Vor 100 Jahren entstand die legendäre Hufeisensiedlung. Sie und andere Großsiedlungen jener Zeit zeigen, was heute fehlt.
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 03.08.2025 von Anna-Lena Niemann

Wenn ein Haus 100 Jahre auf seinem Fundament stehen darf, ist das schon etwas Besonderes. Übersteht aber eine komplette Siedlung ein ganzes Jahrhundert, hat sie es unbeschadet durch einen Weltkrieg geschafft und ihr Antlitz selbst durch wilde Renovierungswellen nicht verloren, ist das außergewöhnlich. Der Hufeisensiedlung in Berlin-Britz ist dieses Kunststück gelungen. Sie ist in diesem Sinne, was ihr Name immer schon ein bisschen versprochen hat: ein Glücksfall.

Das sehen nicht nur die Bewohner so. 2008 nahm die Unesco die Siedlung in ihre Welterbeliste auf. Zusammen mit fünf weiteren, die als authentische Vertreter der Berliner Moderne erhalten sind und den Beginn des sozialen Wohnungsbaus markieren. Zum Jubiläum, der Hundertjahrfeier, die gerade erst in der Hufeisensiedlung im Bezirk Neukölln gefeiert wurde, drängt sich allerdings noch eine ganz andere Frage auf: Kann sie noch mehr sein als das, mehr als ein architektonisches Denkmal? Taugt sie vielleicht sogar zum Vorbild für die Gegenwart?

Architekt Bruno Taut und Stadtbaurat Martin Wagner reagierten mit dem Ensemble, das zwischen 1925 und 1931 entstand, auf eine Wirklichkeit, die zumindest in Teilen ans Heute erinnert. Die Bevölkerung der Großstadt wuchs damals rasant, es mangelte allerorts an Wohnungen, vor allem an solchen, die sich eine breite Arbeiter- und untere Mittelschicht leisten konnte. Zudem verlangte die Zeit nach neuen Ideen, um das Wohnen praktischer, komfortabler und technisch fortschrittlicher zu machen. Nicht nur auf dem aktuellen Wohnungsmarkt Berlins klingt das alles recht vertraut.

In den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lag die Antwort in Großsiedlungen wie jener in Britz. Und in einer engen Verzahnung von Architektur und programmatischer Stadtplanung. Architekt Taut hatte den Freiraum, auf dem Gelände des alten Ritterguts Britz nicht nur Wohnraum für rund 5000 Menschen zu schaffen, sondern auch neue Wohnstandards zu setzen. Wer in der Hufeisensiedlung einziehen konnte, fand einen Gegenentwurf vor zu den oft überfüllten, dunklen und unhygienischen Mietskasernen der Stadt. Taut verzichtete auf Seitenflügel und enge Hinterhöfe. Stattdessen entwarf er Wohnungen und Häuser, eineinhalb bis viereinhalb Zimmer groß und mit eigenem Bad und Küche, in die Licht und Luft strömen konnten.

Vor Farbe schreckte Taut nicht zurück. Bis heute ist das denkmalgeschützte Ensemble geprägt von Fassaden in Ochsenblutrot, sattem Gelb oder Blau, mit Akzenten, gerade im Eingangsbereich der Häuser, aus Klinker, Vorsprüngen und farbigen Holztüren. Die Farbigkeit grenzte die Siedlung auch damals schon gegen die unmittelbare Nachbarschaft ab. Besonders eindrucksvoll ist dabei etwa ein dreigeschossiger, roter Mehrfamilienhausriegel der Siedlung, der seinen Spitznamen „Rote Front“ nicht grundlos trägt. Der Architekt Winfried Brenne, der sich seit Jahren dem Erhalt und der Dokumentation dieser Bauten verschrieben hat, betitelte Taut schon als „Meister des farbigen Bauens“.

Gleichzeitig manifestieren sich in der Hufeisensiedlung die Ideale der Gartenstadtbewegung. Grünflächen, gestaltet von Leberecht Migge und Ottokar Wagler, prägen nicht nur das vom Hufeisenbau umschlossene Gelände im Zentrum der Siedlung. Auch die zwei- bis dreigeschossigen Zeilenbauten rundherum thronen im Grün. Balkone oder private Nutzgärten ergänzen die Wohneinheiten. Man könnte glatt vergessen, dass das Zentrum der Hauptstadt nur eine dreißigminütige U-Bahn-Fahrt von dort entfernt ist.

Knapp 2000 Wohneinheiten für Arbeiterfamilien, Beamte und Angestellte plante Taut allein in der 37 Hektar großen Hufeisensiedlung, die nicht seine einzige war, davon 679 Einfamilienhäuser. Das gelang auch dank damals neuer Techniken des seriellen Bauens.

Wie ein „Bauturbo“ zünden könnte, ohne dabei architektonische Qualität unter weißer Einförmigkeit zu ersticken, machte Taut vor. Möglich wurde das allerdings nur, weil er in Stadtbaurat Wagner einen Verbündeten für sein reformistisches Programm hatte. Wagner kaufte Baugrundstücke auf und nutzte neue wohnungspolitische Instrumente, um seine stadtplanerische Vision umzusetzen. Dazu gehörte etwa die Hauszinssteuer. Wem Immobilien gehörten, musste sie zahlen und sollte sich damit an einer Art Lastenausgleich zugunsten des öffentlichen Wohnungsbaus beteiligen. Trotz seriellen Bauens waren die modernen Siedlungen nämlich keineswegs Schnäppchen.

Laut Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg entstanden in der Hauptstadt allein 1927 rund 26.700 neue Wohnungen. Das sind mehr als in den Wirtschaftswunderjahren der Nachkriegszeit. Und ohnehin mehr als in den vergangenen Jahren. Zur Hochzeit 2019, vor dem Einbruch durch die Corona-Pandemie, waren es knapp 19.000, im vergangenen Jahr gerade 15.400.

Damals ging der Großteil der Bauaktivität außerdem auf das Konto gemeinnütziger Wohnungsbaugesellschaften. Wagner selbst gründete 1924 die GE-HAG – die gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft – und leitete sie zeitweise. Sie wurde Bauherr der Hufeisensiedlung und blieb Eigentümer, bis die Stadt Berlin sie vor der Jahrtausendwende privatisierte und die Deutsche Wohnen AG das Unternehmen aufkaufte – inklusive der Hufeisensiedlung. Die Reihenhäuser der Siedlung wurden anschließend an private Eigentümer, oft die vorherigen Mieter, verkauft.

So beliebt und anerkannt die denkmalgeschützte Siedlung heute auch ist, als architektonische Blaupause taugt sie nur bedingt. Das betrifft weniger den energetischen Zustand, obwohl aufgrund der Auflagen aus dem Denkmalschutz nicht einfach drauflossaniert werden kann. Die Eigentümer können meist nur die Keller und Dächer dämmen, nicht aber die Fassaden. Problematischer ist vielmehr, dass die Häuser nicht unbedingt das sind, was man altersgerecht nennt. Die Gärten zum Beispiel. Sie sind zuweilen nur über den Keller zu erreichen. Und das Bad, Taut hat eins für ausreichend befunden, befindet sich grundsätzlich im Obergeschoss, in das eine kompakte Holztreppe führt.

Als Olaf Scholz in seiner Kanzlerschaft angesichts des Wohnungsmangels eine Renaissance der Großsiedlungen auf grüner Wiese ins Spiel brachte – im Sinne einer Hufeisensiedlung 2.0 –, löste das bei niemandem Begeisterungsstürme aus. Warum, das lässt sich derzeit etwa in einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt sehen. Der Frankfurter Römerstadt, von Ernst May etwa zur gleichen Zeit und nach ähnlichen Prinzipien gebaut wie Tauts Hufeisensiedlung, stellt sie acht Quartiersprojekte gegenüber, die seit 1990 geplant wurden.

Von der Hamburger Hafencity bis zur Bahnstadt in Heidelberg. Siedlung versus Quartier – damit fängt es schon an. Die Begrifflichkeiten haben sich nicht ohne Grund geändert. In der Siedlung wohnt man, doch im Quartier lässt sich auch arbeiten, einkaufen, zur Schule oder in den Kindergarten gehen, Gemeinschaft leichter leben, alles auch ohne Auto.

Gleichzeitig wird deutlich, dass auch das überlegenste Wohnkonzept nichts ist, wenn die stadtplanerischen Instrumente es nicht tragen. Zwei Beispiele der Ausstellung zeigen das: die „Günthersburghöfe“ in Frankfurt, die am Widerstand von Bürgern und Lokalpolitik gescheitert sind, sowie die „Werkbundstadt“ in Berlin-Charlottenburg. Einige Kilometer von der Hufeisensiedlung entfernt, sollte sie auf dem Gelände eines alten Tanklagers vorführen, wie durch kleinteilige Bebauung modernes Wohnen, Leben und Arbeiten vereint werden könnten. Viele Architekturbüros beteiligten sich an dem Konzeptentwurf, und politisch wurde der Weg für eine Mischnutzung frei gemacht. Mit Nebenwirkungen. Durch das geänderte Baurecht vervielfachte sich der Grundstückswert. Die Eigentümer verkauften, und das Areal geriet in die Spekulationsspirale – das Aus für das ambitionierte Projekt.

Die Fälle zeigen, was heute oft fehlt: Taut und Wagner dachten vor 100 Jahren Architektur und Stadtplanung noch konsequent zusammen, gespeist aus einer aus einer gemeinsamen Vision.

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