Wir reden viel über marode Infrastruktur. Aber der öffentliche Raum bietet oft ein Bild des Jammers. So verliert eine zerrissene Gesellschaft auch räumlich ihre Mitte. Berichte von Plätzen und Straßen, die zum Schlachtfeld verkommen.
Weltplus vom 04.06.2025 von Dankwart Guratzsch

Wir reden viel über marode Infrastruktur. Aber der öffentliche Raum bietet oft ein Bild des Jammers. So verliert eine zerrissene Gesellschaft auch räumlich ihre Mitte. Berichte von Plätzen und Straßen, die zum Schlachtfeld verkommen.

Der öffentliche Raum in den Städten ist zu einem Schlachtfeld widerstreitender Interessen geworden. Ausgerechnet der Bereich, der nicht bebaut ist, sondern nur von Gebäuden eingerahmt, den Soziologen fast liebevoll das „Wohnzimmer der Stadt“ nennen, ist zum Objekt der Habgier geworden, auf das alle möglichen Gruppierungen, Politiker, Geschäftsleute, Ideologen, Klimaaktivisten und Grünfetischisten Anspruch erheben.

Hinzu kommen, von der Gegenseite, die mächtigen Verbände und Sozietäten der Autofahrer, Radfahrer, Rollerfahrer und Fußgänger, denen die Verwaltungen, wenn auch nicht rote Teppiche ausrollen, so doch rot lackierte Fahrradwege, denen sie mit Wäldern von immer neuen Straßenschildern, mit Gattern und Gittern und kniehohen Barrieren Schneisen durch die urbane Wildnis schlagen. Kann es noch ein Flanieren, einen Schaufensterbummel, ein genüssliches Spazieren geben, wo doch die städtischen Räume schon völlig den trivialsten Zwecken geopfert sind?

Keine Stadt mehr, wo sich nicht aus den Fassaden das Gestühl von Eisdielen, Pizzerien, China-Restaurants und Schnellgaststätten besitzergreifend über den Bürgersteig schiebt, oft umzäunt und eingehegt von Blumenkübeln und Heizpilzen. Mit der Aneignung der letzten freien Flächen durch immer neue „Interessenten“, zu denen mit derselben Selbstverständlichkeit auch professionelle Unterhalter, organisierte Bettlergruppen, Skater, Fußballspieler und Jongleure gehören, die sich zwischen den zentimeterweise voran schleichenden Autokolonnen hindurchzwängen und brennende Fackeln in die Luft werfen, geht eine nie gekannte Verwahrlosung des öffentlichen Raums einher.

Die einstige Wertigkeit der Kernzonen des Städtischen ist so heruntergekommen, dass sich Passanten kaum noch die Mühe machen, ihr Papiertaschentuch in die bereitgestellten, hoffnungslos überfüllten Papierkörbe zu stopfen, dass Rollerfahrer ihre geliehenen Geräte mitten auf dem Gehweg abstellen, wo sie dann der nächste Flegel umstößt, der sich mit stolz geschwellter Brust natürlich hütet, sie um eines ihm sowieso unbegreiflichen Gemeinwohls willen wieder aufzurichten. Wenn Baufirmen, die die Gehwege für Wochen verbarrikadieren, obwohl kein Arbeiter vor Ort zu sehen ist, es nicht für nötig halten, nach Beendigung ihrer Arbeiten die Pflasterung wieder herzustellen, wenn Graffiti-Schmierer und Straßenmusikanten ihre vermeintlich künstlerischen Darbietungen ungefragt jedem aufnötigen, der sich die Freiheit nimmt, Licht und Luft der Stadt mit ihnen zu teilen – dann kann von bürgerlicher Moral, von Gesittung, gar Leitkultur keine Rede mehr sein.

Richtig ist: Das alles ist Stadt, und wer das Urbane nicht mag, der soll aufs Land ziehen. Aber die Selbstverständlichkeit und Grobheit, mit der immer neue Akteure diese Räume, die allen gehören, nicht etwa kommunikativ und achtsam „bespielen“, sondern sich rüde aneignen, ist von einer Selbstherrlichkeit, die gesellschaftliches Leben zerstört und das städtische Individuum zum Freiwild egoistischer Machtspiele macht. Wie konnte es zu diesem Sittenverfall kommen?

Der öffentliche Raum ist die Projektionsfläche der Gesellschaft, die Bühne, auf der sie sich selbst inszeniert, die Fläche, auf der sie ihr Selbstbild darbietet, auf der sie ihre Identität vorlebt. Das Bild des öffentlichen Raums, das die deutschen Städte im 21. Jahrhundert darbieten, ist nicht schmeichelhaft. Es ist selbstzerstörerisch für die Gesellschaft, lieb- und friedlos für den Einzelnen. Sind wir das wirklich, oder ist es ein Zerrbild? Es ist das Bild einer zivilen Verrohung und geistig-seelischen Verkrüppelung. Es ist das Bild, das wir aus den sozialen Medien kennen – aus jenen Verlautbarungen, die Sozialverhalten nur vortäuschen. Und hier schließt sich der Kreis.

Denn der öffentliche Raum, das ist eben nicht mehr nur der städtische Raum, wie er einmal von Stadtplanern ideenreich konzipiert worden ist – es ist zugleich der Raum von Facebook, X, Tik Tok und wie die digitalen Würstchenbuden alle heißen. So wie diese Dienste neben all ihren guten Eigenschaften zum Abladeplatz von Müll, Fakes und Diffamierung geworden sind, so wie sie Lügen, Hass und Kampagnen transportieren und der Manipulation, Sabotage und Diskriminierung Tür und Tor öffnen, so präsentieren sie sich als Medien einer enthemmten Ichsucht, die sich ermächtigt fühlt, das letzte Gemeinsame der Gesellschaft unter ihren Mitgliedern aufzuteilen und die lukrativsten Stücke an sich zu reißen. Der Kopfhörer ist der Ohrstöpsel gegen das „Öffentliche“, der Taucherhelm, mit dem sich die kommunikative „Blase“ gegen den Anspruch der Gesellschaft an das Individuum verschanzt.

Von dieser Mentalität und mentalen Disposition spricht die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Vermächtnisbuch „Vita activa“ schon 1958, was beweist, dass die Auflösungstendenzen bereits erkennbar waren, als von „sozialen Medien“ noch keine Rede war. Wenn Arendt „eine gemeinsame Welt verschwinden“ und Zustände heraufziehen sieht, „in denen keiner mehr sehen und hören oder gesehen und gehört werden kann“, wenn sie hinzufügt, dass ein jeder „nun eingesperrt in seine Subjektivität wie in eine Isolierzelle“ sei, so nimmt sie vorweg, dass Kommunikation, auf die wir uns heute so viel einbilden, keineswegs immer kommunikativ sein muss, sondern sich im Gegenteil abschottend, egomanisch, gar aggressiv gebärden kann.

Die Philosophin ordnet derlei „Zustände“ Epochen von Gewaltherrschern und Massenhysterien zu – heute spricht man von Autokraten und Pandemien. In einer Welt, „deren rapide Industrialisierung“ nach Arendt „ständig die Dinge des gewohnten Gestern zerstört, um Platz zu schaffen für die Erzeugung des Neuen“, flüchte sich die „letzte, rein menschliche Freude an der Welt der Dinge“ ins Private. Aber solche Ausweitung des Privaten bedeute nicht etwa Rettung, sondern letztlich nur, dass das Öffentliche aus dem Leben des Volkes nahezu vollständig geschwunden sei – und mit ihm „Größe oder Bedeutung“.

Die Sätze lesen sich, als habe die Autorin die Entwicklung hin zur Verslumung und Verwahrlosung des öffentlichen Raums, die wir heute beklagen, vorausgesehen. Aber das Anschauungsmaterial dafür lieferte zu jener Zeit noch nicht das Internet, sondern tatsächlich der Städtebau. Denn jenseits aller philosophischen Ableitungen sind es zuerst die Abriss- und Neubauorgien der Nachkriegszeit gewesen, die die öffentlichen Räume verwüstet, die Plätze aufgesprengt und auseinandergerissen, die Straßen in Abflusskanäle des Verkehrs verwandelt haben.

Das war kein Misslingen, sondern Programm. An die Stelle von „Heimat“ sollten offene, „fließende“ Räume treten – ein ideologischer Hokuspokus, mit dem Architekten meinten, sich der geschichtlichen Verantwortung entledigen und in ein Mäntelchen von „Fortschrittlichkeit“ kleiden zu können. In Wahrheit ruinierten sie in Bild und Tat, was seit den Griechen und Römern geradezu heilig war: den gestalteten öffentlichen Raum, eine Ressource, die wir heute aufgerufen sind, als wahren „Sozialraum der Demokratie“ zu würdigen (so der Frankfurter Architekt Christoph Mäckler).

Wir reden viel von Infrastruktur, von der Reparatur des aus dem Ruder laufenden, überstrapazierten, überlasteten Technikgestänges. Von der Reparatur des sinnlich Wahrnehmbaren, der Stadt und ihrer vielfach vor sich hin rottenden Glanzpunkten, reden wir nicht. Was wir der Lebensumwelt des Individuums antun, in welchen zivilisatorischen Elendszustand wir sie vielerorts haben abgleiten lassen, scheint uns schnuppe. Wer nach „Leitbildern“ ruft, muss hier ansetzen – nur so wird er auch der Zerrüttung des Sozialgedankens durch die eben nur in Teilen „sozialen“ Medien beikommen. Der öffentliche Raum, wenn wir ihn denn in Ehren hielten, hätte das Potenzial, der zerrissenen Gesellschaft wieder eine Mitte zu geben. Heute mehr denn je.

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