In der Hauptstadt und anderswo stellt sich die Frage, ob historische Viertel wiederaufgebaut werden sollen. Der Historiker Benedikt Goebel sagt: Wir müssen zurück zu kleinteiligen Häusern.
Die Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt entgegnet: Das ist nicht zeitgemäß.
Die Zeit vom 28.08.2025 - Das Gespräch moderierten Julian Sadeghi und Stefan Schirmer

DIE ZEIT: Seit Jahren wird darüber gestritten, wie künftig die historische Mitte Berlins aussehen soll. Nun wird das Quartier um den Molkenmarkt beim Roten Rathaus, der älteste Platz der Hauptstadt, neu gestaltet. Herr Goebel, Ihre Stiftung Mitte Berlin hat Bilder veröffentlicht, die zeigen sollen, wie Berlin künftig aussähe, wenn man Gebäude von 1928 in die Gegenwart zurückholen würde. Was haben Sie damit beabsichtigt?

Benedikt Goebel: Unsere Bilder zeigen sowohl den Vorkriegszustand, vor der Zerstörung der Altstadt, als auch unsere Vision für die Zukunft: Wir wollen zurück zu einem Quartier mit kleinteiligen, drei- bis vierstöckigen Häusern entlang der 800 Jahre alten Fluchtlinien. Der Molkenmarkt war ein dreieckiger Platz mit regem Geschäftsleben – heute besteht er vor allem aus Beton und Asphalt. Was der Krieg nicht schon zerstörte, wurde in der DDR unter einer achtspurigen Straße begraben. Wer das Quartier nicht von alten Bildern her kennt, weiß nicht, was er vermisst. Von den etwa 1.200 Häusern der barocken Stadt beispielsweise stehen nur noch 89. Wie schön wäre es, so viel wie möglich von der Altstadt zurückzugewinnen!

ZEIT: Frau Kahlfeldt, was Sie als oberste Baumeisterin Berlins vorhaben, unterscheidet sich deutlich von Herrn Goebels Wünschen. Sie planen keine Rekonstruktion, sondern eine größere zeitgenössische Bebauung, die höchstens Reminiszenzen ans alte Berlin aufweist. Die Gegenseite kritisiert: So billig und schlicht sollte man an der Wiege Berlins nicht bauen. Was erwidern Sie?

Petra Kahlfeldt: Von billig und einfach kann keine Rede sein. Wir haben mit großem Aufwand die autobahnähnliche Straße verlegt und zurückgebaut. Nun sind wir dabei, dieses innerstädtische Quartier in Anlehnung an den historischen Molkenmarkt wieder entstehen zu lassen. Wir wollen dabei vor allem einen zeitgenössischen, gut gestalteten Berliner Kiez erschaffen.

Goebel: Aber mit Ihren Plänen entsteht sicher kein lebendiger Stadtplatz! Am Molkenmarkt läuft immer noch eine 40 Meter breite, sechsspurige Straße wie ein Sperrriegel durch den mittelalterlichen Stadtteil – dabei würden 24 Meter reichen. Sie denken weiter in Kategorien der autogerechten Stadt.

Kahlfeldt: Darf ich daran erinnern: Berlin wächst und wird in absehbarer Zeit vier Millionen Einwohner haben. Die Innenstadt muss verkehrlich gut erschlossen sein. Die Autos, die Tram, aber auch die Fahrräder brauchen Fahrbahnen, für die eine gewisse Breite gesetzlich vorgegeben ist. Da muss man die Realityshow einschalten und nicht das Wünsch-dir-was-Programm, Herr Goebel. Ja, der Molkenmarkt ist ein mittelalterlicher Gründungskern der Hauptstadt. Aber wo steht denn, dass man das eins zu eins alles mittelalterlich zu rekonstruieren hätte? Sie tun so, als könnte man als einzige Alternative dazu nur große Klötze bauen. Glücklicherweise ist dieser Ort voller historischer Bezüge: Nikolaikirche, Rotes Rathaus, etliche Gründerzeithäuser. Auf mehr als 80.000 Quadratmetern, die bisher Asphalt waren, schaffen wir ein an die Stadtgeschichte anknüpfendes, vielfältiges Quartier.

Goebel: ... mit einer schrecklichen Feuerwehrzufahrt dort, wo ein herrliches Rokoko-Haus stand. Sie planen ein banales Neubauviertel, das auch am Rand des Zentrums entstehen könnte. Und am Ende stehen siebenstöckige Häuserblöcke, bestenfalls mit einer gründerzeitlichen Anmutung.

Kahlfeldt: Da muss ich Sie enttäuschen. Sie werden nicht einmal eine gründerzeitliche Anmutung haben. Es wird ein Quartier mit innerstädtischer Dichte, Höhe und Nutzungsvielfalt sein. Bei aller Faszination für die Baustile der Vergangenheit: Wir müssen nun einmal für hier und heute planen.

Goebel: Aber so erinnert an diesem besonderen Ort nichts mehr an die 800-jährige Berliner Altstadt. Das ist eine absolute Fehlplanung! Dass es anders ginge, zeigen uns doch die rekonstruierten historischen Quartiere in Dresden, Lübeck, Potsdam oder Frankfurt. Dort war es Prinzip, maßstabsetzende Leitbauten und -fassaden wieder zu errichten. Bevor um das Jahr 1800 die Hausnummern eingeführt wurden, trugen die Häuser ja Namen. In der Mitte Berlins hatten wir zum Beispiel das »Haus zum Löwen« in der Jüdenstraße 22. Den niedlichen liegenden Löwen, der als Hauszeichen diente, würde ich sehr gerne wiederhergestellt sehen. Genauso wie die Jüdenstraße 31, ein dreiachsiges Gebäude, ein Schmuckkästchen aus der späten Barockzeit, das schon die Kunsthistoriker der Vorkriegszeit lieb gewonnen hatten. Durch die kleinen Häuser mit Putzfassaden, ihren Freitreppen und vielen Details der Vorkriegszeit entstünde ein Quartier, das die Menschen wirklich ins Herz schließen.

Kahlfeldt: Ich verstehe die Bewunderung für die Detailvielfalt schöner, historischer Fassaden. Ich selbst habe an den Quartiersrekonstruktionen in Frankfurt, Lübeck und Potsdam mitgewirkt, weshalb mir nachgesagt wurde, ich sei als Architektin konservativ. Nun werde ich als zu fortschrittlich kritisiert – interessant! Zurück zur Sache: Jede Zeit hat die Architektur, die sie verdient. Prosperierende Zeiten bringen oft Bauten hervor, die innovativer oder weniger bescheiden sind als die in Zeiten knapper Kassen. Berlin hat hierbei seine eigene Geschichte: Man hat in den Sparjahren Anfang der 2000er-Jahre zu viel Tafelsilber verkauft, darunter viele landeseigene Wohnungen. 2016 hat man diesen Fehler korrigiert: Grundstücke, die dem Land gehören, müssen wir behalten und dafür einsetzen, um die skandalöse Wohnungsnot in Berlin zu lindern. Deshalb kommen am Molkenmarkt keine privaten Bauherren zum Zug, sondern zwei städtische Wohnungsbaugesellschaften.

Goebel: Damit sagen Sie: Berlin ist nicht die richtige Stadt für eine schöne neue Mitte. Damit sagen Sie auch: Berlin ist keine Stadt für ein traditionsfreundliches, kleinteiliges, mit privaten Bauherren zu schaffendes neues Quartier. Aber schöne Städte entstehen nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger daran mit bauen dürfen.

Kahlfeldt: Die Annahme, dass ein vielfältiges Quartier ausschließlich mit privaten Bauherren gelingt, finde ich zu schlicht. Sie tun so, als gäbe es keine Instrumente für eine möglichst hohe städtebauliche Qualität, angefangen bei den Wettbewerben, die wir ausgelobt haben.

ZEIT: Herr Goebel, die Hälfte der 450 geplanten Wohnungen soll zu günstigen Kaltmieten zwischen 7 und 11,20 Euro angeboten werden. Halten Sie das für richtig?

Goebel: Das Wohnungsbauproblem wird in diesem Quartier nicht gelöst werden. Ich bin selbst Sozialdemokrat und Mitglied im Mieterverein. Wenn man die Parzellen privatisieren würde, so wie wir es vorschlagen, könnte man von den Bauherren verlangen, ein Drittel dauerhaft günstige Wohnungen anzubieten. Das wäre eine gute Lösung. Man muss dem Ort gerecht werden. Man müsste das städtebaulich noch mal ganz neu angehen, damit es ein gutes, lebendiges und nachhaltiges Quartier wird. Es ist sowieso schon ein schwieriges Areal, unter anderem weil nach der Wende noch ein monströses Parkhaus nebenan bewilligt wurde. Diesem Quartier wird man nur gerecht, wenn man von der Geschichte mehr wissen und retten möchte als Sie, Frau Kahlfeldt.

Kahlfeldt: Solche aufwendigen Rekonstruktionen kosten richtig viel Geld. Das italienische Com’era, dov’era – wie es war und wo es war – ist nicht der Berliner Weg. Man muss sich die Wirtschaftlichkeit genau anschauen und das Geld gut einsetzen, wo es zur Geltung kommt: in hervorragend komponiertem Städtebau, schönen öffentlichen Räumen und wirtschaftlicher Effizienz beim Hausbau.

ZEIT: Herr Goebel, neben dem Molkenmarkt liegt das Nikolaiviertel – ein Stück Altstadt, das in der Spätphase der DDR rekonstruiert wurde. Wie gelungen finden Sie das im Vergleich zu den Planungen für den Molkenmarkt?

Goebel: Das ist eine wesentlich bessere, ortsadäquatere und ansprechendere Architektur als das, was der Senat jetzt auf der anderen Straßenseite plant. Man sieht, selbst die wirtschaftlich marode DDR war weiter als wir heute.

Kahlfeldt: Auch ich habe den größten Respekt vor dem Nikolaiviertel. Aber es kann doch keinen verwundern, dass 40 Jahre später anders gebaut wird als damals. Noch einmal: Berlin wächst. Es geht uns wie vielen Großstädten: Wir haben einen wahnsinnigen Bedarf an Wohnungsbau. Wir wollen eine bewohnte Innenstadt haben, wir brauchen auch Klimaanpassungen. Hier jetzt so ein dreigeschossiges Folkloredorf zu bauen, ist absolut die falsche Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit.

Goebel: Die drei- bis fünfgeschossige Vorkriegsbebauung, die ich gerne wiedersehen würde, ist gegenwartstauglich! Die moderne Gesellschaft passt auch in kleine Häuser. London und Paris haben auch Viertel mit kleinen Gebäuden und schmalen Gassen, aber die darf es laut Senat einfach nicht geben.

Kahlfeldt: Herr Goebel, wissen Sie, wie breit diese Gasse hier geplant ist? (zeigt auf einen Plan)

Goebel: Ich nehme mal an: zehn Meter.

Kahlfeldt: Nein, sie wird nur sechs Meter breit! Sie arbeiten mit sehr vielen Unterstellungen, ich nehme an: weil Sie wenig Lust haben, sich mit dem Hier und Jetzt zu beschäftigen.

Goebel: Die Originalgasse maß vier Meter, Frau Kahlfeldt. Und anders als Sie meinen, beschäftige ich mich sehr mit der Gegenwart. Da sehe ich: Der Städtebau ist heutzutage unfähig, ein schönes Stück Stadt zu bauen. Das Problem ist, dass keine deutsche Stadt in den letzten Jahrzehnten Parzellenstädtebau betrieben hat. Stattdessen werden die Blöcke immer an einen einzigen Projektentwickler vergeben. Aber das verfehlt das Prinzip der europäischen Stadt. Nur einzeln gebaute und betriebene Häuser führen dazu, dass Herzblut in ein Quartier fließt. Wenn man den Senat und seine Wohnungsbaugesellschaft einfach machen lässt, dann mangelt es aber ganz eklatant an Herzblut.

ZEIT: Herr Goebel spricht an, was offenbar viele Menschen empfinden: dass ganz vieles, was neu gebaut wird, eintönig aussieht. Vielleicht ist das ein Grund dafür, warum in Umfragen eine Mehrheit sagt, sie bevorzuge traditionelle vor neuer Architektur.

Kahlfeldt: Die Gefahr, dass Neubau immer gleich aussieht, besteht natürlich. Deswegen arbeiten wir am Molkenmarkt in den Wettbewerben mit verschiedenen Architektengemeinschaften, um die gewünschte Vielfalt zu erzeugen.

ZEIT: Für manche ist historische Rekonstruktion etwas Negatives.

Kahlfeldt: Ja, in der Tat, das ist für manche Menschen ein Reizwort, aber ich glaube, das entsteht aus Unkenntnis. Für manche ist es das stumpfe Wiederholen einer Welt, die einfach vergangen ist.

ZEIT: Manche sehen in Rekonstruktion revisionistische Tendenzen am Werk und sprechen von »rechten Räumen«. Herr Goebel, was entgegnen Sie denen, die sagen, dass Sie die Wunden und Abgründe der Vergangenheit überdecken wollen?

Goebel: Das Gegenteil ist wahr. Einer der frühen Protagonisten der NS-Bewegung stammte aus diesem Viertel: Der Hauptpfarrer vom St. Nicolai hatte einen Sohn, der hieß Horst Wessel und ist in der Jüdenstraße aufgewachsen. Auf der anderen Straßenseite, mitten im Quartier, saß die Arisierungszentrale für den deutschen Grundbesitz. Alle Arisierungen des Deutschen Reiches sind da über die Schreibtische gegangen. Das Gebäude blieb bis 1956 als Teil des Katasteramtes Berlin in Betrieb. Auch auf diese Aspekte der Geschichte muss in der Planung unbedingt Bezug genommen werden, um sie sichtbar zu machen.

ZEIT: Wenn sie sich aussuchen können, in welcher Zeit der Baugeschichte sie leben könnten, welche Epoche wäre das?

Goebel: Das Jahr 1928. Die Stadt war weitgehend modernisiert und gegenwartstauglich.

ZEIT: Und Ihr Haus wäre ein Gründerzeitbau oder eher ein Rokoko-Palais?

Goebel: Bei Häusern gilt für mich: Je oller, desto doller.

Kahlfeldt: Bei mir wäre es auch die Zwischenkriegszeit, es war die Zeit einer in der Stadtbaugeschichte verankerten Moderne. Aber mein Gebäude wäre höher als das von Herrn Goebel.

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