Die Architektur der DDR gilt als seelenlos und monoton. Eine neue Ausstellung in Berlin zeigt, dass das nur die halbe Wahrheit ist. Ein Gespräch mit Kurator Wolfgang Kil über ungebauten Idealismus, den langen Schatten der Platte und was die Vergangenheit uns lehrt.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 08.06.2025 - Das Gespräch führte Florian Siebeck
Herr Kil, warum tun sich viele bis heute so schwer mit dem architektonischen Erbe der DDR?
Weil man es im Grunde bis heute nicht ernst nimmt. Noch während der Wende brachte eine einflussreiche Architekturzeitschrift im Westen ein DDR-Sonderheft unter dem programmatischen Titel „Architektur ohne Architekten“ heraus. Das Narrativ war damit gesetzt. Abgesehen von ein paar Schlüsselbauten wie etwa dem Palast der Republik oder dem Ahornblatt von Ulrich Müther – der übrigens erst im Moment des Abrisses zum Baukünstler geadelt wurde – galt allenthalben das Verdikt von der „Platte“. Die seriellen, industriell errichteten Wohnbauten wurden gar nicht als Architektur begriffen, sondern als Beton gewordene Staatsraison: technisch, seelenlos, funktional. Als ob da keine Menschen dahinterstanden, sondern nur ein Apparat.
In Ihrer Ausstellung im Museum für Architekturzeichnung in Berlin zeichnen Sie ein anderes Bild: Skizzen, Entwürfe, persönliche Kommentare zur Zeit. Was verraten diese Zeichnungen über das Denken und Leben in der DDR?
Es wird ja gern behauptet, industrielle Bauproduktion sei ein autonomer Prozess, der sich menschlichen Einflüssen widersetzt. In Wahrheit wurde die Industrialisierung des Bauens mit viel Wissen und Engagement begleitet – und von vielen mitgetragen. Ich wollte zeigen, dass selbst hinter vermeintlich gesichtsloser Architektur sehr wohl Menschen standen, die sich Gedanken gemacht haben. Es geht uns nicht darum, die bekannte Baugeschichte der DDR zu rekapitulieren, sondern wir haben nach Ideen und Skizzen gesucht, die das vielschichtige Denken über Architektur in der DDR widerspiegeln.
Zum Beispiel?
Etwa die überraschend moderne Zeichnung eines Denkmals für Auschwitz – aus dem Jahr 1957, als überall noch stalinistische Säulenfassaden entstanden! Der Entwurf stammt von einem Schüler Mies van der Rohes, wie der Historiker Kai Drewes herausfand, mit dem ich die Ausstellung gemeinsam kuratiert habe. Oder die frühen Entwürfe für den Palast der Republik. Der hieß zunächst ganz prosaisch „Mehrzweckgebäude“ und war als einladende, abwechslungsreiche Bildungslandschaft im Stadtzentrum gedacht. Zu Beginn war da also eine erstaunliche Offenheit. Doch die Visionen wurden dann Schritt für Schritt auf das technisch Machbare reduziert und auf das vom Auftraggeber politisch Gewollte zurückgestutzt.
Sie waren selbst Architekt, haben in Weimar studiert. Lange hielten Sie es im Beruf aber nicht aus. Warum?
Ich wollte Wohnungen schaffen, wollte die Welt verbessern, wollte mitgestalten. Dann landete ich im Wohnungsbaukombinat – in einer Realität, die mit dem, was wir im Studium gelernt hatten, absolut nichts zu tun hatte. Wichtiger als architektonische Ideen waren jetzt Produktionsabläufe und ein reduzierter Materialaufwand. Nach fünf Jahren habe ich es nicht mehr ausgehalten, bin geflohen – und war damit beileibe nicht der Einzige. In gewisser Weise steckt in der Ausstellung auch ein Stück meines eigenen beruflichen Werdegangs, und von dem vieler anderer Architekten meiner Generation: Dieses Verzweifeln an der Realität des Bauwesens und die Versuche, auf anderen Wegen Befriedigung zu finden.
Manche wechselten das Metier, wurden Wirte oder Schäfer. Sie wurden Architekturkritiker – warum?
Weil mir schon im Studium die Schreibmaschine mehr lag als das Reißbrett. Man darf aber nicht vergessen, dass ja viele auch geblieben sind. Was hat diese Menschen dazu bewogen, zu bleiben? Architekt in der DDR zu sein, das verlangte in der Regel ein hohes Maß an Demut. Es bedeutete, Anonymität zu ertragen und trotzdem einen Sinn in seinem Tun zu finden. Gerade unter diesem Aspekt finde ich die verworfenen Ideen, die ungebauten Träume, besonders interessant. Überrascht war ich bei der Vorbereitung unserer Ausstellung auch davon, wie stark in den Sechziger- und Siebzigerjahren in der DDR der Glaube an die Zukunft war. Mit welch unglaublichem Furor man dort noch aus kleinsten Städten regelrechte Metropolen machen wollte.
Wieso wurde so vieles davon nie umgesetzt?
Weil der Wiederaufbau des weitgehend zerstörten Landes nach dem Krieg permanent strammen Doktrinen unterlag:
Erst kam die sowjetische Neoklassik, dann – als klar wurde, dass man mit diesem enorm aufwendigen Baukonzept die Wohnungsfrage nicht löst – die Industrialisierung, die völlig neue Anforderungen ans Entwerfen stellte. Dem klassisch ausgebildeten Gestalter waren ja Fragen wie der Serienbau oder die Typisierung eher zuwider.
Nun sind Neubauten heute oft auch keine Ausgeburt an Kreativität. Es herrscht zwar formale Freiheit, doch gebaut wird häufig erschreckend eintönig. Woran liegt das?
Es gibt so eine Lebensweisheit, die sich oft erst mit der Zeit einstellt: Nicht jedes Haus muss eine Wundermaschine sein, die einen Zauber entfaltet. Ein gewisses Gleichmaß ist wichtig, denn wenn unsere Umwelt nur aus Attraktionen bestünde, wäre es kaum auszuhalten. Dann würde es überall wie in Las Vegas aussehen. Wer will so leben?
In der DDR kippte es ins Gegenteil. Dort beklagten sich alle über Monotonie und Gleichförmigkeit.
Wenn eine Typologie dermaßen überhandnimmt, dass es gar keine optische Abwechslung mehr gibt, ist das natürlich auch keine Lösung. Der Trostlosigkeit begegnet man aber nicht mit permanentem Spektakel, sondern mit Qualität. Eine gediegene, ruhige Gestaltung ist besser auszuhalten als ein Übermaß an Entertainment. Und nicht zu vergessen: Vielfalt entsteht nicht nur durch den Entwurf, sondern auch durch die Nutzung. Das war in der DDR schon eine viel diskutierte Frage: Dürfen Bewohner Spuren in der Architektur hinterlassen? Können denn nur Architekten Vielfalt liefern? Oder nicht auch die Leute, die in den Bauten leben?
In Ihrer Ausstellung zeigen Sie gezeichnete „Balkonträumereien“ von Lutz Brandt – tropischer Dschungel im Plattenbau, Loggien als Raumstationen. War das mehr als nur Ironie?
Das war natürlich Satire, die auf die Lust der Neubaumieter zielte, ihre Loggien mit allerlei Basteleien auszustaffieren. Nach der Veröffentlichung gingen empörte Wohnungsverwaltungen auf die Barrikaden: Hier würden Mieter zu unzulässigen Umbauten angestiftet! Der Kleingeist deutscher Bürokraten kennt eben keine Ironie. Umso erstaunlicher, dass „Das Magazin“ die Zeichnungen damals überhaupt druckte. Solche Formen der Aufmüpfigkeit waren rar – am industriellen Wohnungsbauprogramm war Kritik nicht erwünscht. Es ging schließlich um die „soziale Frage“.
Für die „Neue Berliner Illustrierte“ zeichnete Brandt in den Siebzigerjahren mehrere Hundert „Wohnraumberatungen“. Räume, die auch nach heutigen Maßstäben erstaunlich modern aussehen. Waren das auch nur Träumereien?
Die waren eher Ausdruck real gelebter Selbsthilfe. Wer eine Wohnung hatte, konnte sie nach eigenem Gusto gestalten. Diese Skizzen von Lutz Brandt sind kulturgeschichtlich hoch interessant. Sie bilden ab, wie wir damals lebten. Zumindest die „Bohème im Prenzlauer Berg“, die ihre eigenen Vorstellungen von „Wohnkultur“ umsetzte.
Sie haben ebenfalls im Prenzlauer Berg gewohnt. Wie schwer war es, da an eine Wohnung zu kommen?
In Berlin war es fast unmöglich, an eine Neubauwohnung zu kommen, zumindest als Single. In den Altbauten hingegen gab es leer stehende Wohnungen, die nicht mehr regulär zu vermieten waren, weil sie so heruntergekommen waren. Ich bekam meine Wohnung, weil ich versprach, sie auf eigene Kosten zu renovieren. Es gab auch illegal besetzte Räume, für die man drei Monate Miete auf ein Hauskonto einzahlte – dann konnte man bleiben. Insofern boten die Zeichnungen von Lutz Brandt nicht nur Handreichungen, wie man aus Nichts etwas machen kann – in gewisser Weise trugen sie direkt zur Rettung der verlotternden Altbaubestände bei.
Warum hat man diesen Altbaubestand nicht saniert, um die Wohnungsnot zu lindern?
Das war zu großen Teilen eine ideologische Entscheidung. Man wollte einen Neuanfang, die Moderne sollte sichtbar sein – in neuen Häusern. Und das Leitbild für diesen massenhaften Wohnungsneubau war dem Fordismus entlehnt: Wie die Autos sollten eben auch die Häuser vom Band kommen. Und wie bei jeder Großmaschine gilt: Wenn die mal läuft, läuft sie. Ging es am Anfang noch darum, für jeden ein Dach über dem Kopf zu haben, bestimmte am Ende das Produktionsregime, wie viel und was überhaupt gebaut werden konnte. Jetzt erleben wir ja einen ähnlichen Prozess, nur umgekehrt.
Wie meinen Sie das?
In den Städten ballt sich eine ähnliche Wohnungsnot zusammen wie in den Sechzigerjahren. Doch wir haben so gründlich jeglicher Typisierung und Serienproduktion abgeschworen, dass uns jetzt, wo wir ein bestimmtes Maß davon bräuchten, schon aus ideologischen Gründen die Argumente dafür fehlen.
Ließe sich denn aus der Geschichte etwas für die heutige Architekturpraxis lernen?
Unbedingt. Es geht um das Berufsbild der Architekten. Wir sind damals ganz eindeutig an der Praxis vorbeierzogen worden. Aber sieht es heute anders aus? Schauen Sie sich die Leute an, die von Eliteschule zu Eliteschule gehen und dann versuchen, bei einem Nobelbüro Karriere zu machen. Dabei sollten sich Architekten stärker an der Realität orientieren – an den sozialen und ökologischen Herausforderungen der Gegenwart. Solche Realisten gibt es ja, die wachsen zum Glück immer wieder nach. Aber in den Medien gefeiert werden die Stardesigner. Daher in der Ausstellung unser Plädoyer für die „Unberühmten“.
Hätten DDR-Architekten unter anderen Bedingungen nicht auch nach Karriere und Ruhm gestrebt?
Erst nach der Wende wurde uns bewusst, wie unterschiedlich die Blickwinkel waren. Im Osten galt Architektur als Teil der Baukultur, im Westen vor allem als Investition. Dass man in der DDR fast immer für den Staat als Auftraggeber plante, hatte durchaus auch etwas Gutes – es schärfte das Bewusstsein für die ökonomischen Folgen des eigenen Handelns und nährte die Überzeugung, dass man mit gutem Bauen die Welt verbessern könne. Was heute unter dem Schlagwort Nachhaltigkeit mühsam vermittelt wird, war für uns Alltag. Mangel war Normalzustand und wurde nicht bloß als Defizit begriffen, sondern konnte gestalterische Herausforderung sein. In einem Markt, in dem scheinbar alles verfügbar ist, können manche verschwenderisch bauen, während andere leer ausgehen, weil sie den falschen Auftraggeber haben. Dagegen zwingt allein schon das serielle Bauen zur Sparsamkeit als oberstem Prinzip – das war nichts, wofür man den Staat hasste, sondern etwas, mit dem man umzugehen lernte.
Das Gespräch führte Florian Siebeck.
Die Ausstellung „Pläne und Träume – Gezeichnet in der DDR“ ist noch bis zum 7. September im Museum für Architekturzeichnung (Tchoban Foundation) in Berlin zu sehen.
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