Straßen im Wandel: Eine Freiluftausstellung des Architekten- und Ingenieurvereins Unter den Linden zeigt, was sich ändern sollte
Berliner Morgenpost vom 28.11.2024 von Isabell Jürgens
Berlin „Straßen und der öffentliche Raum unserer Stadt dienen nicht allein der Fortbewegung, sie sind vor allem auch Orte des Miteinanders und der Begegnung, des städtischen Lebens“, schreibt Berlins Stadtentwicklungssenator Christian Gaebler (SPD) im Vorwort zum Ausstellungsband „Immer modern – Berlin und seine Straßen“, den der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (AIV) anlässlich seines 200-jährigen Bestehens herausgegeben hat.
Dass dies eher ein frommer Wunsch denn eine Beschreibung der Realität ist, verdeutlichen unter anderem die 49 Menschen, die in diesem Jahr bereits bei Unfällen auf Berlins Straßen getötet wurden. Die meisten von ihnen waren Fußgänger. Doch das muss nicht so bleiben, sagt Tobias Nöfer, Vorsitzender des AIV, und fordert eine radikale Verkehrswende .
Der Architekt und Stadtplaner ist mit dem E-Bike von seinem Büro in Wilmersdorf zur Ausstellung „Immer modern! Berlin und seine Straßen“ gekommen, die noch bis einschließlich Sonntag auf dem Mittelstreifen der Allee Unter den Linden zu sehen ist. Unterdessen stehen die Autos an der Kreuzung Unter den Linden Ecke Glinkastraße im Stau – diesmal, weil gerade die Ampelanlage ausgefallen ist. Auch ohne solche zeitlich befristeten Ereignisse ist der motorisierte Verkehr in den vergangenen Jahren deutlich unter Druck geraten. Teils, weil einige Straßen insbesondere für den Fahrradverkehr umgebaut wurden – vor allem aber, weil Berlins Bevölkerung enorm gewachsen ist – und weiter wächst.
Gerade daraus resultiere die „Notwendigkeit, zu einem besseren Städtebau zu finden“, sagt Nöfer. „Wenn die Landschaft und das Grün in und um Berlin vor der Zersiedelung geschützt werden sollen, kommen wir um eine Nachverdichtung im Innenbereich nicht herum“, so der 57-Jährige. Allein von 2016 bis 2021 wurden in Berlin 550 Hektar Fläche neu versiegelt – ein Areal, doppelt so groß wie der Große Tiergarten. Das ergibt rund 110 Hektar pro Jahr.
Um das Wachstum zu organisieren und die Stadt dennoch lebenswert zu gestalten, müsse „der Verkehr neu organisiert werden“. Das beträfe vor allem den Rückbau überdimensionierter Straßen, wie etwa der Leipziger Straße, fordert Nöfer. Und verweist auf andere Städte, die bereits deutlich weiter seien. In der Ausstellung sind solche Beispiele zu sehen. In Rotterdam, Kassel oder Kopenhagen etwa wurden Durchgangsstraßen durch die kompaktere Gestaltung des Verkehrsraums wieder zum Boulevard, auf dem Fußgänger so viel Platz finden, dass dort inzwischen sogar Stadtfeste stattfinden können.
Hackescher Markt und Hausvogteiplatz sind Vorbilder
Auch in Berlin , so Nöfer weiter, fänden sich Beispiele, die zeigten, wie sich durch die Verkehrsberuhigung attraktiver Stadtraum zurückgewinnen lasse: etwa am Hackeschen Markt oder am Hausvogteiplatz in Mitte, vormals durch den Verkehr zerrissene Plätze. „Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass wir dem Auto immer mehr Platz einräumen müssen, damit der Verkehrsinfarkt ausbleibt“, sagt Nöfer. Die Sorge, dass Berlin im Chaos versinke, wenn Straßen so umorganisiert werden, dass dem motorisierten Verkehr weniger Platz zur Verfügung stehe, sei unbegründet, so der Architekt.
Als Beleg für seine These nennt er den gesperrten Tunnel unter der Schlangenbader Straße: „Ich wohne in Wilmersdorf, arbeite auch im Ortsteil und kenne die Situation aus eigener Anschauung“, sagt Nöfer. Zwar sei die Mecklenburgische Straße nun mehr belastet, dafür aber die Schildhornstraße deutlich entlastet. Sein Fazit: Der gesamte Autobahnstummel der A104 könne mitsamt seiner Brückenbauwerke abgerissen und als normal dimensionierte Stadtstraße zu ebener Erde weitergeführt werden. So entstünde auch Platz für 6500 neue Wohnungen, wie der Vorschlag des Architekturbüros Patzschke zeigt, der ebenfalls in der Ausstellung zu sehen ist. Zudem würde so die auf 40 Millionen Euro geschätzte Tunnelsanierung entbehrlich.
In der Ausstellung haben weitere namhafte Planerteams Visionen für besonderes platzverschwenderische Straßen entwickelt – etwa das Büro Graft für die Mollstraße im östlichen oder gmp für die Lietzenburger Straße im westlichen Berliner Zentrum. Die teils utopisch anmutenden Vorschläge sollen vor allem eines: dazu anregen, über die Zukunft unserer Straßen nachzudenken.
Denn die Ausstellung, die begleitet wurde von zahlreichen Veranstaltungen und Führungen, soll nach dem Willen des AIV nicht das Ende der Debatte sein, sondern vielmehr der Auftakt für eine gesellschaftlich breit geführte Diskussion. Denn wie sich die Zielkonflikte zwischen allen Verkehrsteilnehmern – Fußgängern, Radfahrern, ÖPNV und motorisiertem Individualverkehr – so lösen lassen, dass dennoch der Raum, der Letzteren eingeräumt wird, deutlich platzsparender dimensioniert wird, geht alle an.
Man wolle, so Nöfer weiter, vor allem auch mit Berlins Politikern unabhängig von der Parteizugehörigkeit weiter im Gespräch bleiben. Bereits im Januar hat der AIV dazu ein Treffen mit der Verkehrs - und der Stadtentwicklungsverwaltung auf Senats- und Bezirksebene organisiert. Dabei sollen noch einmal die Visionen für Berlins Straßen vorgestellt und Impulse weitergegeben werden.
Die Ausstellung „Immer modern!“ ist noch bis 30. November auf dem Mittelstreifen Unter den Linden zu sehen. Der zweibändige Katalog dazu ist im Wasmuth Verlag erschienen und kostet 40 Euro.