Berlin nach der Verkehrswende : Zehn Architektenteams zeigen, was für ein Potenzial unbeachtet am Berliner Straßenrand liegt.
Berliner Morgenpost vom 06.09.2024 von Isabell Jürgens
Kurfürstendamm, Bismarckstraße oder Unter den Linden : Einst war es ein großes Privileg, an einer der großen Hauptstraßen der Stadt zu wohnen, davon zeugen noch heute die prächtigen Häuser an ihren Rändern. Verkehrslärm und schlechte Luft haben dafür gesorgt, dass sich das gründlich geändert hat. Dazu kommt, dass viele der Straßenzüge, die in der Nachkriegszeit für die autogerechte Stadt ausgebaut wurden, von unattraktiven Leerräumen begleitet werden. Doch das muss nicht so bleiben – wie zehn Architektenteams beweisen wollen, die sich zehn besonders unansehnliche und platzverschwenderische Straßenzüge, neun in Berlin und einen in Potsdam, vorgenommen haben.
Eingeladen, sich darüber Gedanken zu machen, welche Chancen die Verkehrswende bietet, wie die Hauptstraßen wieder Lebensadern der Stadt und ihrer Quartiere werden können, hat der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin -Brandenburg e.V. (AIV). Gerade für die großen Straßen zeichnen sich schon heute verkehrliche , häufig digital getriebene Innovationen und Trends ab. E-Mobilität, autonome Verkehre , emissionsfreie Stadtlogistik, gemeinsam genutzte Fahrräder, Autos, Roller und Scooter sowie mehr ÖPNV und Fahrradverkehr gewinnen an Bedeutung. Wenn Lärm- und Luftbelastung sinken, wird auch das Leben an diesen Achsen wieder attraktiver. Ab sofort sind die Vorschläge der Architekten in einer Freiluftausstellung Unter den Linden – und in der Berliner Morgenpost – zu sehen.
Mollstraße in Mitte
Heute: Nach dem Zweiten Weltkrieg galt die aufgelockerte und durchgrünte Stadt als ein städtebauliches Ideal. Plattenbauten waren eine kostengünstige Lösung für die Wohnungsnot. Die großmaßstäbliche Stadträume der 1960er Jahre sahen aber auch weitgreifende Verkehrswege für die autogerechte Stadt vor. Wohnquartiere wie an der Mollstraße sind dadurch stark beeinträchtigt. Durch die zusätzliche Abwesenheit der Berliner Mischung stellt sich nur schwerlich Urbanität ein.
Vision: Die Idee von Graft Architekten: Neue Einschnitte und Aufstockungen der großformatigen Bauten entlang der Mollstraße ermöglichen zahlreiche begrünte Dachterrassen und gemeinschaftliche Nutzungen mit fantastischen Blicken über die Innenstadt Berlins . Öffentliche Nutzungen in Erdgeschossen und zusätzliche Pavillonbauten führen den großstädtischen Raum auf den menschlichen Maßstab zurück. Es entsteht eine neue Symbiose aus verdichteter Innenstadt und Naturraum, der zur Erholung einlädt.
Lietzenburger Straße in Schöneberg
Heute: Durch die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges entstanden Trümmergrundstücke, durch die diagonal die Lietzenburger Straße als „autogerechte Südtangente“ zur Entlastung des Straßenzuges Kurfürstendamm/Tauenzienstraße gelegt wurde. Die bisherigen Grünbereiche liegen in mittiger „Insellage“ und sind durch die breiten Asphaltstraßen von den eigentlichen Gebäuden getrennt.
Vision: Der Entwurf des Büros GMP Architekten von Gerkan, Marg und Partner sieht weniger Fahrspuren, mehr Grün, mehr Wohnbebauung vor. Der Blick auf die zukünftige Kreuzung Lietzenburger Straße/ Ansbacher Straße verdeutlicht die Vorzüge einer menschengerechten Stadtplanung.
Holzmarktstraße in Friedrichshain
Heute: In den Jahren um 1685 suchte Berlin nach neuen Siedlern. Diese benötigten Holz als wichtigsten Rohstoff. Deswegen wurde im Stralauer Viertel am Nordufer der Spree, im heutigen Friedrichshain, ein Holzplatz angelegt, der der Straße den Namen gab. Der Holzplatz gehörte dem Magistrat und diente der Lagerung von Bauholz , sowohl städtischem als auch königlichem. Im 19. Jahrhundert wurde er wieder aufgegeben. Heute ist die Holzmarktstraße mit ihren zwei Fahrstreifen in jeder Richtung eine laute, unattraktive Durchgangsstraße ohne Aufenthaltsqualität und Charakter.
Vision: Ein Blick in den Holzmarktgarten, für den der Architekt Christoph Langhof punktförmige Wohngebäude auf Stützen platziert hat. Die erhöhten Strukturen schaffen Raum für eine ungestörte Flora und Fauna und bieten gleichzeitig Ausblicke auf die Landschaft.
Wolfensteindamm/Schloßstraße in Steglitz
Heute: Heute zeigt sich die Kreuzung der drei Straßen Schloßstraße/Unter den Eichen, A103 und Wolfensteindamm als ein See aus Asphalt, vom Auto beherrscht. Die wenigen verbliebenen historischen Spuren – das Rathaus, der Friedhof, die Kirche – gehen in der überwältigenden Infrastruktur und der Bebauung der 1970er Jahre unter.
Vision: Perspektivischer Blick auf Augenhöhe von der Ecke Schloßstraße/Wolffensteindamm nach Norden: Im Vordergrund die neue Straßenführung und der neue, erhöhte Stadtplatz, der von der neuen Sockelbebauung des Hochhauses „Steglitzer Kreisel“ begrenzt wird. Links der Boulevard Schloßstraße, rechts die „Mündung“ des neuen Parkway, der die A103 ersetzt. Diesen Entwurf lieferten Bernd Albers Architekten mit ENS Architekten und der Fachhochschule Potsdam.
Breitenbachplatz und A104 in Dahlem
Heute: 1980 wurde der Autobahnzubringer A104 eingeweiht. Die quer durch Wilmersdorf geschlagene Hochstraße konnte nie die Erwartungen an den Nutzen erfüllen. Der gelb-weiße Betonriegel der Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße ist weithin sichtbar. Der Wohnkomplex „Schlange“, heute ein Baudenkmal , wurde zum Symbol der autogerechten Stadt. Heute, bald 45 Jahre später, sind die Brücken und Rampen der A104 baufällig und können nicht mehr repariert werden.
Vision: Lebensraum statt Brücken und Rampen: Das Bild zeigt den Blick vom Breitenbachplatz auf den ehemaligen Tunnelmund der „Schlange“. Nach dem Wegfall der Rampenbauwerke entsteht nach dem Vorschlag der Patzschke Planungsgesellschaft mbH Raum für privaten und öffentlichen Wohnungsbau. Zukünftige Verkehrskonzepte können eine der verbliebenen Tunnelröhren nutzen.
Altstädter Ring in Spandau
Heute: Der Altstädter Ring mit seinen sechs Fahr- und vier Busspuren vor dem Rathaus ist ein Knotenpunkt für den Busverkehr, die U7 und den Fern- und Regionalverkehr der Bahn. Die hohe Verkehrsdichte mit über 50.000 Fahrzeugen täglich führt zu Staus, Luftverschmutzung und Lärm. Der Parkraum im Spandauer Zentrum beansprucht mit 110.000 Quadratmetern viel zu viel versiegelte Flächen. Die Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsträger ist unzureichend. Die Wegeverbindungen für Fußgänger sind mangelhaft, die Aufenthaltsqualität ist niedrig.
Vision: Der Entwurf von Axthelm Rolvien Architekten zeigt neue Perspektiven auf. Der neue Stadtpark über dem Altstädter Ring zielt auf eine lebenswerte, nachhaltige Stadt ab, unter Beibehaltung der erforderlichen Flächenpotentiale für zukunftsträchtige Mobilitätskonzepte. Durch verkehrstechnische Umstrukturierung, Förderung nachhaltiger Mobilität und Neubauquartiere für circa 700 Wohnungen wird die Lebensqualität gesteigert.
Möllendorffstraße in Lichtenberg
Heute: Wie überall in Berlin treffen entlang der Möllendorffstraße stadthistorische Schichten aufeinander: Am Loeperplatz befindet sich die alte Pfarrkirche, davor ein kleines Denkmal. Am Roederplatz bleibt im Osten ein nicht klar definierter, dreieckiger Raum. Entlang der überbreiten Straßen, wie an der zwischen den Plätzen gelegenen Straßenbahnhaltestelle Möllendorffstraße/Storkower Straße, stehen Häuser verschiedener Epochen. Überall fehlen öffentlich wirksame Erdgeschossflächen mit attraktiven Angeboten.
Vision: Tchoban Voss Architekten GmbH und St raum a. GmbH haben in ihrem Vorschlag zur Weiterentwicklung der Möllendorfstraße ein neues Wohnhaus eingefügt, Bäume gepflanzt und auch noch einen großzügigen Fahrradweg geschaffen.
Lindenstraße in Kreuzberg
Heute: Im Bereich des Jüdischen Museums von Daniel Liebeskind in Kreuzberg öffnet sich die gegenüberliegende Seite hin zum ehemaligen Blumengroßmarkt. Obwohl sich die jüngsten Neubauten wieder an das Straßenprofil der Lindenstraße anpassen, offenbart sich in der Fotografie von Maximilian Meisse das nach wie vor Bruchstückhafte dieses Straßenraumes.
Vision: Das Team von Kleihues-Architekten schlägt eine elegante, fast über dem Raum schwebende Konstruktion der Lindenkolonnade mit dicht aneinander gereihten, runden Stahlstützen vor. Die Kolonnade öffnet sich im Bereich der W.-Michael-Blumenthal-Akademie gegenüber dem Jüdischen Museum zu einem Platz, der mit frei stehenden, den Raum überschattenden Kiefern im organischen Wechsel zwischen Architektur und Vegetation steht.
Schloßplatz in Köpenick
Heute: Um 1980 wurde eine radikal neue Straßenführung realisiert: die Ost-West geführte 4-spurige Trasse der Müggelheimer Straße überformt den Schlossplatz sowie die rückwärtige Bebauung der Grünstraße. Lediglich ein 25 bis 30 Meter tiefer, öffentlich zugängiger Uferstreifen mit einem kleinen Ausflugslokal und Bootsverleih lässt das Potenzial dieser „abgeschnittenen“ innerstädtischen Situation erahnen.
Vision: Ein Uferpark am Schloss – diese Vision hat das Büro Hilmer Sattler Architekten Ahlers Albrecht entworfen. Es zeigt den Blick über den Kietzgraben und den neuen Uferpark Richtung Schlossinsel und Schlossplatz.
Nuthestraße/ Berliner Straße in Potsdam
Heute: Potsdams Stadteingang an der Humboldtbrücke stellt mit acht Fahrspuren und Straßenbahngleisen einen unattraktiven Straßenraum dar, der zu einem räumlich gefassten „Stadttor“ mit reduzierter Verkehrskapazität umgebaut werden kann. Die Nuthestraße beginnt an der Berliner Straße und verbindet seit Ende der 1970er Jahre die Potsdamer Innenstadt mit den Stadtteilen Zentrum Ost, Babelsberg, Schlaatz, Drewitz und Stern.
Vision: Der Stadteingang wird neu definiert, die historische Bebauung ergänzt sowie räumlich aufgewertet. Aus der autobahnähnlichen Einfahrt in die Stadt Potsdam wird ein repräsentativer Stadteingang für alle, ob zu Fuß, per Fahrrad, ÖPNV oder Pkw. Der Entwurf stammt von Mäckler Architekten, HKK Landschaftsarchitektur und Argus Stadt und Verkehr .
Ausstellung und Diskussionen
Neben der Ausstellung, die bis zum 30. November zu sehen sein wird, sind Interessierte auch zu einer ganzen Reihe von Veranstaltungen eingeladen. Darunter unter anderem am Freitag, 6. September, 14.30 bis 16 Uhr, ins Kronprinzenpalais Unter den Linden 3, zu einem sehr prominent besetzten Symposium zum Thema „Große Straßen für morgen: Berlin nach der Mobilitäts-, Klima- und Energiewende“. Mit dabei: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) und Hendrik Falk (BVG-Chef ) sowie Teams der zehn Architektur- und Ingenieurbüros. Anmeldungen für die Veranstaltung sind für alle unter www.immermodern.de möglich. Die Teilnahme ist kostenfrei.