Arm, aber sexy? Längst vorbei 
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.12.2024 von Jürgen Kaube

Große Klappe, kleiner Gewinn: Deutschland hat in Berlin seinen Regierungssitz, aber keine Hauptstadt. Warum Berlin es in den 35 Jahren nach dem Mauerfall nicht einmal vermocht hat, wirtschaftlich eigenständig zu werden.

Deutschland hat keine Hauptstadt. Es hat einen Regierungssitz, den haben alle Nationalstaaten. Im Geographieunterricht wird gern gefragt, welches die Hauptstadt der Schweiz, Australiens oder Kanadas sei, weil es dort, wie in den Vereinigten Staaten, nicht die größte Stadt ist. Der deutsche Fall liegt umgekehrt. Berlin ist die bevölkerungsreichste Stadt des Landes, aber das macht sie nicht zur wichtigsten. In Frankreich, Großbritannien, Polen, Tschechien, Österreich oder Spanien wäre die Frage nach der wichtigsten Stadt leicht zu beantworten. Eine Metropole, die das Zentrum des Landes bildet und auf das ganze Land ausstrahlt, hat Deutschland nicht. In Deutschland kommt dem Regierungssitz keinerlei wirtschaftliche, rechtliche, religiöse oder kulturelle Bedeutung zu, die ihm einen Vorrang gegenüber anderen Städten einräumte.

In Berlin wird regiert, wird das Einkommen ausgegeben, das andernorts erzielt wird, in Berlin sitzen entsprechend die Lobbyisten aller Arten, aber keine Firmen von einigem Einfluss. Alle haben dort Filialen und Vertretungen, so gut wie niemand hat dort seinen Standort. Namen wie AEG-Telefunken, Osram, Schering sind längst Geschichte. Der größte Arbeitgeber in Berlin ist inzwischen die Bahn, der zweitgrößte das Krankenhaus Charité. Das Deutschlandradio sitzt in Köln, die Europäische Zentralbank in Frankfurt, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, das Bundesarbeitsgericht in Erfurt, von den hohen Karlsruher Gerichten ganz zu schweigen. Religiös liegen große Teile Berlins im Osten, im nahen wie im atheistischen. Zur Kultur kommen wir gleich.

225.000 Personen beschäftigt der öffentliche Dienst

Die historischen Gründe dafür, die in der Entstehung Deutschlands als eines föderalen Gebildes liegen, sind offenkundig. Jüngeren Datums ist die Geschichte Westberlins als einer exzeptionellen Stadt, die vierzig Jahre lang inmitten eines anderen Landes, der DDR, lag und durch militärischen Schutz sowie durch Subventionen aus Westdeutschland aufrechterhalten wurde. In den 35 Jahren nach dem Mauerfall hat die Stadt es auch als neue Kapitale nicht vermocht, wirtschaftlich eigenständig zu werden. 225.000 Personen beschäftigt der öffentliche Dienst in Berlin. 80.000 sind es im etwas mehr als halb so großen Hamburg, in München 43.000, in Frankfurt etwa 13.000. Selbst wenn man die Beschäftigten der Bundesexekutive in den Ministerien abzieht, bleibt also noch ein erheblicher Berliner Überhang.

Arm, aber sexy sei Berlin, sagte sein Regierender Bürgermeister im Jahr 2003. Sexy – und nicht etwa frei oder wild. Die tatsächlich Armen, die nicht dem Arbeitskreis sozialdemokratischer Nachtclubbesucher angehören, konnten sich dadurch brüskiert fühlen. Kurz nach dem Spruch lag die Arbeitslosenquote bei 19 Prozent. Mit heute knapp zehn Prozent Arbeitslosen gehört die Stadt immer noch zu den schweren Fällen in Deutschland. Inzwischen sind die Mieten stark angestiegen, die Zeit, in der Künstler von Lofts träumen konnten, ist vorbei. Die Innenstadtquartiere sind „aufgewertet“, der Charme von nicht instand gesetzten Zonen ist verblasst, weil es vielerorts keine „Zwischennutzung“ mehr gibt, sondern alles oder jedenfalls das meiste für die Endnutzung durch den normalen Immobilienmarkt hergerichtet ist. War Berlin vielleicht nur deshalb attraktiv, weil es ärmlich war?

Eine Generation Berlin lässt sich kaum blicken

Das lässt eine Reihe von anderen enttäuschten Erwartungen hervortreten, die seit 1989 mit Berlin verbunden sind. Zu einer Hinwendung Deutschlands zum europäischen und zum eigenen Osten hat die Stadt trotz ihrer geographischen Lage wenig beigetragen. Die Hauptstadtentscheidung wurde unter dem Aspekt getroffen, im wiedervereinigten Land könne der Regierungssitz nur in Berlin liegen. Der Satz Wolfgang Schäubles, die Entscheidung für Berlin sei auch eine Entscheidung für die Überwindung der Teilung Europas, wirkt heute ramponiert. Die historische Luft, die Berlin nach der Wende zehn Jahre lang aufblies, ist entwichen. Wer erinnert sich noch an das Projekt, die „Berliner Zeitung“ zur „Washington Post“ der neuen Hauptstadt zu machen? Wer könnte in der gebauten Verzagtheit des Potsdamer Platzes noch die „größte Baustelle Europas“ erkennen? Man stelle sich vor, was Paris aus einem solchen Areal gemacht hätte. Den Flughafen Tegel, der angeblich zu klein war, gab man für einen neuen auf, der fünf Jahre danach kaum mehr Fluggäste hat.

Eine „Generation Berlin“, die der Soziologe Heinz Bude im Jahr 2001 als Ensemble aus „unternehmerischen Einzelnen“ vorhersagte, die sich weniger für die Geschichte als für die Gegenwart interessieren, ließ sich in Berlin kaum blicken. Die viel beschworene „Start up“-Szene, die man sich später als Ausdruck dieser Generation vorstellen mochte, ist nicht in Gang gekommen. Dafür gibt es in Berlin immer mehr Museen und, noch besser, Museumsdebatten: Schlossfassade, Humboldtforum, Einheitswippe, Pergamon-Schließung. Eine intellektuelle Hauptstadt hingegen existiert trotz mancher Verlagsansiedlung mangels Intellektueller nicht. Hier und da ein Debattierklub. Die Universitäten sind über Nacht exzellent geworden, ihre öffentlichkeitswirksamen Forscher lassen sich an zwei Händen abzählen, jung sind die meisten von ihnen nicht. Den Buchhandlungen und Kinos haben die mehr als 200.000 Studenten wenig genützt. Wenn es stimmt, dass das „postmigrantische“ Theater im Ballhaus Naunynstraße jährlich nur fünftausend Karten absetzt, gilt das auch für manche Einrichtung der sogenannten freien Szene. Zu kultureller Verdichtung, die eine nicht zu stark streuende Freizeitverwendung voraussetzt, kommt es auch in Berlin schon lange nicht mehr. Die von Kürzungen ereilten Künstler werben derzeit für sich, sie seien doch ein Tourismusfaktor.
Das alles ist nicht schlimm, sondern nachgerade erwartbar. Eine Stadt kann die kulturellen Umstände, in denen sie lebt, nur schwer von sich aus ändern. Die Qualitäten des Berliner stadtpolitischen Personals sprechen seit Jahrzehnten nicht dafür. Doch Berlin kann seinerseits nur schwer mit seinen Enttäuschungen leben, der Stadt hängt ihre Vergangenheit nach. In Charlottenburg haben sie einen Platz nach Walter Benjamin getauft, als wollten sie darüber einen Witz machen. Der Autor des „Passagenwerks“ über den Pariser Stadtumbau nach 1850 und der „Berliner Kindheit um 1900“ muss jetzt mit seinem Namen für eine gesichtslose Kolonnadenzone mit Zweitwohnungseigentümern in balkonlosen Häusern herhalten, die auch 1938 hätten so gebaut werden können.

Große Klappe und was dahinter? Berlin hatte aus seiner besonderen Situation nach 1945 schon immer beschwingende Phrasen gezogen. Um 1968 konnte von Revolution in einer Stadt auch deshalb so ausgreifend geträumt werden, weil es dort gar kein Proletariat gab. Studenten, Mi­granten und Künstler profitierten mehr als ein halbes Jahrhundert lang von den mauernahen Quartieren. Der Mauerfall 1989 führte recht bald zur Fortsetzung Westdeutschlands auf vergrößertem Staats- und Stadtgebiet, nicht zuletzt weil auch eine Mehrheit im Osten das wollte.

In Kombination mit der eigentümlichen Risikoaversion der Deutschen erfolgte so der Gang in die selbst verschuldete Tristesse. Wäre Berlin kein Regierungssitz, man könnte in der Stadt inzwischen nur noch die bevölkerungsreiche Version einer jeden Metropole erkennen.

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