Gastkommentar zum Städtebau
Neue Züricher Zeitung vom 28.01.2015 von Marc Jordi, Architekt

Soll der Boden effizient genutzt werden und soll bauliche Dichte auf eine menschenfreundliche Weise realisiert werden, müssen wir uns von ländlichen Siedlungsformen lösen.

Im schweizerischen Mittelland wird über Dichtestress geklagt, auch wenn man im internationalen Vergleich noch nicht von einem wirklich dichten Ballungsraum sprechen kann. Im Ländervergleich ist die Schweiz sogar weniger dicht besiedelt als Deutschland.

Nur ist der nüchterne Vergleich das eine, und die Wahrnehmung der Bevölkerung, die überfüllte Züge und Strassen im Mittelland beklagt, ist das andere. So heisst die Lösung: weg von den Pendlerströmen hin zu Wohnen, Arbeiten und Freizeit an einem Ort – dem Stadtquartier.
Schaffen Hochhausprojekte die erwünschte Urbanität?

In der Fachpresse der Architekten werden jedoch unter der Überschrift «Urbanität» meist Hochhausprojekte angeführt, die nur dadurch auffallen, dass sie ihr Umfeld überragen und als Landmarken Internationalität versprechen sollen. Doch wird in diesen Neubaugebieten jemals ein Stadtquartier entstehen können? Mit wenigen Ausnahmen, zu denen vielleicht das etwas sterile neue Quartier am Rapidplatz in Dietikon gehört, meist nicht.

Es sind einmal mehr Gemenge von Siedlungen entstanden, die im besten Fall von einer intellektualisierten Ästhetik der Agglomerationsräume zeugen. Der grosszügige, etwas chaotische, aber anregende Zwischenraum mit verwunschenen Pflanzgärten und allerlei Nischen ist durch den Druck der Vermarktung zum reinen Funktions- und Abstandsraum geschrumpft. Die logische Konsequenz, die aus der zunehmenden Dichte resultieren würde, nämlich die Annäherung an geschlossene Bauweisen und die Schaffung von Höfen mit Aufenthaltsqualität statt von blossen Abstandsflächen, in denen sich der zunehmende Verkehrslärm verfängt, blieb bisher aus.
Neue Stadtquartiere sollten sich die gewachsenen Altstädte zum Vorbild nehmen

Die urbane Mischung und städtische Atmosphäre mit Läden und Cafés im Erdgeschoss und ruhigen Höfen ist heute nicht mehr umsetzbar – zumindest legt das die normative Kraft des Faktischen nahe. Dabei könnte die Schweiz sehr wohl an ihre unversehrten, in ihrer Grundstruktur meist noch mittelalterlichen Städte anknüpfen. Auch diese waren nicht von Anfang an baulich so dicht wie heute. Oft befanden sich hinter den Stadtmauern Gärten und Bauten. Erst die zunehmende Verdichtung, bedingt durch Bevölkerungszunahme und Begrenzung, liess die Kernstadt zu dem werden, was wir heute schätzen. Geschlossene Strassenzüge mit Häusern unterschiedlichster Epochen und schlichter oder reich verzierter Architektur sind reizvoll und sprechen auch moderne Menschen mit ausgeprägtem Sinn für Individualität an.

Doch nicht nur die Altstädte, sondern auch neuere Stadtquartiere weisen diese Vielfalt in der Einheit auf. Man denke zum Beispiel an das Stadtquartier Matthäus in Kleinbasel. Mit im Schnitt nur vier Geschossen und überschaubaren Parzellengrössen weist es eine der höchsten Bevölkerungsdichten in der Schweiz auf. Das liegt auch an einer kleinteiligen Struktur der Wohnungen im ehemaligen Arbeiterviertel, in dem heute rund die Hälfte der Bewohner Migrationshintergrund hat.

Im Matthäus-Quartier finden sich unterschiedliche Architekturen und Wohnraum für jedes Budget. Derartige Wohnstrukturen genauer zu untersuchen und sie mit heutigen Modellen für Lebensgemeinschaften unterschiedlichster Grösse und Art zu verbinden, wäre die bessere Antwort auf die baulichen Herausforderungen der heutigen Schweiz, als einmal mehr einer kaufkräftigen Kundschaft im 18. Stock freistehende Badewannen mit Panoramablick anzubieten.

Könnte das dichte, aber doch baulich nicht zu vielgeschossige Stadtquartier in Basel ein Vorbild gegen ausufernde Zersiedlung und für hohe qualitätsvolle Verdichtung in der Agglomeration sein?
Welche Voraussetzungen braucht es für eine solche Entwicklung?

Dafür wären mehrere Voraussetzungen zu schaffen: Der Entwicklung planerischer Instrumente hätten der konsequente Verzicht auf weitere Baulanderschliessungen ausserhalb des Siedlungsgebiets und ein besserer Schutz des ländlichen Kulturraumes vorauszugehen. Die jüngste, in Umsetzung befindliche Revision des Raumplanungsgesetzes schafft die Voraussetzungen dafür.

Zudem wären die Zonenpläne mit einem Werkzeug für die Raumgestaltung zu ergänzen, das die tatsächlich erlebbaren übergeordneten Stadt- und Landschaftsräume aus der Fussgängerperspektive mitberücksichtigt und nicht bloss auf abstrakte Weise Flächen bestimmten Nutzungen zuordnet.

Die neusten digitalen Planungsinstrumente liefern Möglichkeiten, Pläne, Luftbilder und visuelle Standpunkte miteinander zu verknüpfen. Grundprinzip der Regulation sollten Anreize sein und nicht Verbote. Eine zu weitgehende Planung «von oben» wird ohnehin am Föderalismus scheitern, und dieser ist nicht etwa eine Gefahr, sondern eine Chance für einen vielfältigen Städtebau.
Auch die Hausbesitzer profitieren

Die Gemeinden könnten Rahmenpläne erstellen, die aufzeigen, wie sich aus offenen Bebauungen langfristig geschlossene Stadtquartiere entwickeln lassen, mit anderen Worten: wie eine bauliche Verdichtung mit Mischnutzungen entstehen kann. Die Grundeigentümer dürften erwarten, dass ihr Bauland langfristig an Wert gewinnt, weil entlang der Strassen Haus an Haus gebaut werden kann. Zugleich liessen sich durch Ungleichzeitigkeit und Verschiedenheit der Baumassnahmen individuelle Ausprägungen und Charaktere der Quartiere akzentuieren. Ziel dieses Vorgehens müsste es sein, jene Urbanisierung anzustreben, die wir in unseren Innenstädten schätzen.

In diesem Sinne wäre die stadthistorische Aussage «Die Römer bauten Städte, der Alemanne dagegen pflegte seinen Hof» zu korrigieren. Ein Blick auf die Bebauungsstruktur der lateinisch geprägten Kantone zeigt, dass Urbanität manchmal auch auf kleinstem Raum und an überraschenden Orten entstanden ist. Auch davon können wir Deutschschweizer für die zukünftige Gestalt unserer Heimat lernen.

Marc Jordi ist Städtebauer, Architekt und Bildhauer in Berlin und beobachtet als Schweizer die hiesige Raumentwicklung seit 20 Jahren.

Die Neue Züricher Zeitung im Internet: www.nzz.ch