Das Neue Palais in Potsdam ist der prunkvollste Schauplatz der preußischen Geschichte. Und sie klingt bis heute in den Marmorsälen und Fürstenwohnungen nach, manchmal triumphal, manchmal gespenstisch.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.01.2025 von Andreas Schlüter

Hören sie das?“, fragt Ina Penny. Dann legt sie mahnend ihren Zeigefinger auf den Mund und macht ein leises „psst!“ dazu. Ihre Gruppe, bestehend aus sieben fröstelnden Menschen, steht nun mucksmäuschenstill im riesigen Marmorsaal des Neuen Palais in Potsdam und lauscht. Es ist ein stockfinsterer Abend, der Wind pfeift um die Schlossmauern, ein Regenschauer trommelt an die Fensterscheiben. „Jetzt! Hören Sie?“, flüstert noch einmal Frau Penny. Und tatsächlich, von ganz hoch oben, dort, wo die acht Kronleuchter des Marmorsaals unter der freskengeschmückten Decke zu schweben scheinen, ist silberhelles Klirren zu hören. „Das ist der Lüsterbehang. Kristall. Zauberhaft, nicht war?“ Der Wind, der durch die Zimmerfluchten, Säle, Korridore und Treppenhäuser des friderizianischen Schlosses weht und die filigranen Glas-und Kristallbehänge der Kronleuchter zum Schwingen und zarten Klingen bringt, ist viel freundlicher als das Wetter jenseits der Fensterscheiben. Aber kalt ist es trotzdem. „Das Neue Palais war ja ursprünglich ein reines Sommerschloss“, sagt Frau Penny fast etwas entschuldigend, „erst unter Wilhelm II. ist hier eine Zentralheizung eingebaut worden.“

Die Mitarbeiterin der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten führt an diesem Abend unter dem Motto „Luxus, Lüster, Leuchter“ zu den wichtigsten der etwa siebzig erhaltenen Kronleuchter im Neuen Palais. Es ist ein ganz besonders atmosphärisches, ja bezwingendes Erlebnis, zu dieser späten Stunde und außerhalb der regulären Öffnungszeiten mit Frau Penny durch die Raumfluchten des späten Rokokos zu spazieren. Das Parkett knarrt, die Lüster zittern, und in der Fleischfarbenen Kammer, einem der prachtvollsten Räume der sogenannten Königswohnung, werfen die Schneeballvasen aus Meißener Porzellan ihre Schatten gegen die hellrosa gefassten Wände. Wenn man sich jetzt noch flackerndes Kerzenlicht und knisterndes Kaminfeuer hinzuimaginierte, wäre die Illusion eines Rokoko-Raumwunders perfekt. Denn eleganter, verspielter und luxuriöser, und all das auf höchstem kunsthandwerklichen Niveau, ist Innenarchitektur kaum denkbar. Künstler wie der italienische Stuckateur und Bildhauer Giovanni Battista Pedrozzi, der später als Modelleur für die Königliche Porzellan-Manufaktur in Berlin köstliche Vogelfiguren entwarf, verwandelten die königlichen Wohnräume in Prunkstücke des friderizianischen Rokokos, mit denen sich bestenfalls noch die Raumfluchten im benachbarten Schloss Sanssouci messen können.

Der Baubeginn des Neuen Palais fällt in das preußische Schicksalsjahr 1763, in dem mit dem Frieden von Hubertusburg der Siebenjährige Krieg zu Ende ging und das siegreiche Preußen endgültig zu einer europäischen Großmacht wurde. Am 10. Mai dieses glorreichen Jahres inspizierte Friedrich II. persönlich das Baugrundstück für sein neues Schloss, fünf Tage später begannen schon die Arbeiten am Fundament. „Fanfaronade“ sollte es der König später nennen, was man mit Prahlerei übersetzen könnte, und das war volle Absicht: Das Neue Palais sollte eine architektonische Machtdemonstration sein und den europäischen Nachbarn zeigen, zu welchen Extravaganzen das siegreiche Preußen selbst nach den Anstrengungen eines jahrelangen Krieges noch fähig war. Kosten spielten keine Rolle, fast drei Millionen Taler ließ sich der König sein neues Zuhause kosten, zehnmal mehr, als er für das kleinere Schloss Sanssouci ausgab. Das zeigt, dass Friedrich, anders als das Bild des Querflöte spielenden, ausschließlich französisch parlierenden Philosophenkönigs es vermuten lässt, noch skrupelloser im Verfolgen der eigenen Ziele war als sein Vater Friedrich Wilhelm I., der als „Soldatenkönig“ in die Geschichte einging.

Steht man am Abend mit Frau Penny frierend im Marmorsaal des Neuen Palais, muss man dem Bauherren zugestehen, dass sein Plan voll und ganz aufgegangen ist. Allein der 600 Quadratmeter große Fußboden, gleich einem Teppich aus farbigem Marmor kunstvoll zusammengefügt, ist ein ornamentales Rokoko-Wunderwerk. Auch die Deckenhöhe von zwölf Metern und die vier monumentalen Wandgemälde mit Szenen der griechischen Mythologie schwelgen in royaler Pracht, während die kostbare Wandvertäfelung aus roséfarbenem Kauffunger Marmor und grünem Serpentinit auch ein politisches Fanal ist. Denn das Material stammte aus Steinbrüchen im eben eroberten Schlesien.

Die Eile des Königs, seinem frisch erworbenen Kriegsruhm mit dem Bau des Neuen Palais ein Denkmal zu setzen, hatte allerdings Folgen, die bis in die Gegenwart nachwirken. Schon 1774 erforderten Feuchtigkeitsschäden in der Holzbalkendecke des Marmorsaals, die das enorme Gewicht von 90 Tonnen zu tragen hat, erste Sanierungsarbeiten. Im Jahr 2008 war die Deckenkonstruktion dann abermals einsturzgefährdet. Das hätte im schlechtesten Fall auch die Zerstörung des darunterliegenden Grottensaals bedeutet, dessen Wänden und Decken 23.000 Mineralien, Halbedelsteine, Korallen und Fossilien eine ganz und gar phantastische Anmutung geben. Jahrelange Sicherungsund Restaurierungsarbeiten konnten dann die baulichen Schlampereien aus der Entstehungszeit des Neuen Palais beheben, das im Juli 1768 nach nur fünfjähriger Bauzeit festlich eröffnet wurde.

Schlendert man heute durch die privaten Wohnräume Friedrichs des Großen oder die Raumfluchten der Fürstenwohnungen, die üppig ausgestatteten Gästeappartements, ist man schnell entzückt von der heiteren Extravaganz der Räumlichkeiten – auch wenn diese manchmal Schauplatz dramatischer Geschehnisse waren. Im kleinen Schlafzimmer der unteren Fürstenwohnung zum Beispiel starb 1888 mit Friedrich III. der „99-Tage-Kaiser“, Vater Wilhelms II. und eine der tragischsten Gestalten des Hauses Hohenzollern. Das lange Siechtum des an Kehlkopfkrebs erkrankten Thronfolgers, der dann, schon vom Tod gezeichnet, für kurze Zeit den preußischen Königs- und deutschen Kaiserthron bestieg, erschütterte damals die Öffentlichkeit.

Im Sommer 1859 hatte das preußische Kronprinzenpaar Friedrich Wilhelm und Victoria ein Elfzimmerappartement im ersten Stock des nördlichen Seitenflügels bezogen. Zuvor waren im Neuen Palais umfangreiche Renovierungs- und Modernisierungsarbeiten ausgeführt worden. Die Gattin des späteren Kurzzeitkaisers, eine Tochter der britischen Queen, brachte aus ihrer Heimat Annehmlichkeiten wie das „Water-Closet“ mit, auch eine erste „Wasserheizung“ und diverse Badezimmer wurden eingebaut. Diese Eingriffe in die historische Bausubstanz des 18. Jahrhunderts geschahen mit äußerster Behutsamkeit, denn die Gestalt Friedrichs des Großen war schon damals ein preußischer Mythos, und seine sakrosankt gewordenen privaten Wohnräume wurden mit unbedingtem Respekt behandelt. Wilhelm II., der älteste Sohn des Kronprinzenpaares, und seine Frau Auguste Viktoria machten als Kaiserpaar das Neue Palais schließlich zu ihrem Hauptwohnsitz.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das Neue Palais lebhafter Schauplatz einer repräsentativen Hofhaltung mit der kaiserlichen Großfamilie als Mittelpunkt. Hunderte von Bediensteten waren damit beschäftigt, die fürstliche Familie zu versorgen. Im Blauen Scherbenzimmer, einem der delikatesten Räume des Neuen Palais, residierte mit Miss Hobbes die englische Nanny Wilhelms II. Und die legendären Hofdamen der Kaiserin Auguste Viktoria, die Damen von Keller, von Brockdorff und von Gersdorff – bei Hofe auch als „Halleluja-Tanten“ bekannt –, wurden viele Jahre später wohl in der zweiten Etage des Neuen Palais untergebracht, in der sich neben der sogenannten Gobelinwohnung weitere komfortable Gästeappartements befanden.

Orte wie das Potsdamer Prunkschloss Friedrichs des Großen scheinen oft in eine Vergangenheit entrückt zu sein, die viel zu weit entfernt ist, um noch zu uns sprechen zu können. In den endlos langen Zimmerfluchten und verwaisten Festsälen mit all ihrem manchmal wie mumifiziert wirkenden Prunk, der sich noch dazu in blindfleckigen Spiegeln hundertfach vervielfältigt, fällt es nicht leicht, sich das höfische Leben von einst vorzustellen. Im Neuen Palais ist die Vergangenheit allerdings bisweilen auf irritierende Weise präsent. Die Tatsache, dass die friderizianischen Räume fast durchgehend bis zum Revolutionsjahr 1918 bewohnt waren und überall Zeugnisse der Modernisierungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Lichtschalter, Steckdosen, Klingelleisten oder der Fahrstuhl der Kaiserin aus dem Jahr 1903 sichtbar geblieben sind, verleiht diesen eigentlich aus der Zeit gefallenen Rokokointerieurs immer wieder eine Idee von Modernität.

Fast schon rührend wirken im Badezimmer Auguste Viktorias die über der Zinkwanne auf einer Metallplatte montierten Kristallknöpfe mit der Gravur „Kalt, Warm, Brause“. Dieses in Delfter Manier blau-weiß geflieste Badezimmer, eingebaut in einen geräumigen Wandschrank, war Teil des Ankleidezimmers der Kaiserin und gehörte ursprünglich als Schreibzimmer zur oberen Fürstenwohnung aus der Zeit Friedrichs des Großen. Hier befand sich ein Rudergerät zur sportlichen Ertüchtigung der Kaiserin, und hier verwandelte sich Auguste Viktoria zu der majestätischen Matrone mit Perlenketten, Handschuhen, ihrer berühmten hochtoupierten Ballonfrisur, bekrönt von radgroßen Hutkreationen und dem huldvoll mütterlichen Lächeln, mit dem sie ihrem Volk zuwinkte – die kaiserliche Familie wusste sich als führende Dynastie des Reiches medial hoch professionell in Szene zu setzen.

In diesem Ankleidezimmer geschah im August 2018 etwas vollkommen Unwahrscheinliches. „Sensationsfund im Neuen Palais“, titelte die Presse, und niemand könnte von der damaligen Entdeckung besser erzählen als Jörg Kirschstein. Der Archivar, Historiker und Autor ist vor allem auch Chef im Neuen Palais, der heutige Hausherr also. „Das hier war der Tresor der Kaiserin“, sagt Jörg Kirschstein, in einem winzigen Nebenraum des Ankleidezimmers stehend, „und in diesem Einbauschrank hat man die Briefe gefunden.“ Genau hundert Jahre nach der Abreise der Kaiserin ins holländische Exil entdeckte man eine familiäre Korrespondenz mit tausend Briefen, sorgfältig beschriftet, versiegelt und zu Päckchen zusammengebunden. Doch wie konnten diese Briefe über einen so langen Zeitraum unentdeckt bleiben? „ Der Wandschrank wurde einfach nie wieder geöffnet, auch weil kein Schlüssel mehr vorhanden war“, sagt Kirschstein, „und die Kaiserin, vielmehr ihre Kammerfrau Susanne Charles de Beaulieu, wird in den dramatischen Novembertagen 1918 diese Briefe einfach vergessen haben. Vielleicht dachte die Kaiserin auch, sie würden ihr nach Doorn nachgeschickt.“

Der spektakuläre Fund war wohl nur im Neuen Palais möglich, denn dieses Schloss hat den Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet überstanden. Im April 1941 gab es während eines Bombenangriffs erheblichen Glasbruch an den Fenstern des Ostflügels, und das Triumphtor bekam noch im Frühjahr 1945 einen veritablen Treffer ab, doch das war es auch schon. Die Stadtschlösser in Berlin und Potsdam sind untergegangen, doch Friedrich des Großen „Fanfaronade“ ist bis heute quasi im Originalzustand konserviert und legt als prunkvolle Kulisse Zeugnis von einer untergegangenen Epoche ab.

Die Kaisertochter Viktoria Luise beschrieb diese Zeit und das Leben im Neuen Palais in ihren Erinnerungsbüchern mit dem sentimentalen Pathos einer Hedwig Courths-Mahler: der burschikose, aber gütige Kaiser, die engelsgleiche Gattin und Mutter, der ihnen ergebene Hofstaat, die quirlige Kinderschar, die vermeintlich heile Welt zwischen Gottesgnadentum und Hurra-Patriotismus. Ein ganz und gar anderes Bild der wilhelminischen Jahrzehnte zeichnet der britische Historiker John C. G. Röhl in seiner dreibändigen Biographie Wilhelms II., die zum wissenschaftlichen Standardwerk geworden ist. Die psychologischen Verstrickungen innerhalb der kaiserlichen Familie, die Interessenskonflikte Alliance zwischen den Familienmitgliedern, Animositäten und Eifersüchteleien, vor allem aber die Person des schon in jungen Jahren verhaltensauffälligen Kronprinzen, des späteren Wilhelm II., haben die abgründige Wucht shakespearescher Königsdramen – nur dass das Neue Palais, in dem sich dieses Drama größtenteils abspielte, kein Theater war, sondern die vergoldete Kulisse realer Weltpolitik.

Der finale Akt spielt dann im November 1918, seither ist das Neue Palais unbewohnt und fast ebenso lang schon ein Museum . Ein paar Tage zuvor, am 29. Oktober, hatte die Kaiserin ihren Gatten tränenüberströmt mit einer einzelnen roten Rose unweit des Neuen Palais am Bahnhof Wildpark verabschiedet. Diese letzten Tage zwischen dem Neuen Palais, dem Großen Hauptquartier im belgischen Spa und schließlich dem holländischen Exil, zuerst in Amerongen und dann in Doorn, sind beklemmend detailreich in den Journalen der kaiserlichen Kammerdiener und Adjutanten dokumentiert. Am 4. November verzeichnet das Journal, dass Strolch, der kaiserliche Lieblingsdackel, überfahren wurde. Und ein paar Tage später, mit dem Datum 9. November, ist zu lesen: „Wetter trübe. Regen. Wecken 7 1/2. 9 Uhr Frühstück. Abdankung seiner Majestät.“

Die letzten Tage Auguste Viktorias im Neuen Palais hat die Hofdame Mathilde von Keller in ihren Lebenserinnerungen beschrieben, die den etwas donnernden Titel „Vierzig Jahre im Dienst der Kaiserin“ tragen. So nahm die Kaiserin Abschied von ihren Reitpferden, „ein unvergesslicher Augenblick“, um dann „noch einmal ganz allein durch all die lieben Räume, die Zimmer des Kaisers, das Sterbezimmer Friedrichs III. zu gehen“. Im Grottensaal war das Personal versammelt, „weinend und schluchzend“, wie die Gräfin Keller berichtet, um die „bewundernswert gefasste“ Kaiserin zu verabschieden. Viele Jahre zuvor, Wilhelm II. war gerade Kaiser geworden, und seine Mutter, die Kaiserwitwe Victoria, musste das Neue Palais verlassen, schrieb diese in einem Brief: „Nie wieder wird mein Fuß dieses teure Haus betreten. Die Räume, die Wände werden zu denen nicht reden können, die nach uns hier einziehen.“ Wenn man allerdings heute, bestenfalls in Begleitung von Frau Penny oder Herrn Kirschstein, das Neue Palais besucht und zwischendurch zu den Kronleuchtern hinauflauscht, mag man versucht sein, in ihrem kristallenen Klingen zumindest ein leises Echo der Vergangenheit hören zu wollen.

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