Die Zeiten sind schlecht – das sind gute Zeiten für Erneuerung. Der Senat bringt das Landesorganisationsgesetz auf den Weg. Eine lange Geschichte des Scheiterns.
Berliner Zeitung vom 26.12.2024

Sollte es dem schwarz-roten Senat jetzt tatsächlich gelingen, die Verwaltungsblockade zu lösen, die Berlin seit der Wiedervereinigung der Stadt plagt und desaströs wirkt? Jetzt endlich, kurz vor Weihnachten, brachte der Senat ein Landesorganisationsgesetz auf den Weg, eines der großen Projekte, wie der Regierende Bürgermeister Kai Wegner sagte. Ein zentrales Vorhaben aller Stadtregierungen seit der Jahrtausendwende: Im März 2000 hatte der CDU/SPD-Senat unter Eberhard Diepgen eine unabhängige Experten-Kommission unter Rupert Scholz (CDU) eingesetzt, die Empfehlungen zur „strukturelle Veränderungen der Berliner Verwaltung“ vorlegen sollte. Das tat sie – ohne praktische Folgen.

Als Behörden-Pingpong wird das Übel viel zu niedlich beschrieben, aber immerhin erfasst der Begriff den Kern des Übels: die in der zweigliedrigen Struktur – hier Senat, dort Bezirke – begründete, organisierte Unzuständigkeit. Praktisch formuliert: Einer schiebt dem anderen Zuständigkeiten und Verantwortungen zu. So kommt, was jeder im Alltag erlebt: kleinste Maßnahmen wie das Aufmalen eines Zebrastreifens vor einer Schule dauern Jahre, selbst simple Bürgerdienste können sich als Hindernisparcours erweisen. Die Anläufe zur Neuordnung scheiterten, weil einerseits keiner Kompetenzen (also Macht) abgeben will, andererseits scheute man die Übernahme von Verantwortung.

Nicht genug Profi-Personal

Hinzu kommt die Tatsache, dass das duale System auf Bezirksebene ein Professionalitätsproblem hat: Die Bezirke sind jeder für sich Großstädte, in Pankow, dem mit 425.000 Einwohnern bevölkerungsreichsten, wohnen doppelt so viele Menschen wie zum Beispiel in Erfurt mit 216.000. Sie werden von Freizeitparlamenten (BVV) regiert und von schwächlichen Verwaltungen, über deren Ausstattung und Kompetenz Bewohner immer wieder klagen.

In der Erfurter Kommunalverwaltung sind zum Beispiel 3000 Mitarbeiter beschäftigt, im Bezirksamt Pankow arbeiten 2295 Beamte und Tarifbeschäftigte (ohne Parkraumbewirtschaftung und Jobcenter, 193 Stellen sind vakant). Das entspricht einem Verhältnis von einem Mitarbeiter für 185 Einwohner. In Erfurt kommt nach dieser groben Rechnung ein Mitarbeiter auf 72 Bürgerinnen und Bürger. Selbst wenn die Zahlen statistisch nicht deckungsgleich sind – hier offenbaren sich Dimensionen.

2018 folgte die nächste Expertenkommission zur „Verbesserung der gesamtstädtischen Verwaltungssteuerung“, beauftragt vom SPD-geführten Müller-Senat. Sie erarbeitete Vorschläge zu einer großen Verwaltungsreform. Geleitet hatte sie Heinrich Alt, langjähriger Vorstand der Arbeitsagentur. Seine Schwerpunkte fasste er seinerzeit in einem Interview mit der Berliner Zeitung zusammen, die Stichworte: gutes, motiviertes Personal, Strukturveränderung ist nicht so wichtig („Niemand hat die Absicht, die Bezirke abzuschaffen.“), klare Zielvorgaben, klare Kompetenzzuweisungen in Hunderten Fällen.

Das ähnelt dem jetzt vorgelegten Verwaltungsorganisationsgesetz stark. „Martina Klement, (CSU)“ die von Kai Wegner aus Bayern zu Hilfe gerufene Verwaltungsjuristin, hat als Staatssekretärin in der Senatskanzlei einen Aufgabenkatalog mit 4000 Punkten zusammengestellt, darunter mehrere Hundert Aufgaben der öffentlichen Verwaltung, für die sich bisher keine Behörde – weder auf Landes- noch auf Bezirksebene – zuständig sieht.

Heinrich Alt beklagte seinerzeit die „weit überdurchschnittlich hohe Krankheitsquote“ in der Berliner Verwaltung. Auch dieses Problem besteht fort, 2023 waren die Mitarbeiter an durchschnittlich 39 Kalendertagen krankgemeldet, der deutsche Durchschnitt lag bei 15,1 Arbeitstagen. Und jetzt scheidet altershalber die Babyboomergeneration aus – die Situation spitzt sich zu, ohne dass konsequentes Gegensteuern durch Digitalisierung erkennbar wäre.

2018 beschrieben die Experten ein (bis heute bestehendes) Fehlkonstrukt, nämlich „herrschafts- und weisungsfreie Räume“, die es nicht geben dürfe. Deshalb sei es geboten, den Bezirksbürgermeistern die Richtlinienkompetenz gegenüber den „bislang ziemlich selbstherrlichen Stadträten“ zu sichern. Schließlich gelte die Politik, die „Abgeordnetenhaus und Senat beschlossen haben, egal wie die Mehrheiten sind und ob sie einem gefällt oder nicht“, für ganz Berlin . Es dürfe auf der Ebene der Bezirke „keine Mikropolitik geben, die der Gesamtpolitik widerspricht oder diese konterkariert“.

Generell sollte nach Auffassung der Alt-Kommission gelten: „Je bürgernäher die Aufgaben erledigt werden, desto besser. Alles, was auf Bezirksebene erledigt werden kann, soll auf Bezirksebene erledigt werden, aber nach rechtsverbindlichen berlinweiten Standards. Der Senat ist zuständig für die Themen mit gesamtstädtischer Bedeutung. Aber es muss Zielvereinbarungen mit den Bezirken geben.“

Demnach sollten sich die Bezirke verpflichten, jedes Bürgeranliegen innerhalb von 14 Tagen abschließend zu bearbeiten, inklusive ständiger Kontrolle, ob das auch geschieht. Und: Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter müsse wissen, was erwartet wird. Häufig sei nicht klar, was das eigene Arbeitspensum, der eigene Beitrag zur Erfüllung der Zielvereinbarung sei.

Die historische Wurzel Groß- Berlin -Gesetz

Versprochen war damals eine rasche Umsetzung der Vorschläge. Doch noch immer gibt es online kaum Termine binnen der nächsten drei Monate und Kai Wegner (CDU) relativierte im September das Ziel: Die Menschen hingen gar nicht so sehr an den 14 Tagen, sie wollten einfach einen Termin haben. Nun hofft die Stadt, der neue Anlauf werde gelingen.

Die Chancen für eine Reform stehen heute besser, denn die Lage ist ernst – und leider lehrt die Geschichte, dass große Veränderungen vor allem in schlechten Zeiten gelingen, wenn der Druck ins Unerträgliche wächst. So verhielt es sich auch vor fast 105 Jahren, als mit der Gründung von Groß- Berlin die heutige Doppelstruktur Stadt/ Bezirke entstand. Es war ein schwer errungener Kompromiss – und zunächst ein großer Fortschritt.

Er gelang 1920, zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch des Kaiserreiches unter Ausnutzung der instabilen politischen Verhältnisse der jungen Weimarer Republik. Zu danken ist die Großtat vor allem dem parteilosen Oberbürgermeister Adolf Wermuth (1855-1927). Hartnäckig und frei von eigenen Parteiinteressen gelang ihm der Coup gegen viele Widerstände.

Die Siedlungsagglomeration rund um das alte Kern- Berlin war seit 1880 in schwindelerregendem Tempo von etwa einer Million auf vier Millionen Einwohner nur 30 Jahre später gewachsen. Die Dehnungsschmerzen machten eine andere Organisationsform als das lose Nebeneinander von sechs selbstständigen Städten, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirken unumgänglich.

1912 gelang es immerhin, die Berlin umgebenden Gemeinwesen im sogenannten Zweckverband zusammenzufassen. Der umfasste ein Territorium mit 4,2 Millionen Einwohnern. Vor allem reiche Städte wie Schöneberg oder Charlottenburg blockierten das Zusammenwachsen. Sie konkurrierten untereinander, anstatt zu kooperieren.

So legte jede Gemeinde eigene Infrastruktursysteme an: Es gab 40 Gas-, 60 Kanalisations- und 17 Wasserbetriebe im Großraum, dazu 15 Elektrizitätsversorger – die kommunale Anarchie verhinderte Maßnahmen, die die Vernunft geboten hätte. Nach Oberbürgermeister Wermuths Einschätzung wirkten sich die Zustände am schlimmsten im Verkehrs -, Wohnungs- und Bebauungswesen aus. Ein Rohr durch das Gebiet einer anderen Gemeinde zu leiten oder ein neues Verkehrsmittel , das Menschen durch „fremdes Terrain“ transportieren sollte, bereitete unendliche Probleme.

Die Furcht der Kleinen vor Groß- Berlin

Maximalen Ärger lösten die Beauftragten des Zweckverbandes aus, die ausschwärmten, um weitere Landgüter zu erwerben – große Flächen für Rieselfelder zur Aufnahme der städtischen Abwässer aus der zwischen 1873 und 1909 errichteten Kanalisation. Was Maurermeister (und Stadtrat) Emil Müller im April bei der Grundsteinlegung für das imposante Spandauer Rathaus sagte, wurde zur Parole des Widerstands: „Es schütze uns des Kaisers Hand vor Groß- Berlin und Zweckverband.“

Die Kompetenzen des Verbandes beschränkten sich auf Verkehr , Bebauung und Erholungsflächen. Wermuth erklärte sich das schleppende Arbeiten im Zweckverband auch aus den Nachteilen für Kern- Berlin heraus: „Der Versuch, Städte, Landgemeinden und Gutsbezirke lose aneinanderzukitten, anstatt ein einheitliches Ganzes aus der Gesamtheit der Bevölkerung wachsen zu lassen, führte notwendig auch dazu, Alt- Berlin im Stimmrechte zurückzusetzen.“ Sobald die Vororte und Kreise sich zusammentaten, geriete Alt- Berlin „in eine fast hilflose Minderheit“.

Den Rest verhinderte die preußische Regierung, getrieben von der ewigen Angst vor dem „roten Berlin “ mit seiner sozialdemokratischen Mehrheit. Man stelle sich vor, das färbe auf das hübsch konservative Umland ab!

Im Ersten Weltkrieg stürzte Berlin in Hunger, die Spanische Grippe grassierte, Soldaten kehrten gar nicht oderals Krüppel heim. Wermuth schrieb über das Jahr 1918: „Jetzt gehts ums Ganze.“ Er hatte zwischen Abdankung des Kaisers, drohender bolschewistischer Revolution, Auftritten glühender Arbeiter- und Soldatenräte und kaisertreuen Militäreinheiten die Ordnung zu wahren.

Plötzlich empfanden seine bisherigen politischen Gegner den Parteilosen als hilfreichen Partner. Unter Wermuths Führung und dem Druck der Verhältnisse wurde das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin “ ausgehandelt und durchgesetzt. Bei der Abstimmung in der Verfassunggebenden Preußischen Landesversammlung am 27. April 1920 wurde es mit 164 (vor allem von SPD und USPD) gegen 148 Stimmen bei fünf Enthaltungen beschlossen und trat am 1. Oktober in Kraft.

Mit einem Schlag wuchs die Stadt auf ihr Dreizehnfaches und wurde, hinsichtlich ihrer Fläche nach Los Angeles zur zweitgrößten Stadt der Welt. Mit nun 3,8 Millionen Einwohnern erreichte sie Platz drei nach London und New York.

Fröhliches Eigenleben der Bezirke

Um die Sorgen der Städte und Gemeinden zu besänftigen, ersannen die Väter Groß- Berlins die duale Struktur: Neben die zentralen Instanzen Magistrat (seit 1950 in den West-Sektoren Senat genannt) und Stadtverordnetenversammlung traten 20 Verwaltungsbezirke: Dann könne „innerhalb der doch auch geschichtlich gewachsenen kleineren Bezirke ein fröhliches Eigenleben weiterblühen“, kommentierte Oberbürgermeister Wermuth. In NS- und Mauerjahren blühten stattdessen verschiedene Arten von Zentralismus.

Die Kompetenzen zwischen Bezirken und Magistrat verteilte das Groß- Berlin -Gesetz von 1920 vage. Das ist die Crux bis heute. Immerhin löste es die alten Fesseln: Vor allem die Zusammenfassung von Gas-, Wasser-, Elektrizitätsversorgung sowie die Schaffung eines gemeinsamen Verkehrsbetriebes in städtischer Hand schufen Verhältnisse, die man bis heute als nachhaltig, weitsichtig und vernünftig preisen darf. Jetzt aber ist allerhöchste Zeit für mehr Funktionalität.

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