Hätte im späten Mittelalter die Hessische Bauordnung gegolten, wäre die Frankfurter Altstadt nie entstanden. Ihr aktueller Wiederaufbau ist ein Kompromiss. Aber kein fauler. Das „Wesen der Altstadt“ soll erfahrbar werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26.03.2015 - Von Rainer Schulze

Die Sprache der Ingenieure ist nüchtern, sie kann entzaubern. Auch ein zierliches Gebäude wie das „Haus Esslinger“, dessen Vorgeschichte älter als sechshundert Jahre ist, hat im Jargon der Baustelle einen ziemlich handfesten Namen. Für die Männer, die die Frankfurter Altstadt wieder aufbauen, ist das gotische Fachwerkhaus, in dem einst Goethes Tante Johanna Melber wohnte, schlicht das „HdL Zwo“. HdL bedeutet Hinter dem Lämmchen, so hieß eine der Gassen in der 1944 untergegangenen Altstadt, die jetzt wiederaufersteht. Vom HdL Zwo steht bislang nur das Erdgeschoss, es sieht so unromantisch aus, wie der Name klingt: eine Kiste aus Beton, aus der Bewehrungseisen und Plastikschläuche ragen.

 

Der Bau der Altstadt ist in vollem Gange. Für mehr als die Hälfte der 35 Häuser hat der Rohbau schon begonnen, darunter sind M28 (das Haus „Würzgarten“ am Markt), B19 (der Rebstock-Hof an der Braubachstraße) und das HdL Zwo alias „Tante Melber“, um nur drei von fünfzehn Rekonstruktionen zu nennen, zu denen sich auf dem Areal zwischen Kaiserdom und Rathaus Römer noch zwanzig Neubauten gesellen. „Und wo bleibt das Fachwerk?“, fragen viele, die sich wundern, dass die Altstadt wie eine Neustadt aussieht.

Der Rekonstruktion sind Grenzen gesetzt
Doch das wird sich ändern. Der Bauherr, eine städtische Gesellschaft, übt sich nicht in übertriebenem Pragmatismus. Er handelt aus schierer Notwendigkeit. Unter der Altstadt liegen eine Tiefgarage und eine U-Bahn-Trasse. Statisch ist es deshalb nicht möglich, die Häuser so zu konstruieren, wie das früher einmal geschah. Und auch baurechtlich gilt heute mit der Hessischen Bauordnung ein anderes Regelwerk als im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit: Brandschutz und Energieauflagen setzen der Rekonstruktion Grenzen.

Die Bauherren können keine Kopie der Altstadt erstellen, sie haben auch gar nicht den Anspruch. Sie wollen das „Wesen der Altstadt“ wieder erfahrbar machen und so früh wie möglich zu traditioneller Bauweise übergehen. Das heißt konkret, dass vom ersten Obergeschoss an wieder Fachwerk entsteht, wo einmal Fachwerk war. Am Haus „Würzgarten“ lässt sich das schon heute beobachten: Im ersten Obergeschoss ist eine Fachwerkkonstruktion aus jungem Nadelholz zu sehen, das später einmal verputzt werden soll. Wo das Fachwerk wie bei der „Goldenen Waage“ sichtbar bleibt, ist das Eichenholz bis zu fünfhundert Jahre alt.

Diese Bauweise wirkt abgeklärt, sie ist aber konsequent und gar nicht so weit von der ursprünglichen entfernt. Der Sockel der Altstadthäuser war auch früher massiv, aus Mainsandstein. Heute ist Naturstein als tragendes Material nicht mehr zugelassen, und das Fundament ist eine vierzig Jahre alte Tiefgarage. Weil die Häuser auf deren Betondeckel wachsen, müssen die Lasten anders abgetragen werden. Es gibt auch Ausnahmen: Der breite Sockel des „Goldenen Lämmchens“, eines prachtvollen Patrizierhofs, wird gemauert. Aber je kleiner die Parzellen sind, desto schwieriger wird es mit der Statik. Hier werden die Betonwände nur mit Sandstein verkleidet.

Frankfurt baut nicht auf unehrlichen Fassadismus
Das ist kein Etikettenschwindel. Die Frankfurter Häuser sind keine Attrappen, die Konstruktion entspricht so weit wie möglich dem historischen Vorbild. Anders als in Dresden, wo hinter barocken Prachtfassaden Hotels und Geschäfte mit modernen Grundrissen entstanden sind, wird in Frankfurt kein unehrlicher Fassadismus gespielt. Hier werden nicht nur die Schauseiten der Gebäude wieder aufgebaut, sondern auch die alten Parzellen beachtet. Mit Hilfe der kleinteiligen Parzellierung soll die verwinkelte Atmosphäre der Altstadt wieder zum Leben erweckt werden.

Die fünfzehn rekonstruierten Häuser werden auch von innen möglichst originalgetreu wiederhergestellt. Auf den zwanzig übrigen Parzellen entstehen moderne Neubauten, die sich an den strengen Regeln einer Gestaltungssatzung orientieren, mit Erdgeschossen aus Sandstein und steilen Satteldächern. Lange wurde um die aus einem Architektenwettbewerb hervorgegangenen zwanzig Entwürfe gerungen. Heute lässt sich absehen: Das Ensemble aus Nach- und Neubauten wird kein nostalgisches Museumsdorf, sondern eine in sich stimmige, ihrer eigenen Zeitgebundenheit bewusste Konstruktion von Geschichte.

Die Altstadt soll nicht zur heimeligen Puppenstube für Reisegruppen werden, sondern ein lebendiges Wohnviertel. In den rund achtzig Wohnungen sollen zweihundert Menschen ein neues Zuhause finden. Zwei historisch besonders bedeutsame Gebäude, die „Goldene Waage“ und das „Rote Haus“, bleiben im Eigentum der Stadt. Die übrigen Rekonstruktionen werden verkauft. Für die 54 Eigentumswohnungen in den Neubauten gab es fast vierhundert Interessenten; das Los musste entscheiden.

Geflecht der Gassen soll wiedererstehen
Auf der Großbaustelle tragen die ersten Häuser schon Namen. Schilder an den Rohbauten machen erfahrbar, dass der alte Stadtgrundriss wieder aufgebaut wird. Bis vor fünf Jahren stand an dieser Stelle das Technische Rathaus: drei mächtige Türme aus Waschbeton, die die Frankfurter manchmal „die Elefantenfüße“ nannten. Nirgends in Deutschland ist es der Bevölkerung bisher gelungen, den Brutalismus zu lieben. Auch in Frankfurt wich der Riese, nur 36 Jahre nach seinem Bau, kaum einer weinte ihm eine Träne nach. Er stand einfach an der falschen Stelle. Nun wird das alte Geflecht der Gassen wiederaufgegriffen. Der Stadtgrundriss kehrt zurück und mit ihm einige der Häuser, die vor 71 Jahren dem Krieg zum Opfer fielen.

Nicht nur konstruktiv ist die Altstadt ein gebauter Kompromiss, weil unter der Erde Voraussetzungen geschaffen wurden, die sich nicht ungeschehen machen lassen. Das Ergebnis, das nun realisiert wird, ist auch eine Art Mittelweg zwischen den Fronten der Freunde und der Gegner einer Rekonstruktion. Ein kompletter Wiederaufbau kam nie in Frage, weil viele Gebäude entweder nicht ausreichend dokumentiert oder aus statischen Gründen nicht zu rekonstruieren waren. Dass sich die Neubauten an die Regeln halten und nicht aus der Reihe tanzen, darüber wacht ein Gestaltungsbeirat.

Stadthistorisch bedeutsame Gebäude wie die „Goldene Waage“ von 1619 werden mit besonderer Akribie wieder aufgebaut. Aber auch hier ist die tragende Konstruktion aus Beton. Das sei kein Blendwerk, beteuern die Verantwortlichen, sondern statisch notwendig. Davor wird die Mauerwerkfassade aus rotem Mainsandstein gesetzt, darüber das Fachwerk. Große Teile des steinernen Sockels des Renaissance-Hauses überdauerten den Krieg. Die bildhauerisch besonders wertvollen Steinspolien werden restauriert und wieder eingesetzt. Sie sollen der Altstadt jene Authentizität verleihen, die im Wiederaufbau sieben Jahrzehnte nach der Zerstörung so schwer zu erreichen ist.

Angst vor Stolperfallen
Die Altstadt den heutigen Bedingungen anzupassen ist nicht leicht. Es bleibt vieles auf der Strecke, weil es Normen und Richtlinien so wollen. Weil niemand riskieren will, dass Besucher über die Bürgersteige stolpern, und auch Gehbehinderte problemlos die Schwellen überwinden sollen, wird die Altstadt ein ebenes Pflaster haben. Der ursprüngliche Charakter wird aus Angst vor Stolperfallen auf dem Altar der Barrierefreiheit geopfert.

Die grundsätzlichen Fragen sind geklärt, aber einige Details sind noch offen. Etwa die Frage, wie das Viertel beleuchtet wird. Es steht zu befürchten, dass irgendeine Richtlinie dafür sorgen wird, dass die Gassen in kaltes LED-Licht getaucht werden. Ebenfalls noch nicht entschieden ist, wie der Auftakt zur Altstadt gestaltet werden soll. Wer vom Römerberg in Richtung Dom geht, wird das Viertel gegenüber dem postmodernen Schirn-Café betreten, das auf einem Plateau drei Meter höher liegt als der Krönungsweg. Der Gestaltungsbeirat hält an dieser Stelle eine Pergola für unentbehrlich, weil die Passanten nicht am Eingang des Viertels auf eine hohe Mauer schauen sollen. Aber muss die Pergola wirklich wie ein Sichtschutz die Schirn verbergen?

Alltäglichkeit soll einziehen
Und da ist schließlich die offene Frage, wie die dreißig Geschäfte im Erdgeschoss der Wohnhäuser genutzt werden sollen. Ursprünglich wollte sich die Stadt von diesen Flächen trennen. Nun erwägt sie, sie im Eigentum zu halten, um die Nutzung steuern zu können. Es spricht alles dafür, so zu handeln. Denn nur so lässt sich verhindern, dass ein Souvenirladen neben dem anderen eröffnet, und stattdessen tatsächlich so etwas wie Alltäglichkeit einzieht.

Die großen Schlachten sind in der Altstadt geschlagen: Die Form der Gebäude steht fest, ebenso überwiegend die Nutzung. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, es wird gebaut. Dass die Altstadt endlich Gestalt annimmt, sorgt bei den Beteiligten für Erleichterung. Selbst Kritiker sind einigermaßen versöhnt, zumindest aber gespannt auf das Ergebnis. Gut möglich, dass das Ensemble einmal unter Denkmalschutz gestellt wird. In Warschau, das deutsche Truppen 1944 dem Erdboden gleichmachten, lässt sich erkennen, dass eine wiederaufgebaute Altstadt Identität stiften kann. Das Ensemble ist heute sogar Weltkulturerbe.

So weit wird es in Frankfurt nicht kommen, denn hier ist zu viel Zeit verstrichen. Der teilweise Wiederaufbau steht hier am Ende einer siebzig Jahre währenden Suche nach einem stabilen Mittelpunkt. Die Altstadt könnte die Stadt mit sich selbst versöhnen. Noch braucht man viel Phantasie, um sich die Wirkung vorzustellen. Aber nicht mehr lange. Ende 2017 soll das Viertel fertig sein. Die Altstadt wird nicht wiedergeboren. Sie entsteht neu.

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