FAZ

12. Juli 2011 - Von Fritz Wenzel

Restaurierung von Bauwerken
Mit Gespür und High-Tech
Bei der ingenieurtechnischen Instandsetzung historisch bedeutsamer Bauwerke sind Sensibilität gegenüber dem kulturellen Erbe, Blick für das Nötige und Bereitschaft zur  Suche nach einfachen Lösungen gefragt.


So wenig wie möglich und nur so viel wie nötig zu verändern, dieser Grundsatz der Denkmalpflege verpflichtet den Bauingenieur, bei der Reparatur alter Baugefüge Zurückhaltung zu üben. Das gelingt nicht immer. Fehlende Kenntnis von Konstruktionen, wie sie Altbauten zu eigen sind, Unerfahrenheit in der Sanierungspraxis und Fixierung auf Normen und Vorschriften führen nicht selten zu Eingriffen in die historische Bausubstanz, die viel von dem zerstören, was eigentlich geschützt werden soll. Doch Beispiele zeigen, dass es auch anders geht. Sie stammen von Bauwerksinstandsetzungen in Mecklenburg-Vorpommern.

Zuerst zum Schweriner Schloss. Seine fünfflügelige Anlage ist, von Gärten umgeben, der Stadt auf einer Insel vorgelagert und mit Brücken verbunden. Die vielgestaltigen, pentagonförmig aneinandergereihten Schlossbauten stehen nicht fest, sie setzen und senken sich ungleichmäßig, ihr Mauerwerk reißt auseinander. Dafür gibt es mehrere Gründe: den Untergrund aus weicher Mudde, die Lasten der Baukörper, das Gewicht wiederholter Erdaufschüttung. Mudde und Aufschüttung sind von wechselnder Dicke, die Schlossbauten unterschiedlich schwer. Die größten Setzungsunterschiede zwischen unmittelbar aneinander grenzenden Bauten betragen bis zu zwei Millimeter im Jahr und waren im Laufe der Zeit auf nahezu 30 Zentimeter gewachsen. Auch die Verschiedenartigkeit der Gründungen trug zu den Setzungsunterschieden bei. Die älteren Gebäude, aus dem 16. Jahrhundert, sind flach gegründet, die neueren, aus dem 19. Jahrhundert, stehen auf einer Vielzahl eng gesetzter Holzpfähle. Schließlich finden sich auch Holzreste des Slawenwalls unter dem Schloss.

Es hatte Überlegungen zu einer starren Nachgründung der gesamten Schlossanlage gegeben, mit langen Pfählen aus Stahlbeton, die tief durch die Mudde hindurch in den tragfähigen Sand hinunter reichen. Die dafür notwendigen Eingriffe in die Baugefüge hätten große Verletzungen am historischen Baubestand angerichtet, und sie wären auch im Erdreich risikoreich geraten, vor allem dort, wo ihnen auf der Landseite des Schlosses die vielen alten Holzpfähle als Bohrhindernisse im Weg gestanden hätten.

Gründliche Untersuchungen führten stattdessen zu einer Lösung, die mit weniger Eingriffen, Risiken und Kosten auskommt und mehr Erfolg verspricht: einer weichen Gründungsverbesserung, die differenziert auf die jeweils örtliche Situation des Bauwerks und des Baugrunds eingeht. Der alten, zumeist flachen Gründung unter den schadhaften Flügeln des Schlosses auf der Seeseite und unter den schweren Türmen wurden nachgiebige, zum Teil auch nachstellbare Kleinbohrpfähle aus Stahlbeton zugesellt. Sie ergänzen die alte, zu schwache Gründung, ohne sie außer Kraft zu setzen.

Die Muddeschicht unter dem Vorhof konnte, der dort geringen Überbauung wegen, mit Düsenstrahlsäulen aus Injektionsbeton durchsetzt werden, die schwere Erdaufschüttung im Bereich der Orangerie ließ sich durch leichteres Material ersetzen. Die landseitigen Flügel des Schlosses, die keine wesentlichen Setzungsschäden aufwiesen, benötigten keine Gründungsverbesserung.

Die Arbeiten erstreckten sich über Jahre, sie konnten jetzt zu Ende gebracht werden. Kontrollmessungen ergaben, dass bereits eine erste Beruhigung und Vergleichmäßigung der Setzungen des Schlosses eingetreten ist. Dabei "schwimmt" es zu großen Teilen weiter auf nachgiebigem Grund. Drei bis vier Generationen werden die verminderten Setzungsdifferenzen aller Voraussicht nach klein genug bleiben, dann mag, weil die Differenzen örtlich wieder angewachsen sind, abermals Hilfe gefragt sein. Die Sorge um den Bestand des Schweriner Schlosses können die Bauingenieure des für die Gründungsverbesserung verantwortlichen Karlsruher und Schweriner BfB Büros für Baukonstruktionen, Jürgen Haller, Rudolf Käpplein und Michael Goldscheider, mit den jetzigen Maßnahmen mildern - sie auf Dauer abnehmen können sie sie mit den derzeit zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten jedoch nicht. Solches zu versprechen wäre, trotz aller Ingenieurkunst, unseriös.

Bleiben wir noch etwas beim Schweriner Schloss, sprechen wir von seiner Orangerie. Ihre Gusskonstruktion war verrutscht und verformt, an einigen Stellen waren die Eisenstäbe gerissen. Das Alter des filigranen Gefüges war ablesbar und auch, dass und wie es sich mit der Zeit dem weichen Grund angepasst hatte. Es war daran gedacht, die aus dem Lot geratenen Stützen und Träger samt Dach und Fensterwänden abzubauen, sie in die Werkstatt zur Reparatur zu fahren, die Fundamente zu richten und das ganze Gerippe dann wieder aufzustellen, korrekt und gerade, wie es früher einmal war.

Korrekt und gerade? Drei der Dimensionen des Gefüges wären exakt wiederherstellbar gewesen: Länge, Breite, Höhe. Aber wo wäre die vierte Dimension des Bauwerks geblieben, die Zeit? Sie war doch eben noch wahrnehmbar, an den Verrutschungen, Verformungen und den Rissen. Und nach dem Wiederaufbau nicht mehr? Aus dem Gefüge verbannt? Aus Alt mach Neu?

Die Instandsetzung fiel anders aus, es wurde im Wesentlichen eine In-situ-Reparatur, ohne Rückverformung. Die Auflager für die verrutschten Träger an den Stützen wurden verbreitert, unauffällig, erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Ebenso unauffällig wurden Dübelleisten, wie es sie im Maschinenbau gibt, in die gusseisernen Träger eingebohrt und eingefräst. Damit ließen sich die Risse überbrücken, zugfest, ohne sichtbare Laschen und Schrauben. Andere bauliche Korrekturen kamen dazu, auch sie zurückhaltend. Die Spuren der Zeit konnten bewahrt werden.

Noch einmal mit Rudolf Käpplein zu einer Gusskonstruktion, zur Wendeltreppe im Schinkelturm des Jagdschlosses Granitz auf Rügen. Ein leichtes Schwingen der ornamental durchlöcherten Stufen, verbunden mit einem Blick in die Tiefe, lässt beim Auf- und Abstieg leicht ein Gefühl des Schwebens aufkommen, dem sich nicht jeder anvertraut.

Nach und nach kommt es in den Trittflächen der Treppe zu Brüchen. Behutsame Reparatur der kunstvoll gefertigten Stufen ist angezeigt, ein Verschweißen des Gusseisens an Ort und Stelle aber materialtechnisch nicht möglich. Ein vollständiges Abbauen würde die fragile Treppe nicht überstehen. Der Ersatz durch eine neue Treppe wiederum brächte den Verlust authentischen Gussmaterials und unwiederholbarer Leichtigkeit mit sich, dazu eine längere Sperrung des Turms und hohe Kosten.

Gefunden wurde eine andere Lösung. Es wurde ein kurzes, auf die Treppe aufsetzbares Gerüst entwickelt, mit dessen Hilfe sich einzelne brüchige Stufen auswechseln und später, nach ihrer Reparatur in der Werkstatt, wieder einbauen lassen. In der Zwischenzeit - das Gerüst ist wieder entfernt - tut an ihrer Stelle eine eingeschobene Ersatzstufe ihren Dienst. So kann die alte, filigrane Treppe bei Bedarf Stufe für Stufe repariert und im Ganzen bewahrt werden. Der Weg hoch in den Turm bleibt dem Besucher jeweils nur für wenige Tage verwehrt. So weit das Materielle. Aber auch das Immaterielle, das von dieser Treppe ausgeht und im Gedächtnis bleibt, das Gefühl leichten Schwebens, geht nicht verloren.

Weniger kann mehr sein. Das gilt auch für die eher alltäglichen Sanierungsaufgaben, wie die Instandsetzung der mecklenburg-vorpommerischen Dorfkirchen. Die Mittel sind knapp, Architekten und Bauingenieure müssen sich mit den Eingriffen in das alte Baugefüge bescheiden. Den Bauten tut das oftmals gut, die Reparaturen geraten dann einfach und zurückhaltend. Vorherige Erkundung des Baugrunds und gründliche Untersuchung und Einschätzung des alten Bauwerks - am besten nach den Regeln des Arztes: Anamnese, Diagnose, Therapie, Prognose - sowie das Hinzuziehen wissenschaftlich-technischer Kenntnisse, die, praxisorientiert, in letzter Zeit für altbaugerechtes Reparieren aufbereitet wurden, können auch hier zu mehr Planungs- und Kostensicherheit führen. Schließlich kann auch frühe Mitsprache des Bauingenieurs bei der Planung des Architekten helfen, die neue Nutzung dem alten Gefüge bestverträglich zuzuweisen. Das bewahrt alte Substanz und spart Kosten.

Als Letztes der Wiederaufbau von St. Georgen in Wismar. Hier sollen zwei Aspekte angesprochen werden, die bautechnische Einschätzung des Bestands und die Kongruenz von technischem Konzept und Gesamtkonzept. Bei der bautechnischen Einschätzung war die Frage strittig. Nachgründen der alten Fundamente oder nicht? Auch wenn die Außenfundamente die frostsichere Tiefe, die heute für Neubauten gefordert wird, nicht erreichen, und auch, wenn unter den Fundamenten der Innenpfeiler die nach heutiger Norm zulässige Bodenpressung nicht eingehalten ist: St. Georgen steht seit mehr als 600 Jahren. Zwar ist das große, auch als Ruine noch schwere Bauwerk nicht im tieferliegenden Sand gegründet, sondern im höherliegenden Schluffton oder in der Erdauffüllung darüber. Trotzdem zeigt es aus dieser langen Zeit nur wenige Setzungsrisse und aus den vergangenen Jahrzehnten so gut wie keine mehr. Bauwerk und Baugrund haben sich konsolidiert. Wäre das weiche Gleichgewicht, in dem sich beide schon seit langem befinden, durch steifere, den heutigen Normen entsprechende Nachgründung gestört worden, wäre Unruhe in das Mauergefüge gekommen und es hätte Verformungen und Risse gegeben.

Es wurde heftig gestritten. Dann verständigten sich die verantwortlichen Architekten, Bauingenieure und Bodengutachter, eine im Chor lokal vorgenommene Gründungsverbesserung nicht weiter fortzusetzen, Schiff und Westfront nicht nachzugründen, jedoch den Bau einige Jahre verstärkt unter Kontrolle zu halten. Das ist geschehen, hat Verformungsfestigkeit gezeigt und Sicherheit vermittelt. Die Eingriffe in die historische Substanz konnten gering gehalten werden, und es sind hohe Kosten vermieden worden.

Der Wiederaufbau von St. Georgen ist nicht abgeschlossen, Turm und Altar stehen noch in Frage. Aber ein erstes Ziel ist erreicht, der Kirchenraum ist wieder aufgebaut, es gibt Konzerte, Kongresse, Tagungen und Ausstellungen, Festveranstaltungen. Restauriert worden ist nur wenig, der Raum hat seine Narben behalten, er zeigt sie nicht aufdringlich, aber sie sind erkennbar. Die ingenieurmäßig unterstützte, handwerkliche Reparatur der Wände und Pfeiler samt Ergänzung der zerstörten Gewölbe fand nahtlos mit dem Gesamtkonzept eines unprätentiösen Wiederaufbaus zusammen. Nachempfunden ist frühere Zeit im Kirchenraum nicht. Dem Irrglauben, "wenn alles wieder so wird, wie es einmal war, dann wird alles wieder gut", diesem Irrglauben ist der Wiederaufbau nicht gefolgt. St. Georgen verleugnet nicht die Zeit, die vergangen ist, die Zeit seines Bestehens, seiner Zerstörung, seines Wiederaufbaus. Dass dieses gelang, ist, neben den Architekten von Angelis & Partner und anderen Beteiligten, Gottfried Kiesow und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz, Rosemarie Wilcken als langjähriger Wismarer Bürgermeisterin und Wolfgang Ferdinand, dem verstorbenen Kirchenbaumeister, zu verdanken.

Zum Schluss, aus eigener Erfahrung, noch ein Wort zum Miteinander von Bauingenieur und Denkmalpfleger bei der Reparatur und Instandsetzung historisch bedeutsamer Bauwerke. Der Denkmalpflege kommt eine doppelte Rolle zu, als Part und als Widerpart. Wir Bauingenieure sind, genau wie die Architekten, auf die Zustimmung der Denkmalbehörde zu unseren Plänen angewiesen. Wir brauchen im Planungsprozess aber auch denkmalpflegerischen Zweifel und Widerspruch. Mögen diese auch unbequem sein, so zwingen sie uns doch zu nochmaligem Überprüfen der bisherigen Planung, zum Nachdenken über noch einfachere Lösungen, zur Suche nach dem Weniger, welches Mehr sein kann.

Der Verfasser vertritt das Fachgebiet "Erhalten historisch bedeutsamer Bauwerke" in Forschung, Praxis und Lehre.