Friedrich der Große hat es errichtet, die Bomben des zweiten Weltkriegs haben es beschädigt, das DDR-Regime hat es gesprengt: das Potsdamer Stadtschloss. Nun ist es wieder aufgebaut und soll als Landtag dienen - am Wochenende wird es eröffnet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18.01.2014  von Dieter Bartetzko

Wer bisher Potsdam als die Perle des preußischen Barock und Klassizismus erleben wollte, schloss bei der Ankunft am besten die Augen. Denn die Bomben des Zweiten Weltkriegs und die Sprengkommandos der DDR hatten das hinreißende Entree der Stadt ausradiert: Statt des Stadtschlosses, des palaisumstandenen Alten Markts und des die Havel säumenden Lustgartens gähnte eine winddurchtoste Brache. Über sie wälzte sich eine achtspurige Verkehrsstraße. Und an ihrem Rand fröstelten, als verlorene Solitäre restauriert, das Rathaus und das Knobelsdorff-Haus, suchte die mächtige Kuppelkirche St. Nikolai vergeblich Halt in umgebender Bebauung.

 

Nun ist alles anders: In Farben wie Himbeer und Milchkaffee, mit samtig schimmernden Dächern, feierlichen Skulpturen, Reliefs und wehenden Bannern grüßt das rekonstruierte Stadtschloss. An diesem Wochenende wird es als brandenburgischer Landtag eröffnet.

Unauffällige Veränderungen
Dass sein Architekt Peter Kulka auf Geheiß des Landtags ein Drittel mehr Raumvolumen unterbringen musste, war die Nagelprobe seines Könnens. Er hat sie bestanden: Kulka errechnete aus dem 1751 vollendeten Barockbau des Genies Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff ein Grundmodul, dank dem er im Innenhof ohne Störung der Gesamtproportion zusätzliche Risalite einfügen konnte. Sie und ein neues Dachgeschoss, das hinter der hohen Attika - dem umlaufenden obersten Gesims - verborgen ist, gewähren Zuwachs sogar über die gegenwärtigen Bedürfnisse hinaus.

Viele Potsdamer und Architekturliebhaber, die sich mit der Geschichte und der Gestalt des 1960 gesprengten Baus beschäftigten, übten Detailkritik. Daran zum Beispiel, dass Kulka, um die Dachetage zu belichten, die Attika mit Fenstern perforiert hat, dass man auf Repliken der prächtigen Innenräume verzichtete und dass unklar ist, ob die 1960 geborgenen, an Berlins Humboldt-Universität wiederverwendeten Fassadenskulpturen zurückkehren. Zentnerlasten also für Kulka. Zu schweigen davon, dass der Landtag als Bauherr notgedrungen so knauserig vorging wie weiland Friedrich der Große, der aus Geldnot seinen Architekten Knobelsdorff regelrecht gängelte und zuletzt zum Erfüllungsgehilfen degradierte.

Nichts davon, wenn man nun das auferstandene Schloss anschaut. Hauptsache, das Schloss ist wieder da und gibt der Stadt ihre historische Mitte zurück. Und die Fehlstellen und die neuen Zutaten fallen kaum auf. So denkt man - und ist damit mitten in der Grundsatzdebatte heutigen Bauens. Vor nicht allzu langer Zeit nämlich hätte ein solches Urteil Denkmalpfleger und Architekten, wenn nicht das Amt, so doch das Ansehen gekostet.
Noch war international die „Charta von Venedig" in Kraft, die Rekonstruktionen nur als Ausnahme und nur, wenn zirka ein Sechstel der Originalsubstanz vorhanden und der millimetergenaue Nachbau des übrigen gewährleistet war, zuließ. Die Charta verblasste, als in Deutschland das Rekonstruktionsfieber der Postmoderne grassierte, dem Frankfurt seine fachwerkselige Römerberg-Zeile, Hildesheim sein auferstandenes Knochenhaueramtshaus samt kopiertem Marktplatz, Berlin die Postkartenidyllcollage des Nikolaiviertels und Mainz seinen Domplatz verdankt, an dem mangels Geld nur steinerne Abziehbilder der 1942 pulverisierten Fassaden auf Häuser der fünfziger Jahre geklebt wurden.

Kaum war dieses Fieber abgeebbt, als mit der Wiedervereinigung alle Dämme brachen: Der Nachbau der Frauenkirche war sofort beschlossen, bald darauf auch der des Berliner Stadtschlosses. Der Westen Deutschlands zog nach: Braunschweigs Schloss kehrte als Fassadenhülse einer Mall zurück, Hannover leistete sich eine Betonreplik des Herrenhausener Schlosses, Nürnberg baute ein Miniaturschloss für seinen Hirsvogelsaal und rekonstruiert derzeit die prunkvollen Arkaden und Rückfronten seines Pellerhauses.
Analog zur rasant steigenden Zahl der Nachbauten sank die Messlatte für deren Qualität tiefer. Grellstes Beispiel ist Dresdens Neumarkt rund um die rekonstruierte Frauenkirche, ein Konglomerat aus Betoncontainern über Tiefgaragen, dem Kopien der einstigen Barockfassaden vorgeblendet sind.

Interpretation statt Kopie
Auch für Potsdams Schloss war eine Tiefgarage ein Muss. Genau mit ihr aber wurde der Nachbau schon zur Wendemarke im aktuellen Fassadismus: Peter Kulka, der sich 1994 mit dem preisgekrönten gläsernen Sächsischen Landtag in Dresden als Meister der Zweiten Moderne, und mit der Rekonstruktion und Moderne verbindenden Restaurierung des Dresdner Schlosses als Mittler zwischen Alt und Neu bewährt hat, schonte nach dem Ausheben der Baugrube Fragmente aus der Zeit des Großen Kurfürsten, des Urgroßvaters von Friedrich dem Großen: Unter Glas sind der steinerne Plattenboden und Pfeilersockel einer barocken Halle konserviert. Ebenfalls im Untergeschoss, gleichsam der Tiefgarage abgetrotzt, gibt es einen neuen „Raum der Stille", anmutend wie eine uralte Krypta, aber licht und schwerelos wie nur je ein Raum der Moderne.
Genau so hat Kulka die gesamte innere Architektur gestaltet - weiß, schnörkellos, zeitlos und zeitgenössisch zugleich. Dieses die Vergangenheit nicht kopierende, sondern interpretierende Bekenntnis des Architekten und der Bauherren zur Gegenwart hat nicht nur für Potsdam und Brandenburg Gewicht, sondern auch für die gesamte Republik. Denn Potsdam ist, ob man will oder nicht, die Generalprobe für das wiedererstehende Berliner Schloss, das ein bundesdeutscher Schlüsselbau werden soll.

Eines muss noch angemerkt werden: Das eigentliche Fanal zum nun vollendeten Wiederaufbau setzte Günther Jauch. Mitten in die damalige Wüstenei ließ er 2001 auf eigene Kosten den Nachbau des Fortunaportals setzen; eine geradezu surrealistische Szenerie, die mit ihrer im Nichts schwebenden Kuppel und den von Fanfarenbläsern gekrönten, in die Leere führenden Rundbögen nach dem Wiederaufbau des Schlosses förmlich schrie. Das Beispiel des Fernsehmoderators fand Nachfolge: 2007 spendete der SAP-Milliardär Hasso Plattner 20 Millionen Euro „zur größtmöglichen Wiederannäherung des Landtagsgebäudes an Gliederung und Erscheinung der äußeren historischen Fassade des Potsdamer Stadtschlosses". Plattner war es auch, der 2011 mit einer weiteren Spende von 1,6 Millionen Euro sicherstellte, dass der Nachbau wieder mit Kupfer, und nicht, wie aus Spargründen vorgesehen, mit Zink eingedeckt wurde.

So gewann das Schloss im Äußeren bestrickende Gestalt. Sie gipfelt im Miteinander der rekonstruierten und der geretteten Originalteile - immer wieder erkennt man an den sandsteinernen Säulen und Kapitellen geschwärzte Partien; Zeichen des Kriegsbrands und Zeugen der Geschichte. Ihre Botschaft gipfelt in Skulpturen, denen Gesichter oder Gliedmaßen fehlen - gut, dass Peter Kulka sie in ihrem versehrten Zustand belassen durfte. Sie sorgen für den unerlässlichen, mahnenden Tropfen Wermut im Champagner der Wiedergeburt.
Dies trauerndes Gedenken und zuversichtlichen Wiederbeginn einende Konzept prägt auch das Treppenhaus am Ende der Mittelachse, die vom Fortunaportal zum Mitteltrakt des Schlosses führt. Hinter dem nach historischem Vorbild niedrigen Bronzeportal öffnet sich eine doppelläufige, elegant rund schwingende Treppe. Weißer, hellgrau geäderter griechischer Marmor für Böden und Stufen, flirrend weiß die von halbrunden Fenstern und ovalen Oculi durchbrochenen Wände. Überspannt wird der Raum von einer flachen Kuppel. All das sind unverkennbar die tanzenden Konturen des einst berühmten Treppenhauses, dem aber einiges fehlt: die graziösen schmiedeeisernen Gitter, der üppige Stuck und das himmelstürmende Deckengemälde. Der Verzicht kommt einer ergreifenden neuen Raumatmosphäre zugute: In den vier Ecken schweben hoch oben die geborgenen steinernen Atlanten des Originalraums. Kostbar wie vielleicht noch nie stemmen sie sich unter das Gesims, verweisen, wie die allegorischen Bronzereliefs zwischen ihnen, auf das Schicksal von Schloss und Stadt.
Es folgt, ebenfalls weiß und mit Marmorboden, das Foyer, in dem gegenwärtig eine umstrittene Ausstellung des Künstlers Lutz Friedel mit neoexpressionistischen Porträts deutscher Helden und Unholde Debatten auslöst, die das noch immer verspannte Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte bezeugen - nicht das Schlechteste, um einen Landtag zu eröffnen.

Dann das Herz des Gebäudes, der zwei Geschosse übergreifende Plenarsaal. Weiß die Wände, der Boden und die herrliche, von Kulka geschaffene Kuppel, rot die amphitheatralischen Sitzreihen der Parlamentarier und die der Besucherlogen - Rot und Weiß, die Farben Brandenburgs. Hinter dem Rednerpult, überfangen vom (gleichfalls schneeweißen) brandenburgischen Adler, setzt die Bronzetür, die zum ehemals gartenseitigen, mit einer Veranda und Treppen geschmückten Austritt des Schlosses führt, ein markantes Zeichen. Hinter ihr drängt die tosende Kurve der Verkehrsachse ans Schloss. Immerhin: vom ständig belebten Bürgersteig aus können die Passanten direkt hinein zum arbeitenden Landtag schauen.

Störend wie Taubenkot auf der Stirn einer antiken Marmorstatue, Triumph dickfelliger Baubehörden, sitzt mitten auf der Bronzetür des Plenarsaals das jedermann bekannte, grellgrüne Leuchtzeichen mit Fluchtwegmarkierung. Dafür kann man Peter Kulka nicht verantwortlich machen. Vielleicht aber für die beklemmenden, enorm gedrungenen Proportionen der unteren Verteilerhalle. Doch diesen Missgriff machen die beiden neuen Treppenhäuser wett, die er für die Abgeordneten und die Öffentlichkeit an die beiden Seiten des Mitteltrakts gestellt hat. Wie gewaltige Raumskulpturen erheben sie sich in gegenläufigen Zickzack vom Erd- bis zum Dachgeschoss.

Der - stattliche - Rest sind Büros, Konferenzräume, Besprechungszimmer und die intime Kantine mit Dachterrasse. Von ihr schaut man über die Dreiflügelanlage und das Fortunaportal hinüber zum Alten Markt. Auch er soll wiedererstehen. Vorgesehen ist ein Mischkonzept aus drei rekonstruierten Palais und ambitionierten Neubauten - Kulkas sinnvoll zwischen einst und jetzt changierender Schlossbau macht also schon Schule.

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