Die WELT vom 25.02.2015 - Von Dankwart Guratzsch

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Wie es zwischen Alexanderplatz und Stadtschloss einmal aussehen könnte: Vision für die größte Brache in Berlin-Mitte in Planspielen von Architekten aus dem Jahr 2009 Foto: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung

Was wird aus der Brache in Berlins Mitte zwischen Alexanderplatz und Stadtschloss? Der Senat setzt auf Bürgerbeteiligung, doch so läuft Städtebau nicht. Dabei liegen gute Pläne in der Schublade.

"Willkommen zur Stadtdebatte Berliner Mitte 2015." Mit diesem sympathischen Gruß lädt zebralog, die "Agentur für crossmediale Bürgerbeteiligung", zur Diskussion über den prominentesten Stadtraum Deutschlands ein: die große Brache zwischen Alexanderplatz und neu erstehendem Stadtschloss im Herzen der deutschen Hauptstadt. Was soll aus dem zwölf Hektar großen Riesenfeld werden, das einmal ein quirliger Stadtteil war und sich heute als verwilderter Park präsentiert?

Es sind vor allem zwei diametral entgegengesetzte Zukunftsbilder von Stadt, die hier aufeinanderprallen: bebauen oder dauerhaft begrünen? Dass die Frage überhaupt gestellt wird, ist ein Rückschritt um 70 Jahre, zurück in die Stunde null der Nachkriegszeit. Noch einmal stellt die Berliner Senatsverwaltung so etwas wie ein Relikt von Hans Scharouns "Urstromtal" zur Wahl – aber ist das anno 2015 überhaupt noch ernst zu nehmen?

Hat sich die Welt nicht inzwischen weiter gedreht, sind die Ruinen nicht verschwunden, leidet Berlin nicht unter lauthals beklagter Wohnungsnot, mindestens in den gefragten Quartieren, unter Gentrifizierung und ersten bedrohlichen Anzeichen von Segregation und sich herausbildenden Parallelgesellschaften? Hat man hier wirklich die Lehre der Nachhaltigkeit, des verdichteten Städtebaus und der kurzen Wege, der Verkehrsminderung und der Nutzungsmischung nicht vernommen?

Die Wahrheit ist wohl, dass den Politikern der Schock über den Volksentscheid zur Zukunft des Tempelhofer Flughafens, der mit einem Fiasko für die Bebauungspläne der Stadtentwicklungsbehörde endete, noch so tief in den Knochen sitzt, dass es der Berliner Senat nicht mehr wagt, eigene Visionen für Berlins Zentrum zu entwickeln. Die sollen nun die Bürger selbst liefern – frei nach dem Motto des letzten sächsischen Königs: "Macht euern Dreck alleene."
Dabei setzt der Senat auf ein neues "diskursives Verfahren", das in der Kommunalpolitik wie ein Patentrezept herumgereicht wird, mit dem die Kluft zwischen Bürgern und Verwaltung überwunden und die alte Planung "von oben" ersetzt werden soll. Statt Familienaufstellung also Bevölkerungsaufstellung. Bürger spielen Stadtplanung.

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Noch eine Vision mit Rotem Rathaus und viel Leere Foto:  Senatsverwaltung für Stadtentwicklung

Die Leute von zebralog sind darin erfahren, sie haben seit 2003 rund 150 derartige Beteiligungsprojekte durchgezogen. Von einem großen Wurf, der dabei herausgekommen wäre, ist zwar bisher nichts zu hören gewesen. Auch nicht davon, dass etwa die Wahlbeteiligung gestiegen wäre oder auch nur eine einzige Stadt ein funkensprühendes funkelnagelneues Image gewonnen hätte. Aber vielleicht muss ja jede Stadt – vorausgesetzt, sie hat genug Zeit und Geld dafür – die Erfahrung selber machen.

Dem Berliner Senat sind auf alle Fälle die ersten Bürgervoten schon zuteil geworden. Er präsentiert sie ohne Namensnennung und Kommentar auf seiner Internetseite. Und es scheint sich zu bestätigen, was ohne allzu viel Scharfsinn von Anfang an zu erwarten war. "Ich gehe nicht gerne zum Platz zwischen Fernsehturm und Spree", beantwortet da einer die Senatsfrage, und begründet es so: "... weil ich noch nie ein derartiges Jammertal in einer historischen Innenstadt Europas gesehen habe. Die lange schon überlebte Nachkriegsmoderne hält sich nur hier hartnäckig. Warum eigentlich? Ich bin für eine Wiederbelebung der alten Mitte."

Da ist ein anderer ganz entgegengesetzter Meinung. "Ich gehe gerne zum Platz zwischen Fernsehturm und Spree, weil man hier wunderbar picknicken kann." Und noch zwei Stimmen, die den Meinungszwiespalt illustrieren: "Ich gehe nicht gerne zum Platz zwischen Fernsehturm und Spree, weil, dieser Park mit Marx und Lenin ist voll daneben. Sind wir hier in Nordkorea, Kuba, oder was?" Dazu die Gegenmeinung: "Ich gehe gerne zum Platz zwischen Fernsehturm und Spree, weil man hier die unterschiedlichsten Epochen der Berliner Geschichte authentisch besichtigen kann."

Berlin ist also wieder dort angekommen, wo es vor der Internationalen Bauausstellung 1984/87 schon einmal war: in einer Selbstblockade, die so manchem genervten Bewohner seine Stadt damals als "unregierbar" erscheinen ließ. Ein Durcheinander von Positionen, Gefühlen, persönlichen Vorlieben und handfesten Egoismen verstellt den Blick auf die großen europäischen Perspektiven der Stadt. Wie können sich auf dieser Basis repräsentative Mehrheitsmeinungen auch nur für einen einzigen Stadtbezirk gewinnen lassen?

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Und noch eine Variante, mit weniger Grün Foto:  Senatsverwaltung für Stadtentwicklung

Bei einem ähnlichen Verfahren mit dem hochtrabenden Titel "Zukunft Dresden 2025+", bei dem die Fragen auf Stadtteile und Themenbereiche aufgeschlüsselt waren, wurden (laut Arbeitsstand vom 8. April 2014) zu 112 Fragenkomplexen nur elf Mal mehr als zehn Beiträge eingereicht, dafür 32 Mal lediglich ein Beitrag. Zustimmung bei mehr als Hundert "Unterstützern" erreichte nur ein einziger Fragenkomplex (133 Stimmen für Grünflächen, Kleingärten in der Rubrik "Ressourcenschonende Stadt"), zwölf weiteren Themenkreisen applaudierten 50-100 Unterstützer, für 43 fanden sich weniger als zehn. Für eine Stadt mit 530.000 Einwohnern kommt eine solche "Bürgerbeteiligung" einem Desaster gleich.

Zettelbörsenpolitik mag die Verwaltung von Schuldkomplexen entlasten und Politiker in der Illusion wiegen, "populär" und "demokratisch" zu handeln. Aber so funktioniert Städtebau nicht. Er muss zwischen Utopie und Wirklichkeit, zwischen Politik und Gesellschaft, zwischen Kunst und Alltagsbedürfnissen, zwischen Identität und Experiment auf intelligente und mitreißende Weise vermitteln. Genau das ist in Berlin nach 1990 auf beispielhafte Weise gelungen. Hätte man schon damals zu der heutigen "Debattenkultur" gegriffen, wären der Potsdamer Platz und die Friedrichstraße bis heute nicht fertiggestellt.

Ist die Ideenfindung für den zentralen Stadtraum Berlins wirklich so schwer? Seit Jahren liegen fertige Pläne in der Schublade. Ausgearbeitet hat sie noch der frühere Senatsbaudirektor Hans Stimmann, der Schöpfer des neuen Nach-Wende-Berlins, das ein internationales Publikum fast noch mehr als die Berliner selbst begeistert. Auch die Gesellschaft Historisches Berlin hat Visualisierungen eines urbanen Quartiers mit
Kauf-, Kontor- und Wohnhäusern für die Berliner Mitte vorgelegt, die wegen ihrer Maßstäblichkeit, urbanen Dichte und Vielfalt faszinieren.

Diese Vorlagen, die das zweitälteste Bauwerk der Stadt, die heute verloren in der Stadtsteppe stehende Marienkirche, wieder in städtische Strukturen einbinden und an den alten Stadtgrundriss anknüpfen, entsprechen der inzwischen international gefeierten "Leipzig-Charta für die nachhaltige europäische Stadt" (2007) und den keinesfalls auszublendenden Grundstücksverhältnissen der Vorkriegszeit. Sie haben deshalb eine hohe Realisierungsreife und -qualität.

Es ist zu fragen, warum sie bis heute nicht umgesetzt sind? Das Umsteuern in der Berliner Baupolitik geht auf den inzwischen zum Regierenden Bürgermeister aufgestiegenen früheren Stadtentwicklungssenator Michael Müller und seine weiter amtierende Senatsbaudirektorin Regula Lüscher zurück, die sich städtebaulichen Konzepten der 1920er-Jahre mehr als der Gegenwart verbunden fühlten. Statt der Stadtmitte wandten sie ihr Augenmerk den Stadträndern zu.

Bei aller Fragwürdigkeit des jetzt eröffneten 450.000 Euro teuren Verfahrens, das noch auf diese Crew zurückgeht, besteht dennoch Hoffnung auf eine erneute Kurskorrektur. In einer lange nicht mehr gewohnt zupackenden Rede auf dem jüngsten Stadtentwicklungsforum im Umspannwerk am Alexanderplatz hat sich Müllers Nachfolger Andreas Geisel überraschend deutlich zur Innenstadt bekannt. Er wolle noch in diesem Jahr Ergebnisse sehen – auch am Molkenmarkt und an anderen zentralen Orten der Stadt.

Das sind neue Töne, die sich wie eine Kampfansage an das bisherige wirre Leitbild von der "Draußenstadt" anhören, mit dem bereits die Pläne für eine neue Internationale Bauausstellung in Berlin in den Sand gesetzt worden sind. Am Ende allerdings zählt das, was dabei herauskommt. Daran muss sich der "Neue" messen lassen.

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