick und Spandau , der Mollstraße in Mitte oder den Autobahnanschlüssen von Potsdam und Steglitz : Nirgendwo dominiert mehr motorisierter Individualverkehr. Doch Pfostenreihen und Blumenkübel, welche der Blechlawine bis dato in den Weg gestellt werden, finden sich genauso wenig. Auch die Pollerbü-Fraktion dürfte schlucken.
Untergejubelt bekam Kai Wegner die Schau vom Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin -Brandenburg (AIV), der bereits den Abriss der Autobahnbrücke über den Breitenbachplatz vorgezeichnet hatte. Nun unterzieht der Urbanisten-Klub runde 200 Jahre Straßenbau der kritischen Revision. Eingangs erwähnte Interventionsorte wurden von dem Bauwelt -Redakteur Ulrich Brinkmann ausgewählt, der wie das Branchenblatt in Berlin zu Hause ist. Die einzelnen Projekte ersannen zehn Planungsbüros , die zu den gefragtesten der Stadt zählen.
Sie entwarfen so radikal wie realistisch. Die üblichen Argumente für Straßenrückbau – diverse Mobilitätsbedürfnisse, Unfallopfer, Klima-Schäden oder Folgekosten – ließen sie links liegen. Ihr Zauberwort heißt Aufenthaltsqualität. Vorher-Nachher-Bildpaare verdeutlichen den Gewinn für die Bürgerschaft.
Zentrales Beispiel ist die Mollstraße in Mitte: Parallel zum Alexanderplatz ist eine lauschige Lagune vorgesehen, gespeist durch Regenwasser. Zugunsten dieses Lidos verzichten die Überflieger von GRAFT auf zwei Drittel der bestehenden Fahrspuren. Der Verlust wirkt verschmerzbar, zumal sich Karl-Liebknecht- und Otto-Braun-Straße als Umfahrung anbieten.
Die Stoßrichtung: Mobilitätswende ja, Pollerbü nein
Für Köpenick wollen die Altmeister Hilmer & Sattler den Schlossplatz, das Dahme-Ufer sowie den Kietzer Graben unter dem Pflaster hervorholen – zulasten der Müggelheimer Straße. Da diese Magistrale im Wesentlichen Wald und Kleinhaussiedlungen erreicht, hielten sich auch hier die Einbußen in Grenzen. Von Kürzungen ausgenommen bleibt allein Kai Wegners Heimat: Spandau.
In Spandau hängt aller Kraftverkehr am zehnspurigen Altstädter Ring, der wiederum jeden Fuß- oder Radweg ins Bezirkszentrum zum Hindernisparcours degradiert. Also plant das nicht ganz so bekannte Büro Axthelm Rolvien, die Hauptschlagader komplett zu deckeln: mit einem neuen Grüngürtel auf Höhe der Baumkronen .
Das Patentrezept sieht der AIV in keinem der Vorschläge. Ein solches sollen erst die Diskussionen darum destillieren. Schon jetzt zeichnet sich die Stoßrichtung ab: Mobilitätswende ja, Pollerbü nein.
Dafür spricht jedenfalls der historische Teil der Schau. Er porträtiert mehrheitlich die Vorkämpfer der Bewegung. Darunter sind der Hauptgeschäftsführer der Berliner Industrie- und Handelskammer (deren Betriebe freilich die Kfz-Zulassungen von Rekord zu Rekord treiben), ein Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland sowie eine Aktivistin von Fridays for Future. Wenige Meter weiter missbilligt der AIV am Beispiel der Steglitzer Schlossstraße, was die Verkehrsberuhiger angerichtet haben: Die Blechlawine wurde lediglich verlagert, der Shopping-Boulevard weiter verschandelt, so das Urteil.
Ganz anders besetzt ist das Rahmenprogramm, dem nach Anmeldung jeder gratis beiwohnen kann. Im Kronprinzenpalais lässt der AIV vor allem Amtsträger antreten, die bis dato als Autoverteidiger auffielen. Nun soll sich Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) ausmalen, was von „großen Straßen nach Mobilitäts-, Klima- und Energiewende“ übrigbleibt.
Als konkreter Streitfall wird das Autobahndreieck Funkturm verhandelt, zu dem die Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt am Donnerstagnachmittag den neuesten Stand kundtut. Dort basteln Bund und Land an einem Rückbau, der zu den AIV-Plänen passt, ohne ihr Niveau zu erreichen: Dem sogenannten Stadteingang West droht, das Identitätsstiftende ausgetrieben zu werden. Die Betroffenen gehen auf die Barrikaden.
Leichtfüßiger ins Thema führt der Ort des Festivals: Unter den Linden . Die Ausstellung bespielt den Mittelstreifen, der seit bald drei Dekaden keine stadtentwicklungspolitische Schau mehr gesehen hat. Die locker zwischen Staatsbibliothek und Russischer Botschaft verteilten Stelltafeln ergäben einen erbaulichen Spaziergang – wäre es nicht so staubig. Der Sand, den die Denkmalpflege als Referenz an den ursprünglichen Reitweg ausgestreut hat, versaut die Schuhe. Die Schatten spendenden Linden, die für die U-Bahn gefällt wurden, fehlen über 40 Monate nach Abschluss der Bauarbeiten immer noch. Die frisch formatierten Asphaltpisten haben nach wie vor die Breite der zentralen Ost-West-Verbindung, obwohl am Brandenburger Tor seit Jahrzehnten keine Kraftfahrzeuge durchkommen. Natürlich sind das Schönheitsfehler. Aber um genau die geht es ja.
immer modern – Berlin und seine Straßen. Festival bis 30. November, Unter den Linden . Ausstellung zwischen Staatsbibliothek und Russischer Botschaft auf dem Mittelstreifen. Infos, Programm und Anmeldung: immermodern.de
Transparenzhinweis: Bei diesem AIV-Festival ist die Berliner Zeitung Medienpartner. Ansonsten agieren Verein und Verlag voneinander unabhängig.