FAZ

Berlin, 31. Mai 2011, von Günter Kowa

Leipzig lässt die Kirche in der Lobby 

Traditionalisten wollen reine Rekonstruktion, der Universität reichen reduzierte Zitate, der Architekt strebt  gar nach übertriebener Schönheit: Das Paulinum im Trubel der Endrunde.

Seit es nach fast zwei Jahren Bauunterbrechung am Leipziger "Paulinum" wieder vorangeht, nimmt ein denkwürdiger Kompromiss der unendlichen deutschen Rekonstruktionsdebatten endlich Gestalt an. Die Gründe, die zum Baustopp führten, waren, knapp zusammengefasst, die zeitweilige Insolvenz des Architekten Erick van Egeraat infolge der internationalen Finanzkrise, gefolgt vom Urheberstreit zwischen ihm und dem Bauherrn, dem Freistaat Sachsen, der den Bau weniger teuren und weniger detailverliebten örtlichen Architekten anvertrauen wollte.


Das Hin und Her begann schon mit dem Wettbewerb 2004, den van Egeraat 2004 im zweiten Anlauf gewann. Sofort zeigte sich, dass der Neubau der Universität am historischen Standort Augustusplatz keine nur staatliche oder universitäre Angelegenheit ist: Die Bürgerschaft forderte lautstark, die 1968 gesprengte Paulinerkirche, jahrhundertelang Aula der Universität, müsse originalgetreu wiedererstehen. Der "Paulinerverein" war stark genug, ein erstes Wettbewerbsergebnis zu kippen, bei dem die Münsteraner Architekten Behet und Bondzio eine Art Negativabdruck des gotischen Baus angeboten hatten. Doch trotz prominenter Fürsprecher wie dem Nikolaikirchenpastor Christian Führer oder dem Nobelpreisträger Günter Blobel wurde Leipzig doch kein zweites Dresden - der Fall Frauenkirche wiederholte sich nicht.

Es folgte der Kompromiss van Egeraats - kein fauler. Der holländische Architekt nennt sein Werk einen "Erinnerungsbau". Vielfältig wie das Gedächtnis ist denn auch seine Architektur: An der Fassade zum Augustusplatz hallen im Wechsel vertikaler Wand- und Fensterflächen Echos der klassizistischen Säulen- und Giebelfront des Augusteums von 1836 nach. Daneben wachsen steil die Umrisse der Paulinerkirche empor. Direkt zitiert wird aber nur deren einstiges Maßwerkfenster samt krönender Rosette; in einem Anflug von Architecture parlante hat van Egeraat beide aus dem Lot verschoben, um auf die Sprengung anzuspielen.

Was äußerlich als Allegorie des Verlorenen daherkommt, vermengt mit dem Pathos von Sühne und Wiedergutmachung, wird im Inneren unerwartet zum detailgetreuen Abbild: Van Egeraat baut eine dreischiffige gotische Hallenkirche mit Kreuzrippengewölben, Bündelpfeilern und spitzbogigen Fenstern. Der Wille zur allein seligmachenden Lösung bekommt einen merklichen Beigeschmack von Appeasement der Rekonstruktionslobby. Der Architekt freilich bezeichnet dies als "Idee-Umsetzung, nicht Material-Umsetzung". Sein Rezept dafür ist die Entstofflichung. "Ich will die Schönheit sozusagen übertreiben", sagt er, und verweist auf die Pfeiler und Gewölbe aus weißem Gipsguss. Letztere sind in Einzelteilen vorgefertigt, am Ort aber handwerklich nachbearbeitet, um maschinelle Gleichförmigkeit zu vermeiden; die Pfeiler wiederum lösen sich zum Boden hin in Glas auf, das mittels Dioden sphärisch strahlt.

Ein Kompromiss, wer wüsste das nicht, zieht weitere nach sich. Zum Beispiel den zwischen der Alma Mater, die anfangs eine Kopie der alten Universitätskirche ablehnte, und den kirchlichen Kreisen, die zwar Nutzer, aber nicht Bauherren oder Grundstückseigentümer, dafür aber Anhänger einer Rekonstruktion sind. Das staatliche Einschwenken auf van Egeraats Erinnerungsbau und somit dessen Finanzierung muss man ein Entgegenkommen, wenn nicht Stillhalteabkommen nennen.

Die Universität will eine Aula. Dafür hatte im Spätmittelalter und in den folgenden Jahrhunderten das Kirchenschiff genügt. Doch schon das anspruchsvollere 19. Jahrhundert baute das Augusteum samt neuer Aula. Mit dem Wiederaufbau der Kirche stellt sich das Problem erneut. Der Architekt löst es, indem er die Pfeiler der drei mittleren Joche auf halber Höhe kappt. Das soll Sichtfreiheit und Platz für Bestuhlung schaffen. Wie das aussieht, zeigt eine Computersimulation: Die Bündelpfeiler schweben wie Kronleuchter über den Köpfen. An dieser Stelle führt der funktionale Kompromiss den stilistischen ad absurdum. Die Paulinerlobby hat ihre eigenen Gründe, gegen diese Lösung Sturm zu laufen. Sie will die Kirche, und nicht die "Aula im Paulinum", wie die Uni es nennt. Die Pauliner fordern also die vollständigen Pfeiler und gleich die alte Kanzel mit. Die ist zwar nur noch in wenigen Resten vorhanden, aber es geht ja ums Prinzip.

Die Universität dagegen hält einen "Andachtsraum" für ausreichend. Als solcher soll nach ihrem Urteil der Chor fungieren. Den aber will sie zugleich als Resonanzraum ihrer Geschichte nutzen: Die Kustodie will die geretteten barocken Epitaphien (steinernen Gedenktafeln) an Geistesgrößen der Alma Mater zwischen Seiten- und Mittelschiff hängend präsentieren. Um den aufwendig restaurierten Stücken das beständige Raumklima zu garantieren, braucht es eine gläserne, bewegliche Trennwand, in der die Pauliner-lobby ein Hindernis dafür sieht, die Kirche ungeteilt für Gottesdienste zu öffnen.

Während der Ausgang dieser Kompromissdebatte noch offen ist, scheint niemandem in Leipzig aufzufallen, was derÖffentlichkeit mit den Räumen, die in den drei Stockwerken unterm steilen Pseudokirchendach entstehen, entgeht: Aus Panoramafenstern ringsum bieten sich atemberaubende Blicke auf die Stadt. Die aber sollen den Instituten der Mathematik und Informatik vorbehalten bleiben. Den Mitarbeitern in endlosen Reihen von Computerarbeitsplätzen sei's gegönnt - doch hier wird die Chance für eine einzigartige öffentliche oder zeremonielle Funktion verspielt.

Im Jahr 2013 soll das Paulinum nach dem Einbau der prachtvollen Orgel eröffnet werden. Dass dann, wie van Egeraat meint, jeder erkennt, was er sehen will - Aula oder Kirche -, ist angesichts der sakralen Konnotationen zu bezweifeln. Es wäre schon viel gewonnen, wenn trotz aller Kompromisse ein suggestiver Raum entstünde.

 

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Berlin, 31. Mai 2011, von Günter Kowa

 

Leipzig lässt die Kirche in der Lobby