Berliner Zeitung vom 17.06.2025
Wer in Berlin architektonische Highlights sucht, muss nicht lange laufen. Zwischen Brandenburger Tor, Berliner Schloss, der Staatsoper Unter den Linden und dem Fernsehturm wird schnell klar: Diese Stadt ist eine Bühne für Baukunst durch die Jahrhunderte. Barock trifft auf Beton, Klassik auf Moderne. Und mittendrin: die Relikte der DDR – Plattenbauten, die nach wie vor das Stadtbild prägen, oft übersehen, selten geschätzt.
Aber Berlin offenbart seine architektonische Vielfalt nicht nur auf den großen Boulevards. Manchmal lohnt sich ein kleiner Umweg. Oder besser: ein Blick in die Seitenstraße. Zum Beispiel an der Ecke Kleine Alexanderstraße und Hirtenstraße, nur wenige Schritte vom geschäftigen Alexanderplatz entfernt. Wer hier am Dienstagvormittag vorbeikommt, trifft auf eine Gruppe von Architekturstudierenden der Berliner Hochschule für Technik. Auf Campingstühlen sitzend mit Skizzenbüchern auf den Knien und gespitzten Bleistiften bringen sie den unspektakulären Ausblick einer Berliner Seitenstraße auf Papier.
Der Kurs unter der Leitung von Gerd Sedelies beschäftigt sich mit Perspektive, genauer gesagt: mit Fluchtpunkten. In der Zeichentheorie ist das der Punkt am Horizont, an dem sich parallele Linien scheinbar treffen. Damit lassen sich dreidimensionale Objekte realistisch auf einer zweidimensionalen Fläche darstellen. Bereits an prominenten Orten wie dem Gendarmenmarkt oder dem Museum für Architekturzeichnung wurde geübt. Doch das neue Motiv – eine scheinbar willkürliche Ansammlung von Plattenbau, Verlagsgebäude und Fernsehturm – stellt die Teilnehmenden vor neue Herausforderungen.
„Es ist schwieriger“, sagt eine Studentin, „weil sich die Gebäude regelrecht belagern. Es gibt nicht nur einen, sondern mehrere Fluchtpunkte.“ Das Durcheinander, das der Betrachter vielleicht als reizlos abtut, fordert zeichnerisch heraus. Und es bringt etwas mit, das an der glatten Fassade der Sehenswürdigkeiten oft fehlt: Reibung, Spannung und Leben. Die Studentin blickt nachdenklich auf ihr Motiv. „Es ist unscheinbar, aber gerade deshalb spannend“, sagt sie. Der Plattenbau, oft als monoton und grau verschrien, wird hier zum Hauptdarsteller. In der Zeichnung bekommt er plötzlich Gewicht. Und genau das ist vielleicht die wichtigste Lektion dieses Seminars: Schönheit liegt nicht immer im Offensichtlichen. Oft liegt sie dort, wo wir achtlos vorbeigehen.
Um Architektur wirklich zu verstehen, reicht es nicht, den Kopf in den Nacken zu legen und an goldenen Kuppeln hochzuschauen. Man muss sich bücken, um das Detail zu sehen. Oder sich setzen – mitten auf die Straße.