Berlin. Er ist der Erbauer von Marzahn-Hellersdorf: der Architekt Wolf R. Eisentraut. Unterwegs im Bezirk, den er mit erschuf
Morgenpost vom 15.06.2025 von Oskar Paul

Blitzlicht erhellt die nackten Körper aus Stein, die sich, grotesk verzerrt, aus den Pfeilern des Kellers winden. Dazwischen steht der Architekt Wolf R. Eisentraut und wirft einen langen Schatten an die Wand. Ich stehe daneben, recke ein Blitzlicht über meinen Kopf, während Morgenpost-Fotograf Reto Klar Anweisungen gibt. Als Nächstes wollen wir Fotos vor dem alten Rathaus Marzahn schießen, doch Eisentraut sagt, er brauche noch fünf Minuten. Aus der Tasche seines Mantels zieht er eine kleine Digitalkamera. Heute ist er nur noch selten hier unten. Der ungenutzte Keller betrübt ihn.

Dabei hat er ihn mitgebaut. Und das Rathaus obendrüber. Genau wie den Helene-Weigel-Platz davor und das Kino Sojus daneben. Und die Marzahner Promenade, zwei S-Bahnstationen weiter. Gebäude und Plätze, die Marzahn-Hellersdorf bis heute prägen. Der Architekt wird hier immer noch bewundert, mit Ehrfurcht sprechen die Menschen von ihm. Daraus lässt sich vieles ableiten: über den Bezirk und seine Bewohner; über Ost und West; über Anerkennung und Kränkung; über Vergangenheit und Gegenwart. Und auch ein bisschen über die Zukunft.

DDR-Architekt Eisentraut: „Typenbau tötet die Architektur“

Ein paar Stunden zuvor stromere ich durch die Räume des Bezirksmuseums. Marzahn-Hellersdorf hat seinem (Mit-)Erbauer eine Ausstellung gewidmet. Auftritt Eisentraut: Er ist groß und trägt sein Haar auch mit 81 Jahren noch lang. Gemeinsam schreiten wir die Schaukästen, sein Leben, ab.

Der Architekt Wolf R. Eisentraut posiert für ein Foto im Ratskeller unter dem Rathaus Marzahn. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Eisentraut wird 1943 in Chemnitz geboren, nach der Ausbildung zum Maurer studiert er Architektur. Eisentraut arbeitet für die Bauakademie an der Wohnungsbauserie 70 (WBS 70) mit, ein Wohnungsbauprogramm, das bis 1990 abgeschlossen sein soll. Eigentlich will er Bauplatten entwerfen, die zwar seriell produziert, aber ganz unterschiedlich zusammengesetzt werden können. „So ein bisschen wie mit Lego-Bausteinen?“, frage ich. „Ja, im Prinzip“, sagt Eisentraut. Doch die politische Führung will einen Typenbau. „Seitdem ist von Sassnitz bis nach Klingenthal ein Haus wie das andere“, sagt er. „Typenbau tötet die Architektur.“ Eisentraut glaubt, dass ein Haus für einen Ort entworfen werden muss. Für die Häuser, Straßen und Bäume, die dort schon stehen.

In den Siebzigern ist Eisentraut am Bau des Palasts der Republik beteiligt. „Eine willkommene Abwechslung“, wie er sagt. Zur immer gleichen Plattenbauweise, die zwar effizientes Bauen ermöglicht („ratzfatz“, sagt Eisentraut), aber dem Architekten kaum Spielraum für kreative Arbeit lässt. Es ist ein Kampf, der ihn sein gesamtes Leben begleiten wird. An seiner Seite: Ehefrau Heicke, die ihm ermöglicht „wie ein Blöder“ jeden Tag lange zu arbeiten. An den Wänden hängen krakelige Skizzen, Zitate seiner Mitarbeiter („Er verstand es, einen nicht unbeträchtlichen Grad an Individualität in das industrielle Bauen zu bringen“), in einem Schaukasten liegen Pläne von nie vollendeten Bauten.

Marzahn-Hellersdorf: Eine Spazierfahrt mit Eisentraut durch den Berliner Bezirk

Das Bezirksmuseum steht im alten Dorfkern von Marzahn. Hier sind die Straßen aus Kopfsteinpflaster, die Häuschen haben Ziegeldächer, dahinter ragt die Platte in die Höhe. Marzahn-Hellersdorf ist ein Bezirk der Gegensätze. Zusammengewachsen aus den Orten Marzahn, Hellersdorf, Biesdorf, Kaulsdorf und Mahlsdorf. In den 70ern beschloss die politische Führung der DDR, hier Hochhäuser zu bauen, die Plattenbauten sprossen in die Höhe, ratzfatz standen die Wohntürme. Und dazwischen Eisentraut, der ab 1976 Marzahn mit erbaute.

Der alte Architekt geht nicht gerne spazieren, noch nie, sagt er, er klemmt sich lieber hinters Lenkrad seiner Mercedes-S-Klasse für eine Spazierfahrt durch den Bezirk. Vom Bezirksmuseum zum Freizeitforum Marzahn sind es zu Fuß rund 600 Meter, mit dem Auto kurvt man knapp 1,5 Kilometer durch kleine Gassen und breite Straßen. Eisentraut presst auf die Hupe, als ein Auto aus einer Seitenstraße schießt. Wir fahren vorbei an Neubauten, noch immer wird in Marzahn gebaut, noch immer schießen die Häuser in die Luft, nur langsamer. „Während früher durch die Typen alles einheitlich aussah, gibt es jetzt freiwillige Beschränkungen“, sagt Eisentraut mit Blick auf einen Neubau.  

Vom S-Bahnhof Marzahn über die Marzahner Promenade bis zum Freizeitforum

Im Freizeitforum Marzahn gibt es ein Schwimmbad, eine Bibliothek, zwei Veranstaltungssäle und die vielleicht saubersten öffentlichen Toiletten Berlins. Es bildet den östlichen Abschluss der Marzahner Promenade und wurde 1991, nach der Wende, fertiggestellt. Nicht alle Räume sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Es muss ein seltsames Gefühl sein, nach einem Schlüssel zu fragen zu einem Haus, das man selbst gebaut hat. Ein bisschen so, als würde man in eine alte Wohnung zurückkehren, in der jetzt jemand Fremdes wohnt. So stelle ich es mir zumindest vor. Eisentraut steuert zielsicher ein Büro im oberen Stock an. Natürlich werden ihm die verschlossenen Säle aufgesperrt.

Zur Person

Wolf R. Eisentraut wurde 1943 in Chemnitz geboren. Nach der Ausbildung zum Maurer studierte er Architektur. Unter dem berühmten Architekten Hermann Henselmann sammelte er erste Erfahrungen, ehe er an der Entwicklung des Stadtteils Marzahn mitwirkte. Nach der Wende tat er sich unter anderem durch den Rückbau von Plattenbauten hervor, deren Bauelemente er in Einfamilienhäuser umwandelte. Er promovierte, habilitierte und lehrte an der Technischen Universität Dresden. Zu seinen bedeutendsten Bauten zählen der Mittelteil des Palasts der Republik, die Körperbehindertenschule in Lichtenberg und das Brockenhaus im Harz. Seine Autobiografie „Zweifach ist des Bauens Lust“ über das Bauen in der DDR und BRD ist 2023 im Lukas-Verlag erschienen. Eisentraut ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in Berlin und Brandenburg.

Die Decke des großen Arndt-Bause-Saals ziert ein Gemälde in Rosa und Blau. Die Zusammenarbeit mit Künstlern war ihm immer wichtig, sagt Eisentraut, als wir wieder vor dem Freizeitforum stehen. „Ich gestalte die Umwelt mehr oder weniger geschickt“, sagt er. „Da es für die Menschen ist, muss man versuchen, das in seiner Erscheinung so gut wie möglich zu machen.“ Doch Kunst und Architektur unterscheiden sich. Ein Buch wird nicht umgeschrieben, ein Bild nicht übermalt. Ein Bau aber wird saniert, renoviert, modernisiert, umgebaut, abgerissen. Eisentraut sträubt sich nicht grundsätzlich gegen Wandel, aber er will mitreden, wenn sein Werk sich wandeln soll und tut das auch. Was er kritisiert, sind die Abrisse. Palast der Republik? Abgerissen. Die Galerie M in Marzahn? Abgerissen. Die Seeterrassen am Fennpfuhl? Abgerissen. Das sei politischer und wirtschaftlicher Unfug, glaubt der Architekt.

Eisentraut: Bauen im Sozialismus, Bauen im Kapitalismus

Eine Geschichte erzählt er häufiger, auch mir erzählt er sie später. Nach der Wende kommen die Architekten Berlins zu einer Tagung zusammen. Von der Bühne sagt der Senatsbaudirektor, dass es im Osten keine Architekten gegeben hätte. Da springt Eisentraut auf und ruft: „Hier ist einer und ich kann ihnen 30 gute Namen nennen.“ Kränkungen wie diese sind noch immer präsent, nicht nur bei Eisentraut. Auch darum geht es, wenn Anwohner Sturm gegen Neubauprojekte im Bezirk laufen.

Im Auto düsen wir vom Freizeitforum zum Helene-Weigel-Platz. Die Fahrt führt uns vorbei am Eastgate, einem riesigen Einkaufszentrum am S-Bahnhof Marzahn. Vom Bahnsteig führt eine Brücke direkt in die Shopping Mall. Früher standen hier zwei Kaufhäuser. Natürlich von Eisentraut erdacht. Schon im Museum sagt Eisentraut mir: „Im sozialistischen Städtebau ging die Treppe auf den Platz vor den Kaufhäusern. Und im kapitalistischen Städtebau geht die Treppe und der Steg in das Kaufhaus.“ Wir wenden. Autofahrer hupen, ich bin mir nicht sicher, ob das erlaubt war. Eisentraut steuert unbeirrt Richtung Rathaus Marzahn.

DDR: Wie blickt Eisentraut zurück und in die Zukunft?

Auf dem Parkplatz davor halten wir an, Autos fahren an uns vorbei, während wir auf das Kino Sojus blicken. Ein typischer Eisentraut. 1981 braucht Honecker eine Veranstaltungshalle im Neubaugebiet in Marzahn, so erzählt es Eisentraut. Natürlich soll der Architekt ran. Eisentraut setzt durch, dass daraus ein Kino wird. Die Bauelemente, die er dafür nutzt, sind eigentlich für Industriehallen vorgesehen. Heute ist das Kino eine Ruine, der Eigentümer will es abrissen und Wohntürme errichten. Das Projekt ist umstritten. Mittendrin Eisentraut, der auf einer Podiumsdiskussion zum Thema spricht und in einem Podcast zu Gast ist. Er ist nicht gegen eine Bebauung – aber sie muss Sinn ergeben, sich ins Gesamtkonzept des von ihm erdachten Platzes einfügen. Eine Veranstaltungshalle für Honecker, ein Foyer für den Palast der Republik. Ich bin nach dem Fall der Mauer geboren und in Bayern aufgewachsen. Ich lerne noch immer, dass die guten Erinnerungen an die DDR genauso existieren dürfen wie die schlechten, und dass sich nicht jeder, der in der DDR gelebt hat, für das Unrecht rechtfertigen muss, das dort begangen wurde. Doch Eisentraut hat die DDR, im wahrsten Sinne des Wortes, mitgebaut, denke ich. Hat er das Gefühl, sich am Erhalt eines Unrechtstaats beteiligt zu haben? „Nicht im Geringsten“, sagt Eisentraut. Ja, der Auftraggeber war der Staat, nicht alles fand er gut, aber mit dem Wohnungsbauprogramm konnte er sich identifizieren. „In der DDR waren ja Menschen, die ein gutes Leben haben sollten.“ Bauen, bauen, bauen. Darum scheint es ihm gegangen zu sein.

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