Lange haben Denkmalschutz und Erzbistum um die Umgestaltung der Sankt-Hedwigs-Kathedrale gestritten. Jetzt ist einer der beeindruckendsten Räume in der Hauptstadt entstanden – nicht nur für die Gemeinde. Im Katholizismus markiert der Umbau einen Paradigmenwechsel
Weltplus vom 26.11.2024 von Matthias Kamann

Die Eltern hatten eine Langspielplatte von 1963 mit Chören und Chorälen der Matthäus-Passion, gesungen vom „Chor der St.-Hedwigs-Kathedrale Berlin “. Das unkundige Kind in der westdeutschen Provinz – noch dazu evangelisch – konnte sich unter dem Chor und der Kathedrale zwar nichts vorstellen, hatte aber vor dem Namen großen Respekt. Dieser Respekt hat sich, obwohl die historisch bewusste Aufführungspraxis Alter Musik über jene Aufnahme längst hinweggegangen ist, bis heute erhalten – und erhält nun neue Nahrung, nachdem die Kathedrale selbst in historischem Bewusstsein umgestaltet worden ist.

Denn nach gut sechsjähriger Bauzeit ist der bedeutendste katholische Sakralbau in der deutschen Hauptstadt wieder seinem historischen Vorbild angenähert worden, dem Pantheon in Rom aus dem zweiten Jahrhundert. In mattweißem Schimmer, nicht mehr bläulich und bräunlich wie zuvor, erhebt sich jetzt die Halbkugel der Kuppel, die im Durchmesser zehn Meter kleiner als das römische Vorbild und damit etwas intimer ist, über dem ebenfalls mattweißen und kreisrunden Boden, in dessen Zentrum jetzt der Altar als umgekehrte Halbkugel ruht.

Genau über dem Altar öffnet sich die Kuppel – anders als im originalen Pantheon hält eine Glasscheibe den Regen ab – zum Himmel. Entstanden ist so in der auch von außen sanierten Kirche ein Innenraum, der im keineswegs immer glücklich restaurierten Preußen-Ensemble entlang des Boulevards Unter den Linden seinesgleichen sucht und neben Kirchenmitgliedern auch viele Schaulustige anziehen sollte. Weil der Grundidee der Entstehungszeit vertraut wurde.

Diese Idee sah so aus, dass Mitte des 18. Jahrhunderts der Preußenkönig Friedrich der Große in der für ihn typischen Mischung aus Antiken-Verehrung und religiöser Toleranz-Utopie in Berlin tatsächlich eine verkleinerte Kopie des Pantheons errichten wollte, das allen Göttern und mithin allen Religionen gewidmet sein sollte. Von dieser universalistischen Idee indes ließ er sich alsbald abbringen und kam zu dem Schluss, dass der historisierende Rundbau zwar gebaut, aber zu einer katholischen Kirche werden sollte. Denn aus dem neu eroberten Schlesien kamen damals viele Katholiken nach Berlin . Ihnen zuliebe wurde die von 1747 bis 1773 errichtete Kirche der schlesischen Schutzpatronin Hedwig geweiht.

Weil aber damals die Kuppel-Öffnung noch offen war, es also hereinregnete, und der Bau auch sonst nicht richtig fertig wurde, blieb die Kathedrale ein Provisorium. Dieses wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts in neobarocker Weise fertiggestellt und dann im 20. Jahrhundert zu Beginn der Dreißigerjahre im Innern expressionistisch umgebaut. 1943 brannte die Kathedrale nach einem Bombenangriff bis auf die Grundmauern nieder.

Der Boden der Kirche wurde aufgerissen

Und dann kam es beim Wiederaufbau zwischen 1952 und 1963 zu einem Eingriff, der die Grundstruktur des Kreises unter der Halbkugel völlig zerstörte – aber damals als Meilenstein in architektonischer wie politischer Hinsicht empfunden wurde. Denn es war ein westdeutscher Architekt, Hans Schwippert (1899–1973), nach dessen Plänen der Boden der nun in Ost- Berlin befindlichen Kirche aufgerissen wurde.

Wie in einem Akt des Dekonstruktivismus avant la lettre wurde in den Boden ein riesiges Loch geschlagen, in dem eine breite Treppe zur Unterkirche mit den Gräbern der Bischöfe und der katholischen Märtyrer aus der Zeit des Nationalsozialismus führte. Zumal zum Grab des selig gesprochenen Bernhard Lichtenberg (1875–1943), der sich als Dompropst an Sankt Hedwig für verfolgte Juden eingesetzt hatte und auf dem Transport ins Konzentrationslager Dachau an den Folgen seiner vorherigen Haft verstarb.

Die Öffnung zur Unterkirche machte die Kathedrale zwar zu einem eindrucksvollen Gedenkort, zerstörte aber im Erdgeschoss die Einheit der Gemeinde. Denn die musste sich nun auf zwei Quasi-Balkons links und rechts des Lochs verteilen. Und die Blicke zog Schwipperts Konstruktion nicht mehr nach oben zur Kuppel, sondern nach unten.

Dieses Loch hat das Erzbistum in seiner Berliner Hauptkirche gegen viele Widerstände von Verteidigern der Nachkriegsmoderne wieder schließen lassen. Dadurch ist die Unterkirche zu einer echten Krypta geworden: Aus dem Vorraum führt eine Treppe in den dunkel gehaltenen, ebenfalls kreisrunden Raum hinunter, in dessen Seitenkapellen sich unter anderem die genannten Gräber befinden und in dessen Zentrum ein Taufbecken steht – während oben im Hauptraum genau über den Taufbecken der Altar steht, wiederum genau unter der Öffnung der Kuppel.

Diese Zentrierung des Altars inmitten der kreisrund angeordneten Bänke für die Gemeinde gemäß den Plänen des Architekturbüros Sichau & Walter aus Fulda ist für katholische Verhältnisse geradezu eine Sensation. Denn erstmals in einer Kathedrale dieser Bedeutung ist der Altar als Ort der eucharistischen Handlung nicht mehr von der Gemeinde abgegrenzt, nicht einmal durch eine Erhöhung auf einem Podest. Vielmehr befindet er sich in ihrer Mitte auf ihrer Ebene.

Die Geistlichen müssen noch lernen

Der Raum bringe daher die „Communio“ zum Ausdruck, die Gemeinschaft, sagte Erzbischof Heiner Koch bei einer Vorbesichtigung am Donnerstag, „wenn Sie so wollen auch der Synodalität“. Letzteres ist das zentrale Stichwort aktueller katholischer Reformdiskussionen, wie sie etwa während der zurückliegenden „Weltsynode“ der Kirche geführt wurden. Eingesetzt hat diese Papst Franziskus. Koch sagte, dass die Neugestaltung des Raums „sicherlich den Äußerungen des Heiligen Vaters“ entspreche.

Indes sagte Koch auch, dass er und die anderen Geistlichen „erst noch lernen“ müssten, wie sie die Rituale der Eucharistie, all die Handbewegungen und Schritte, unter den neuen räumlichen Bedingungen dieser Altarsituation inmitten der Gemeinde zu vollführen hätten. Er empfinde es „bisher als große Chance“ zu lernen, „wie ich mich da im Raum bewegen muss“.

Gottesdienstlich herausfordernd ist der weite runde Raum mit nur wenigen Skulpturen auch wegen des starken Nachhalls. Da wird die Lautsprecheranlage einiges zu leisten haben. Indes sei so ein Hall auch ein Charakteristikum eines sakralen Raums, sagte Architekt Peter Sichau: „Man muss hören können, dass man sich in einer Kirche befindet.“

Die Umgestaltung, die als größtes deutsches Kirchenbauprojekt der vergangenen Jahre und wohl auch der näheren Zukunft zu gelten hat, ließ sich das kleine und vergleichsweise arme Erzbistum mit rund 360.000 Kirchenmitgliedern rund 40 Millionen Euro kosten. Diese Summe ist nach Angaben der Zuständigen auch gedeckt. Aber unklar ist, wie sehr noch die Kosten für das benachbarte und nicht fertige Bernhard-Lichtenberg-Haus für diverse kirchliche Zwecke in unmittelbarer Nachbarschaft der Kathedrale steigen. Hierbei könnten dem Erzbistum noch erhebliche Finanzprobleme entstehen.

Ob die katholische Kirche mit diesem Bau nun auch mehr Ausstrahlungskraft gewinnt, wird sich zeigen müssen. An sich solle sich diese Kirche als „Kathedrale des Lichts“ auch „an Menschen richten, die nicht im christlichen Glauben verwurzelt sind“, sagte Koch. Und Architekt Sichau sprach davon, dass dieser Raum „den Menschen zur Gotteserfahrung verhelfen solle“. Die Entstehung dieser Erfahrung indes dürfte in Zeiten der Säkularisierung nicht nur von einem Kirchenraum abhängen.

Erst noch erweisen muss sich überhaupt, inwieweit das am Wochenende wiedereröffnete Gebäude die Fußgänger anzieht. Die Kathedrale liegt am Ende des Bebelplatzes schrägt hinter der Staatsoper und fällt dort nicht unmittelbar ins Auge. Zwar sollen die Glastüren unter dem Giebel Offenheit demonstrieren. Aber ob die Menschen sich davon auch einladen lassen, wird erst das Frühjahr zeigen.

Derzeit nämlich wird die Sicht auf die Kathedrale von den Zelten des „Weihnachtszaubers“ verstellt, eines hochpreisigen Weihnachtsmarkts, der eigentlich auf dem Gendarmenmarkt angesiedelt ist, aber wegen einer dortigen Großbaustelle auf den Bebelplatz verlegt wurde. In der Regel strömen die Menschen von solchen Weihnachtsmärkten nicht in eine Kirche. Aber vielleicht sorgt der neue spektakuläre Innenraum der Sankt-Hedwigs-Kathedrale für eine Ausnahme.

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