Berlins historisches Zentrum ist ein Ort der jüngsten Vergangenheit – vor allem die beiden deutschen Diktaturen haben ihn geprägt. Bei den Überlegungen für die künftige Gestaltung wird das bisher kaum gewürdigt.
Der Tagesspiegel vom 07.03.2015 - Von Harald Bodenschatz

Das Ringen um die Berliner Mitte geht in eine neue Runde. Ein „Dialogverfahren“, von einem professionellen Moderationsbüro begleitet, soll Impulse für die künftige städtebauliche Gestaltung geben – mit Bürgerbeteiligung und ergebnisoffen. Alte Mitte – neue Liebe? Das wäre schön. Aber es fehlt an wichtigen Weichenstellungen, um bei den Planungen die stadthistorische Bedeutung des Ortes zu würdigen und den Weg für künftige Nutzungen zu ebnen. Vor allem bleibt im Dunkeln, dass die Berliner Mitte von heute zum größten Teil das städtebauliche Ergebnis der beiden Diktaturen ist, des Nationalsozialismus und der DDR.
Diese Feststellung soll die Unterschiede der beiden Diktaturen nicht wegbügeln. Im Gegenteil.

 

NATIONALSOZIALISTISCHE MITTE
Mit der Behörde des „Generalbauinspektors“ für die Neugestaltung der Reichshauptstadt waren 1937 die institutionellen Grundlagen für einen Abbruch der Berliner Altstadt geschaffen. Hitlers Chefarchitekt Albert Speer projektierte für die Berliner Mitte den Durchbruch der Ostachse, der heutigen Karl-Liebknecht-Straße. Betroffen davon waren weite Teile des nördlichen Alt-Berlin, aber auch die Gegend um den Hackeschen Markt. Die Großbauten, die hier entstehen sollten, folgten der Logik monumentaler Repräsentation, sie nahmen auf die übrige Altstadt keinerlei Rücksicht.

Parallel zu Speer bereitete die Stadtverwaltung einen großflächigen Umbau des südlichen Alt-Berlin vor. Die geplante Architektur war traditionell, ihr Inhalt modern: vor allem Büros, keine Wohnungen mehr. Kern der Umgestaltung war ein riesiger neuer Molkenmarkt, der an die Stelle des kleinen mittelalterlichen Molkenmarktes treten sollte. Um die Nikolaikirche herum war eine Art Museumsquartier vorgesehen. Dort sollten historische Bauten, die an anderer Stelle abgebrochen wurden, rekonstruiert werden.
Ein Teil dieser gewaltsamen Pläne wurde verwirklicht. An der heutigen Liebknechtbrücke wurden für die Ostachse Gebäude abgebrochen, für den Umbau des südlichen Alt-Berlin erfolgte ein flächendeckender Abriss. Heute stehen dort NS-Bauten, etwa die Reichsmünze. Auch der alte Mühlendamm wurde beseitigt und durch eine Notbrücke ersetzt. Das Ephraimpalais musste einer neuen Straße weichen. Mit zwei großen Durchgangsstraßen wurde der radikal autogerechte Ausbau der Berliner Mitte eingeleitet.
Die Planung wurde auch durch Zugriff auf privates Grund- und Hauseigentum umgesetzt. Die Ausstellung „Geraubte Mitte“ des Berliner Stadtmuseums dokumentierte 2013, dass insgesamt 225 jüdische Grundstücke gewaltsam entwendet wurden.

SOZIALISTISCHE MITTE
Trotz der großflächigen Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg blieben der Stadtgrundriss und private Parzellen zunächst erhalten. Diese wurden erst durch die DDR-Diktatur beseitigt - aufbauend auf den in der NS-Zeit gewaltsam geschaffenen Eigentumsverhältnissen. Der Raub jüdischer Grundstücke wurde nicht rückgängig gemacht, die Enteignungen wurden verallgemeinert. Allerdings blieb noch bis weit in die 1960er Jahre hinein der alte Stadtgrundriss erfahrbar.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war keineswegs von vornherein klar, wie es städtebaulich weitergehen sollte. Frühe Pläne sahen eine partielle Rekonstruktion der historischen Altstadt vor. Im Zuge unterschiedlicher Planungsansätze wuchs schließlich eine neue Ost-Berliner Mitte heran, ein Ort fast ohne Vergangenheit. Bis in die 70er Jahre hinein dominierte der radikal moderne DDR-Städtebau. Das die Mitte zerschneidende Hauptstraßennetz aus der Nazizeit wurde in veränderter Form vollendet. Der riesige Freiraum zwischen Alexanderplatz und Spree, mit der isolierten Marienkirche im Schatten des Fernsehturms, war dagegen als solcher nie geplant.

Am Ende der DDR-Zeit wechselte nochmals die städtebauliche Orientierung: Das in freier Form rekonstruierte Nikolaiviertel, das als Altstadt-Simulation eine Idee aus der NS-Zeit variierte, war eine eigene Antithese der DDR zu den Hochhäusern auf der nahe gelegenen Fischerinsel.

DIE NEUE MITTE: Erhaltender Umgang statt Abrissbirne

DIE NEUE MITTE
Die Berliner Mitte von heute, das Gebiet der einstigen mittelalterlichen Doppelstadt Berlin/Cölln, ist also vor allem das Produkt der zwei deutschen Diktaturen. Die Zerstörungen und der Umbau zwischen 1933 und 1989 haben den in mehr als 800-jähriger Geschichte gewachsenen Stadtkern radikal verändert und das kleinteilige private Bodeneigentum, vor allem das jüdische Eigentum, beseitigt. Aber in keinem Vorschlag für die Gestaltung der Berliner Mitte fand dieser Gewaltakt Beachtung.

Aus der Kenntnis der überkommenen diktatorischen Mitte ergibt sich nicht automatisch die Gestaltung der Mitte von morgen. Welche Schlüsse wir für die Entwicklung ziehen, bleibt unsere Entscheidung. Notwendig ist aber, diese Entscheidung zu begründen. Nach der Ausstellung „Geraubte Mitte“ müssten Wissenschaftler, Zivilgesellschaft und Politik ihre Sichtweisen und Argumente neu justieren. Die selbstgerechte Verteidigung des „öffentlichen“ Raums gegen „Privatisierung“ ist unter dem Blickwinkel dieser historischen Vorbelastung nicht angemessen. Es ist aber ebenso problematisch, die Bebauung der freien Flächen zu fordern, ohne zu klären, wie mit dem Thema Restitution verfahren und wie mit den Zeugnissen der Diktaturen umgegangen werden soll. Nur Gras, Wasser oder Stein darüber wachsen zu lassen, ist keine Perspektive, auf die Berlin stolz sein könnte.

Die Erinnerung an die beiden Diktaturen erfordert einen reflektierten Umgang mit deren Zeugnissen. Das heißt vor allem: einen erhaltenden Umgang, nicht die Abrissbirne. Gefragt werden muss aber auch, welche Hinterlassenschaften die Zukunft der Mitte behindern. Hier ist die autogerechte Zerschneidung das zentrale Problem. Insofern ist es völlig unverständlich, sich nur auf den großen Freiraum zwischen Alexanderplatz und Spree zu beschränken, ihn als Solitär zu betrachten. Die gesamte Berliner Mitte ist heute zerstückelt, ohne Zusammenhang, mit großen Stadtbrachen durchsetzt. Der Freiraum ist nur ein Bruchstück der fragmentierten Mitte. Er hat aber eine wesentliche Leistung zu erbringen: Er muss die Spandauer Vorstadt mit den Vierteln entlang der Spree wieder verbinden.

Dennoch ist die Mitte nicht nur ein Erinnerungsraum an die beiden Diktaturen. Sie ist der Gründungsort Berlins. Erinnern muss die Mitte daher an eine sehr lange, sehr unterschiedliche und sehr widersprüchliche Geschichte. Heute wird treuherzig und naiv die neue Liebe zur alten Mitte beschworen – ohne den nötigen Verweis auf die widersprüchliche und harte Vergangenheit. Was bringt aber ein Verfahren, das sowohl den falschen Raum als auch die Unkenntnis der Herausforderungen zur Voraussetzung hat?

Erinnerung allein reicht freilich für die Gestaltung der Zukunft an diesem einzigartigen Ort der Stadtgeschichte nicht aus. Wir brauchen über das Wohnen hinaus Ideen für Nutzungen jenseits neuer Shopping-Center. Um ein städtebauliches Konzept für die Mitte zu finden, bedarf es politischer Weichenstellungen. Dazu zählen die Absage an eine isolierte Betrachtung des großen Freiraums, eine Orientierung, die Abschied nimmt vom Konzept der autogerechten Stadt, eine Verpflichtung, an die gesamte Geschichte der Stadt zu erinnern sowie die Forderung, für die Mitte von morgen ein breites Nutzungsspektrum zu finden. Solche Weichenstellungen lassen genügend städtebaulichen Spielraum.

Der Autor ist Stadtplaner und Soziologe und arbeitet unter anderem als Assoziierter Professor am Center for Metropolitan Studies der Technischen Universität Berlin.

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