Verwegen: Eine Charta zur historischen Mitte Berlins
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Januar 2013 von Andreas Kilb

Da sitzen vier Leute, ein Historiker, ein Journalist und zwei Stadtplaner, im großen Saal einer Privatgalerie hinter dem Roten Rathaus und stellen eine "Charta für die Mitte von Berlin" vor. Wovon handelt sie? Von der Wiedererweckung der Stadt. Ja, schläft sie denn immer noch? In der Tat, das tut sie. Zur Illustration läuft ein kleiner Film, der den Stand der Dinge zwischen Alexander- und Schlossplatz, also dort, wo einmal das älteste, ursprüngliche Berlin lag, vor achtzig Jahren und heute an wichtigen Beispielen zeigt. Damals: Häuser, Läden, Plätze, Passanten, Kaufhäuser, Denkmäler, Kirchen. Heute: Autos. Ampeln. Sechsspurige Straßen. Bauzäune. Brachen. Verlottertes Grün.

 

In ganz Europa, auf der ganzen Welt vielleicht gibt es keine Hauptstadt, die so konsequent entkernt worden ist wie die Metropole an der Spree. Wo in Paris die Seine-Insel, in London der To- wer, in Rom der Trevibrunnen liegt, da pfeift in Berlin der Wind durch die Steppe. Zweimal ginge der Rote Platz in das Nichts hinein, das zwischen Rotem Rat- haus, Fernsehturm, Schloss und Mari- enkirche gähnt. Die DDR hat diese im Zweiten Weltkrieg zerbombte Fläche erst abgeräumt, dann mit zehnstöckigen Hochhäusern bekränzt und mit Ra- senflächen und lose eingestreuten Kul- tursplittern aufgefüllt: hier der Neptunbrunnen von Begas, dort das Marx-Engels-Denkmal von Ludwig Engelhardt. Westwärts wölbte sich, wie eine giganti- sche Schallschutzmauer, der Großbaukasten des Palastes der Republik.

Aber dieser Kasten ist weg. an seiner Stelle entsteht mittlerweile das rekonstruierte Berliner Schloss. Und wie im- mer, wenn ein Bauprojekt das Gesicht der Stadt verändert, bringt das Schloss auch sein Umfeld in Bewegung. Das so- genannte Marx-Engels-Forum und sei- ne trostlose Verlängerung zum Alexanderplatz hin werden durch den Neubau erst richtig als das sichtbar, was sie sind: Leerstellen. Windkanäle. Nicht- räume. Dazu kommt, dass die sozialisti- sehe Geschichtswäscherei eben doch nicht alle Spuren beseitigt hat. Vor drei Jahren kamen bei Bauarbeiten für die neue U-Bahn-Linie 5 die Gewölbe des mittelalterlichen Rathauses zum Vor- schein. Im Keller, der von einem benachbarten Mietshaus übrig war, fand man ein halbes Dutzend Werke "entarteter" Kunst. Auf einmal merkte man, dass unter den Brachen etwas lag, das man jahrzehrueläng verdrängt hatte: die historische Mitte Berlins.

An diesen Aha-Effekt wollen die Verfasser der Charta anknüpfen. Benedikt Goebel, einer ihrer Verfasser, ist der Kurator der Ausstellung .Berlins vergesse- ne Mitte", die 2011 zum Publikumser- folg wurde; er spricht von einem Areal, das "Platz für viele Plätze" biete, und von Ansprüchen beraubter jüdischer Vorkriegseigentümer, einer Schuld, die "unter dem Pflaster" liege. Der Stadt- planer Harald Bodenschatz fordert einen "neuen Sinn" für die Mitte der Stadt; sein Kollege Eberhard von Einem erklärt, man müsse Sicherungen einbauen, damit der Ansturm von Investoren nicht zu Wildwuchs und Geklotze führe. Bis zu viertausend Wohnun gen, Läden, Cafes und Restaurants, so von Einem, könne man auf dem Areal unterbringen. Die Stadt Berlin, sollte man denken, müsste sich die Finger da- nach lecken, Aber die Berliner Baupolitik, als deren intellektueller Kopf die Senatsbau- direktorin Regula Lüscher agiert, hat eine nostalgische Liebe zur Leere im Herzen der Stadt. Die Blickachsen die der Sozialismus geschaffen habe, m'üss- ten bleiben, erklärt Lüscher immer wie- der, obwohl man vom Schloss aus Rich- tung Alexanderplatz nicht mehr sieht als die Seitenfront des S-Bahnhofs und ein paar nackte Hochhauszähne im Hin- tergrund. Auch am realsozialistischen Denkrnalwesen möchte Lüscher festhal- ten; wie eine Löwin kämpfte sie für den Verbleib des Neptunbrunnens, der für den Schlossplatz geschaffen worden war, auf der Freifläche vor dem Roten Rathaus. In dem bis 2025 reichenden Entwicklungsplan für die Berliner Mitte, den sie kürzlich vorstellte, sind für die Randzonen am MoIkenmarkt und am Petriplatz Neubauten vorgesehen, das Areal. im Zentrum jedoch, das Herzstück Alt-Berlins, bleibt leer. Vor ein paar Jahren schlug ein Witzbold vor, die gesamte Fläche mit einem riesigen Wasserbecken zu füllen; der Senatsbaudirektorin, die das Konzept öffentlich vorstellte, gefiel die "große Geste".

Die Initiatoren der "Charta für die Mitte von Berlin" haben andere Vorstellungen. Damit es beim Blick in den Osten vielleicht doch 'etwas zu sehen gibt, wollen sie Carl von Gontards Königskolonnaden aus Schöneberg an ihren alten Standort an der Stadtbahntrasse zu- rückversetzen. Schlüters Reiterstandbild des Großen Kurfürsten soll aus Charlottenburg auf die neue Rathausbrücke zurückkehren und die mittelalterliche Gerichtslaube aus Babelsberg vor dem Roten Rathaus aufgestellt werden. Das klingt verwegen. Aber ohne Verwegenheit bringt man in Berlin nichts in Gang. Die Senatsbaudirekterin, deren Mut sich auf die Verteidi-gung der Relikte einer längst ebenfalls historischen Moderne zu heschränken scheint, sollte sich die "Charta" gut durchlesen.

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