Die Mühlendammbrücke könnte womöglich einstürzen. Notfalls muss sie gesperrt werden
Berliner Zeitung vom 22.11.2024 von Peter Neumann

Eine tickende Zeitbombe: So dramatisch würden es die Ingenieure des Senats nicht formulieren, wenn man sie nach der Mühlendammbrücke in Mitte fragt. Die Fachleute sind es gewohnt, rational zu argumentieren und sich zurückzuhalten. Doch die Messwerte sehen in diesem Fall nicht gut aus. Sensoren, die das Bauwerk rund um die Uhr überwachen, haben Alarm geschlagen. Auch in der Mühlendammbrücke ist Hennigsdorfer Spannstahl verbaut – der schon in der Elsenbrücke und in der Dresdner Carolabrücke eine unrühmliche Rolle spielte. Wie lange hält das Bauwerk noch?

„Die Sensoren in der Mühlendammbrücke haben bereits mehrmals angeschlagen. Das bedeutet, dass Spanndrähte gerissen sind“, berichtet Arne Huhn. Er leitet bei der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz das Referat Brückenbau. Die Messwerte zeigen, dass es richtig war, das Projekt Mühlendammbrücke in Angriff zu nehmen – auch wenn viele Autofahrer, die zwischen Molken- und Spittelmarkt unterwegs sind, leiden müssen. Weil eines der beiden Teilbauwerke gesperrt und die Straßenkapazität halbiert werden musste, gibt es immer wieder Stau.

Doch statt zu fluchen, sollten die Autofahrer froh sein, dass zumindest der nordwestliche Überbau der 1968 fertiggestellten, einst achtspurigen Spannbetonbrücke noch befahren werden darf. Dass die täglich von bis zu 70.000 Fahrzeugen genutzte Verbindung, die auf östlicher Seite in die Gruner- und im Westen später in die Leipziger Straße mündet, weiterhin zur Verfügung steht. Denn es könnte noch schlimmer kommen, gab Arne Huhn zu bedenken. „Wir können nicht garantieren, dass der noch unter Verkehr befindliche Überbau während der gesamten Bauzeit in Betrieb bleiben und befahren werden kann. Wir hoffen, dass die alte Brücke noch einige Zeit durchhält“, sagt der Ingenieur.

Sensoren schlagen an

Arne Huhn ist sichtlich froh darüber, dass das größte Brückenbauprojekt im Berliner Stadtzentrum begonnen hat und nun seinen Lauf nimmt. Er nennt die nächsten Daten: Für den 4. Dezember wird zum offiziellen Baustart eingeladen. Für den 5. Dezember ist die nächste Informationsveranstaltung für die Anwohner angesetzt. „Anfang Januar 2025 geht es dann richtig los“, kündigt Huhn an. Dann soll ein Unternehmen damit beginnen, den südöstlichen Überbau der Mühlendammbrücke abzubrechen – jener Teil der Spannbetonbrücke, der sich auf der Schleusenseite befindet. Es ist das Teilbauwerk, in dem zuletzt Sensoren angeschlagen haben, so Huhn. So gesehen ist es richtig, dass es als Erstes abgerissen wird. „Zu den Spannstahlrissen kam es bisher in dem Überbau, der bereits für Fahrzeuge gesperrt worden ist und an dem die Rückbauarbeiten kurzfristig beginnen werden“, erklärt der Brückenbau-Chef. „Die Schäden zeigen, wie dringlich und wie notwendig das Projekt ist.“ Bereits 2018 waren bei Untersuchungen Schäden festgestellt worden. 2021 wurde ein 4,60 Meter langer Riss im Beton entdeckt. 2022 wurden die 96 Sensoren für das Dauermonitoring installiert. Sie schlugen auch im nordwestlichen Überbau an – „Hits“ heißt das in der Fachsprache.

Jetzt gewinnt das Projekt, das zuletzt auf rund 80 Millionen Euro veranschlagt worden ist, an Tempo. „Dabei stand die Mühlendammbrücke nicht auf unserer Liste“, so Arne Huhn. Vom Alter her war sie noch nicht an der Reihe, der Senat hätte noch 20, 30 Jahre warten können. „Wenn 2018 nicht in der Elsenbrücke plötzlich ein 28 Meter langer Riss geklafft hätte, wäre die Mühlendammbrücke nicht in unserem Fokus gewesen“, sagt er. „Als das passierte, war uns klar, dass wir uns auch mit ihr befassen müssen. Denn sie ist die zweite Brücke dieses Bautyps in Berlin . Es handelt sich um ein spezielles Spannbetonbauwerk, das im Spannblockverfahren hergestellt wurde.“

Was bedeutet das? „In Stahlhohlkästen befinden sich jeweils 448 Spanndrähte aus Hennigsdorfer Stahl, die der Brücke Stabilität verleihen sollten.“ Die Drähte wurden gespannt und mit einem speziellen Mörtel verpresst. Doch das Stabilitätsversprechen wurde im Fall der Elsenbrücke nicht gehalten. „Die genaue Ursache für das Eintreten des 28 Meter langen Risses konnte nicht genau ermittelt werden“, sagt Huhn. Doch so viel lasse sich sagen: Als die Elsenbrücke gebaut wurde, kam Spannstahl zum Einsatz, den die Fachleute heute als „spannungskorrosionsrissgefährdet“ bezeichnen.

Wie jetzt bestätigt wurde, ist auch in der Carolabrücke über die Elbe in Dresden Spannstahl aus dem VEB Stahl- und Walzwerk Wilhelm Florin Hennigsdorf verbaut worden. Am 11. September 2024 gegen 3 Uhr stürzte das südliche Hauptfeld des westlichen Überbaus C auf hundert Metern ein. Dieser Teil der 1971 freigegebenen Brücke sollte vom nächsten Jahr an saniert werden. „Bei der Ermittlung der Schadensursachen kristallisiert sich heraus, dass der in den 1960er- bis 1980er-Jahren verbaute sogenannte Hennigsdorfer Spannstahl eine wesentliche Schadensursache für den Einsturz sein könnte“, teilte Sachsens Verkehrsminister Martin Dulig (SPD) in dieser Woche mit.

Während in Dresden noch geplant wird, sind an der Spreequerung im Osten von Berlin die Bauleute bereits seit mehr als vier Jahren am Werk. Der erste Überbau, der nach dem Abriss entsteht, soll in der zweiten Jahreshälfte 2025 dem Verkehr übergeben werden. Arne Huhn: „Die alte Elsenbrücke ist weg, nun müssen wir noch die Mühlendammbrücke überstehen. Dann wird es diesen Bautyp in Berlin nicht mehr geben.“

Erstes Teilbauwerk bis 2027

Was passiert nun über der Spree in Mitte? Arne Huhn berichtet: „Zunächst wird im Fluss ein Schotterbett aufgeschüttet. Dort werden rund 40 Stützen aufgestellt, auf denen der Überbau in einem Stück abgesetzt wird. Er muss über die gesamte Länge gestützt werden. Anschließend kann das Abrissunternehmen damit beginnen, den Überbau in große Stücke zu schneiden. Sie werden über Schuten auf dem Wasserweg in Richtung Osten abtransportiert. An einer Trennstation am Ufer werden die Brückenteile weiter zerkleinert, und die Bestandteile werden sortenrein getrennt.“

Der eigentliche Abriss werde zehn Wochen dauern. Bis Mitte 2025 soll der östliche Überbau verschwunden sein. Auch der Neubau, den Cobe (Kopenhagen) und Arup ( Berlin ) entworfen haben, kommt nun in Sicht. „Der erste Überbau soll Anfang 2027 fertig sein, der zweite 2029“, bestätigt der Brückenbau-Experte den Zeitplan. „Mit der neuen Mühlendammbrücke entsteht in Mitte die erste verkehrswendetaugliche Brücke von Berlin . In einem mitgedachten Dreiphasen-Modell kann sie den Ansprüchen und Bedürfnissen angepasst werden.“ Radfahrer sollen geschützte Radfahrstreifen, Fußgänger breite Gehwege bekommen, mit Sitzbänken und Pflanzbereichen. „Die Brücke wird auf ganzer Länge begrünt“, so Huhn. Wann aber Straßenbahnen über die Brücke rollen werden, ist nun wieder unklar: Die jüngsten Sparbeschlüsse der Koalition sehen vor, die Planung für den M4-Weiterbau zu stoppen.

„Wir hoffen, dass die Brücke bis 2027 durchhält, denn zu diesem Zeitpunkt soll das erste neue Teilbauwerk fertig sein“, sagt der Brückenbau-Chef des Senats. „Doch garantieren können wir es nicht.“ Sicherheit habe auf alle Fälle höchste Priorität.

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