Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.12.2024 von Simone Strauß

Dazu verdammt, immer zu werden, niemals zu sein! Das schrieb der Kunstkritiker Karl Scheffler und hat damit jenen rastlosen Aktivismus ausgedrückt, der lange Zeit mit dieser Stadt verbunden wurde. Die ständige Unzufriedenheit mit dem Gegebenen. Das Spiel auf Risiko. Die Sucht nach Wandel. Dass diese Verdammnis in Wirklichkeit ein Versprechen war, ist Berlins große Erzählung. Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Hier ist immer etwas im Entstehen. Hier gab es immer wieder Unstetigkeit. Umstürze. Revolutionen.

Und jetzt? Was wird hier gerade? Was steht? Was fällt? Es ist ruhig geworden um Berlin . Ja, heute Nacht werden hier wieder die Raketen in die Luft f liegen, und die Böllerknallerei wird die hauptstädtischen Haustiere in Panik versetzen. Werden Blaulichter die Straßen erhellen und schlaf lose Eltern ihren Kleinkindern mit letzter Kraft die Ohren zuhalten. Aber morgen kehrt dann wieder jene starre Stille zurück, die so gar nicht zu Gemüt und Geschichte dieser Stadt passen will.

Woher kommt das? Diese lähmende Atmosphäre aus Zurückhaltung und Bedauern. Das fängt bei den verschiedenen Schließungen an, die in Berlin gerade an der Tagesordnung sind. Das betrifft Kaufhäuser und Kinos, Probebühnen und Aquarien. Das Kaufhaus Galeries Lafayette an der Friedrichstraße ist nur das prominenteste Opfer einer Stadtentwicklung , die den Verkehr in der City beruhigen wollte, ihr dabei aber jedes Leben nahm. Sea Life, Einstein-Villa, Pergamonmuseum, Galeria Kaufhof – wo man auch hinschaut im gegenwärtigen Berlin : Immer scheinen gerade irgendwelche Türen geschlossen zu werden.

Dazu kommt ein seltsamer Trend zur Musealisierung. Der Versuch, das Berliner Vitalitätsgefühl hinter Schutzglas zu konservieren. Das Berghain hat gerade seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert, und aus diesem Anlass wurde wieder viel von den langen Warteschlangen und den verschiedenen Sprachen berichtet, die man dort hört. Von Tanz und Trance selbst war nicht mehr so viel die Rede. Dafür schauen ja alle „Babylon Berlin “ – und denken: So wild war das Berliner Nachtleben also mal. Museumsgefühl, auch hier. Im C/O Berlin , wo der Ingwertee inzwischen vier Euro kostet, gibt es eine Fotoausstellung mit Bildern aus der gerade wiedervereinigten Stadt und Führungen, die zu einer Zeitreise ins Berlin der Neunzigerjahre einladen. Die Fotos sind grandios (und deswegen auch in dieser Feuilleton-Ausgabe abgedruckt), aber die Frage, was das Berlin von heute für bedeutende Bilder hinterlassen wird, stellt sich umso bestimmter.

Denn so richtig fallen einem keine ein. Das sogenannte Wahrzeichen, das Brandenburger Tor, ist heute reine Kulisse. Meist wird es in bunten Farben angeleuchtet oder von einer riesigen Leinwand verdeckt, hier finden Fußballübertragungen oder Silvesterpartys statt. Fast schon eine ikonographische Ausnahme, dass hier hin und wieder noch demons - triert wird. Nach signifikanten Plätzen braucht man in Berlin heute ebenfalls nicht zu suchen. Weder der Potsdamer noch der Alexander-, auch nicht beispielsweise der Rosenthaler oder Adenauerplatz laden zum Flanieren oder Verweilen ein. Im Gegenteil bestärken diese zugig gesichtslosen Straßenkreuzungen das, was sich am ehesten als aktuelles Berlingefühl ausmachen lässt: „schnell weiter“.

Oft hat man nämlich im Moment den Eindruck, die Menschen in Berlin würden vor allem darüber reden, wo sie als Nächstes hinfahren. Ganz trennen von der Idee, dass sie in Berlin wohnen, wollen sie sich noch nicht. Aber die Überzeugung, nur in dieser Stadt lohne es sich zu leben, hat an Kraft verloren. Deshalb reden die wohlhabenden Berliner vor allem darüber, wo es morgen hingeht: zum Haus ins Brandenburger Umland natürlich oder zum Meditationsretreat nach Portugal. Wenn der Flughafen nicht so schlecht angebunden wäre, dann gäbe es auch noch ganz andere Ziele.

Berlin beim Übergang von 2024 auf 2025 – das ist eine Stadt, die aufgehört hat, nach sich zu suchen. Die zufrieden geworden ist mit dem, was sie hat. Zufrieden mit dem Umstand, dass ihr Wert von außen festgelegt wird. Von den Touristen, die nach wie vor kommen, um ihre Vorstellungen von wilder Freiheit auf die luxussanierten Altbauhäuser und harten Club-Türen zu projizieren. Die Stadt selbst hat nur noch wenig Innenleben. Wenig Herkunftsvertrauen. Die Fassaden mit den Einschusslöchern aus dem Zweiten Weltkrieg sind längst verschwunden. Die spektakuläre Geschichte Berlins droht hinter Stadtrundfahrten und ritualisierten Kranzniederlegungen zum Gedenken an die Mauertoten zu verschwinden.

Man lebt in Berlin wie mit einer in die Jahre gekommenen Showgröße. Die großen Auftritte, Skandale und Exzesse sind vorbei, jetzt kommen die Einladungen zum Frühstücksfernsehen, um aufs Leben zurückzuschauen. Und mit brüchiger Stimme noch einmal den größten Hit anzustimmen: wahlweise: „ Berlin , dein Gesicht hat Sommersprossen“, „Looking for Freedom“ oder „Dickes B“.

Herbert Grönemeyer, einer jener in die Jahre gekommenen Wahlberliner mit Traumbereitschaft, hat kürzlich noch einmal einen Berlin -Song veröffentlicht, der trotz aller angeschraubten Sentimentalität ganz gut einfängt, wie die Stadt sich gerade anfühlt – nicht nur im Winter. Sehr nördlich nämlich. Sehr kalt. Das Lied handelt von der Suche nach anderen Menschen in Berlin , nach Austausch und gemeinsamen Vorhaben, nicht nur nach Seitenblicken und kollektiven Projekt - anträgen. Es ist ein Lied über eine Stadt, der das Licht und die Wärme fehlen, in der sich Menschen mit pochendem Herzen inzwischen ziemlich allein fühlen. Der wiederkehrende Refrain lautet: „Vielleicht sind wir morgen längst nicht mehr / im kalten Berlin “. Der Abschied von dieser Stadt scheint inzwischen einen ähnlich heroischen Reiz auszustrahlen, wie er dem Zuzug einmal zugeschrieben wurde.

Und jetzt? So kann man doch nicht aus dem Jahr gehen. Mit Abschiedsgedanken und Dekadenzgefühl. Wo bleibt die Sehnsucht? Dieses so Urberliner Gefühl, dass noch etwas kommen muss. Ein Feld sich öffnet. Eine Mauer fällt. Nur welche? Was die größten Hürden dieser Stadt sind, ist allseits bekannt: die hohen Mietpreise, die verwahrloste Verwaltung, das durch Migration überforderte Sozial- und Schulsystem. Die ersten Hauptstadtblätter rufen schon nach der mileischen „Kettensäge“.

Aber bei allen Ordnungsrufen, allem Erinnerungsschmerz – eines ist Berlin nach wie vor: eine Stadt, die Bedeutung herstellen kann. Marken bildet. Selbst wenn es nur ein Craft-Bier ist, das hier gebraut wird: Sofort liegt Aufregung in der Luft, und der Merchandise-Käfig wirkt wie ein Darkroom: „BRLO – wie Berlin : am besten offen“.

Wahrscheinlich hat diese Stadt nur eine Chance: zurück in die Zukunft. Sie muss nicht nur ihre Verwaltung reformieren, sondern auch ihre Geschichte nach vorne treiben. Darf nicht zu einem starren Standort werden, sondern muss als vitaler Raum wieder Selbstbewusstsein gewinnen. Ja, das hat etwas mit Mieten zu tun, mit Kulturförderung, aber es geht auch um Mentalität. Darum, die Küche wieder ein wenig länger aufzulassen. Nicht nur metaphorisch: Wenn schon keine Kino-Nachtvorstellungen mehr, dann zumindest Senfeier bis Mitternacht. Neugierig sein. Hoffnungen hegen. Und Erwartungen. Denn es könnte ja doch noch jemand kommen, der etwas wirklich Wichtiges zu sagen hat. Der etwas Neues will. Mit dem zusammen das kalt gewordene Berlin wieder warm werden, mit dem es weiterträumen könnte.

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