Mut zum Traum
Damit es nicht nur bei Erinnerungen an eine versunkene Stadt bleibt:
Frankfurts neues Altstadtquartier wächst auf uraltem Boden – und setzt zum Glück deutlich heutige Zeichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 11.04.2015 - von Dieter Bartetzko
„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit.“ Mit diesem magisch knappen Satz beginnt Thomas Manns Tetralogie „Joseph und seine Brüder“. Trotz des Abstands von Jahrtausenden, so macht der Dichter im folgenden Vorspiel deutlich, erkennen wir uns in den Protagonisten der ersten Hochblüte unserer Kultur, in ihren Bedürfnissen und Sehnsüchten, Ängsten und Triumphen wieder. Sie waren, so Thomas Mann, „Menschen wie du und ich – einige träumerische Ungenauigkeiten ihres Denkens in Abzug gebracht“.
Nicht umsonst beginnen in den Mythen, die der Dichter wiederbelebte, Tragödien und Komödien unserer Urahnen an „unergründlich tiefen Brunnen“; im Mythos wie in Manns Epos spenden sie Leben auch und gerade, weil in ihnen die Vergangenheit auf ihre Wiederentdeckung wartet. Joseph, dem biblischen Titelhelden der Tetralogie, zum Beispiel übermitteln die drei Tage und Nächte, während deren er hilflos auf dem Grund eines Brunnens auf Rettung wartet, die Einsicht, Akteur eines jahrhundertealten Kampfes menschlicher Leidenschaften zu sein.
Ein Brunnen, an Geschichten überreich
Brunnen wie der des Joseph sind weder auf die Umgebung des Jordans, die Wüsten Galiläas und die „fruchtbaren Triften“ Alt-Ägyptens, die Schauplätze also der alttestamentarischen, babylonischen und assyrischen Mythen, beschränkt noch auf die Urzeiten unserer Kultur. Sie finden sich überall und zu allen Zeiten: In Frankfurts im Bau befindlichen neuen Altstadtquartier zum Beispiel wird mit dem Hühnermarkt, einem Platz wenige Schritte vom gotischen Domturm, einer der ältesten, an Geschichte überreichen Brunnen Frankfurts wiedererstehen. 1951 mitsamt den Trümmern der umgebenden Altstadthäuser rigoros entsorgt, soll er künftig wieder die 1895 aufgerichtete, mit einer Bronzebüste des Lokaldichters Friedrich Stoltze geschmückte rotsandsteinerne Brunnensäule tragen, die 1944 den Bomben entgangen war.
Mit dem Stoltze-Brunnen wird also ein Idyll des späten neunzehnten Jahrhunderts an seinen Ursprungsort zurückkehren. Die Geschichte des Brunnens aber gründet weit tiefer als in der Spätromantik der Jahre um 1890. Sie reicht bis hinab in die frühesten Zeiten Frankfurts: Archäologische Sondagen ergaben Ende des neunzehnten Jahrhunderts und in den fünfziger Jahren Erstaunliches – die bis ins achtzehnte Jahrhundert mit dem geheimnisvollen Namen Freithofbrunnen benannte Anlage entstand nicht, wie zuvor aufgrund von Urkunden vermutet, im vierzehnten Jahrhundert. Untere Mauerschichten des Brunnenschachts entstammten der Karolingerzeit und fußten ihrerseits auf römisch antiken Steinlagen.
Tief hinab in die frühesten Zeiten der Stadt
Dass die Geschichte des Areals rund um Frankfurts Dom bis in die Römerzeit zurückreicht, war allgemein bekannt. Vor den Entdeckungen im Hühnermarktbrunnen aber herrschte Konsens, dass auf dem Gelände zwischen Main-Furt und der späteren ersten Kaiserpfalz samt Dom nur eine kleine römische Wachstation bestanden habe. Nun erwies sich, dass die Formel „Loco celebris“, mit der karolingische Dokumente Frankfurt bezeichnen, keine höfische Übertreibung gewesen ist. Denn der Brunnen könnte ursprünglich für einen weitläufigen römischen Gutshof oder gar eine aufwendige, mit Thermen ausgestattete Landvilla gebohrt worden sein, einen Ort also, den spätere Generationen angesichts der Reste stattlicher Bauten durchaus als „gefeierte Stätte“ wahrgenommen haben könnten.
So waren denn auch die Archäologen, die vor einigen Jahren bei Grabungen im Frankfurter Dom die Grundmauern einer unbekannten Kapelle entdeckten, nicht sonderlich überrascht. Der Bau, eventuell eine Wallfahrtsstätte, enthielt das mit reichen Beigaben ausgestattete Grab eines fränkischen Mädchens, einer Kindheiligen möglicherweise. Auch dieser Fund erhärtete die These vom „Loco celebris“.
Die Stadt richtig lesen
Wie lange bleiben solche spannenden Entdeckungen im allgemeinen Gedächtnis? Erfahrungsgemäß faszinieren sie allenfalls kurzzeitig, um dann im Datenwirbel des Informationszeitalters zu verschwinden. Gleichwohl nistet sich das, was der „Brunnen der Vergangenheit“ am Hühnermarkt oder die Domgrabungen preisgaben, schleichend im Bewusstsein der Bürger ein, verästelt sich zu Gefühlen von Geborgenheit, Zugehörigkeit und Kontinuität: „Das Kleine und Veraltete erhält seine eigene Würde und Unantastbarkeit dadurch, dass die bewahrende Seele der antiquarischen Menschen in diese Dinge übersiedelt; die Geschichte seiner Stadt wird ihm zur Geschichte seiner selbst. Hier ließ es sich leben, sagt er sich, denn hier lässt es sich leben; hier wird es sich leben lassen, denn wir sind zäh und nicht über Nacht umzubrechen.“ So schrieb Friedrich Nietzsche 1874 in seinen „Unzeitgemäßen Betrachtungen“.
In den Bombennächten des März 1944 musste Frankfurt erleben, dass Städte sehr wohl „über Nacht umzubrechen“ sind. Doch selbst beim Anblick unkenntlicher Schutthaufen und zwei Generationen später beim Anblick der heutigen, radikal neuen Stadt blieb die Erinnerung an die versunkene Altstadt drängend präsent: „So entwickelt der Städter ein instinktives Richtig-Lesen der noch so überschriebenen Vergangenheit, ein rasches Verstehen der Palimpseste“, prognostizierte einst Nietzsche. Er hat recht behalten. Denn ebendies Lesen-Wollen der Vergangenheit ist der eigentliche Antrieb für die enormen Anstrengungen, mit denen derzeit zwischen Dom und Römer versucht wird, einen Teilausschnitt der jahrhundertealten Stadt wenigstens im Abglanz zurückzugewinnen.
Glanz, Zerstörung und Wiederbeginn
Das Bestechende des Projekts ist der Vorsatz, sich nicht mit bloßen Faksimiles des Verschwundenen zu begnügen. Statt denkfauler purer Wiederholung unwiederbringlich verlorener baulicher Szenarien sollen neue Stadthäuser in Kombination mit detailgetreuen Rekonstruktionen besonders kostbarer historischer Bauwerke die Geschichte des Ortes umfassend sinnfällig machen – den Glanz, die Zerstörung, den mühsamen Wiederbeginn, die architektonischen Fehlschläge der Spätmoderne und den zeitgenössischen Versuch, die vorangegangenen Fehler zu revidieren.
Besonders ambitionierte Beispiele hierfür sind drei an der Einmündung des einstigen Krönungswegs in den Domplatz geplante Häuser. Eines davon, ein Neubau, der den historischen Namen „Rebstock“ seines Vorgängers übernommen hat, entsteht derzeit auf der Parzelle Markt8.
Mit wuchtigen Proportionen und einem mächtigen Dreiecksgiebel, kräftigen Erdgeschossarkaden und hohen Rundbogenfenstern sticht er von den eher zierlichen Proportionen seiner künftigen Nachbarbauten ab. Aus gutem Grund: Denn das Haus der Berliner Architekten Jordi& Keller greift auf die Bauten der einstigen Hofanlage „Zum Rebstock“ zurück. Dieser mittelalterliche Kaufmannshof, ein Paradebeispiel jener „Vesten in der Veste“, als die Goethe Frankfurts Kaufmannssitze bezeichnete, besaß vor seinem Teilabriss 1906 steinerne Giebelhäuser, deren kompakte Bauart auf die Spätromanik und frühe Gotik verwies.
Dies und Fragmente romanischer Bauskulptur, die Frankfurts Historisches Museum verwahrt, legen die Vermutung nahe, dass hier, in unmittelbarer Nähe zur Kaiserpfalz, adlige Ministerialen ihre Wohnsitze erbaut hatten; Festungen fast im buchstäblichen Sinn, die im Lauf der Jahrhunderte verschwanden oder von den Fachwerkhäusern nachfolgender Kaufleute und Handwerker überwuchert wurden.
Moloch des Betonbrutalismus
Auf diese weitgehend vergessenen Ursprünge des Rebstocks greifen Jordi & Keller mit ihrem stattlichen, die längst verschwundenen Steinbauten zitierenden Giebelhaus zurück. Dass sich ausgerechnet im Erdgeschoss ihres Rebstocks eine U-Bahn-Station befindet, deren pflegeleicht technoide Bauformen krass mit denen des Hauses kollidieren, ist den Umständen geschuldet. Wettgemacht wird das Manko durch eine Respektsgeste der Architekten vor der jüngsten Vergangenheit: Die umlaufenden schmalen Kragbänder des Neubaus, die als schlichter Fassadenschmuck auf Alt-Frankfurter Art die Geschosse markieren, werden aus aufbereitetem Waschbeton, dem Abbruchmaterial des Technischen Rathauses, bestehen.
Als Moloch des Betonbrutalismus war der Riesenbau 1972 mit plumpen, von Waschbetonplatten verkleideten Polygonen mitten in die zuvor geschlossene Häuserzeile der Braubachstraße gerammt worden, hatte den Abbruch des letzten Rokokohauses und der Fragmente eines Renaissance-Hofs notwendig gemacht und war für die Bürger jahrzehntelang ein provokanter und ignoranter Fremdkörper im Stadtgefüge geblieben. Während der Debatten um den Abriss des Technischen Rathauses wurde klar, dass das geschmähte Bauwerk durchaus Qualitäten hatte und auf einem innerstädtischen Freigelände als reizvoll vielschichtiges monumentales Steckspiel Wirkung hätte entfalten können. Wohl deshalb entschlossen sich Jordi & Keller, mit ihren Fassadenbändern an das Rathaus zu erinnern, dem seine verheerend falsche Plazierung zum Verhängnis wurde.
Palimpsest im Sinne Nietzsches
Was der künftige „Rebstock“ am Markt8 diskret andeutet, könnte sich am nördlichen des gesamten Rebstock-Ensembles, genauer: auf dem Grundstück Braubachstraße21 zum faszinierenden Emblem des gesamten Viertels entwickeln. Dort nämlich wird eine Giebelwand zwei rekonstruierte historische Bauten der Hofanlage abschließen. Das südliche von ihnen, momentan im Rohbau schon zu erkennen, ist ein stattlicher Längsbau; mit entzückenden geschnitzten Laubengängen ein beeindruckendes Beispiel des Frankfurter Frühbarocks. Nach Norden angrenzend wird sich in Formen des sechzehnten Jahrhunderts ein Fachwerkbau mit stattlichem Zwerchhaus erheben; einst eines unter vielen, künftig ein letzter Zeuge der untergegangenen Fachwerk-Baukultur Frankfurts.
Den Abschluss des Ensembles aber wird eine massive, hoch aufragende Giebelwand bilden. 1906, als man in einem ebenso brachialen wie vergeblichen Versuch, die Altstadt den neuen Verkehrsbedürfnissen anzupassen, die heutige Braubachstraße mitten durch das Gewirr der Gassen, Höfe und Häuser brach, war diese Wand, als der Rebstock zerrissen wurde, zum Vorschein gekommen. Von Jahrhunderten geschwärzte Bruchsteinlagen, zahllose Flickstellen, altersbedingte gefährliche Ausbuchtungen im fast meterstarken Mauerwerk vereinten sich zu einem bezwingenden Bild der fernsten Vergangenheit. Reste eines monumentalen Staffelgiebels, dazu vermauerte uralte Rundbogenfenster bewiesen, dass es sich nicht um eine martialische Brandmauer, sondern um das Fragment der Fassade eines Gebäudes in der Art eines Palas handelte; eine Kostbarkeit sondergleichen, ein Palimpsest im Sinne Nietzsches.
Kein NS-Plagiat
Die krisengeplagte Stadtverwaltung der Weimarer Republik musste sich damit begnügen, diese Fassade mit zwei Notpfeilern abzustützen. Während des „Dritten Reichs“, in dem Frankfurts Altstadt zum nazistischen Ideal der „Stadt des Deutschen Handwerks“ umgestaltet werden sollte, galt die Giebelwand sofort als Schandfleck. Man brach große Teile von ihr ab, die verbliebenen Reste wurden 1936 als Rohmaterial für eine steinerne Alt-Frankfurter Fassade genutzt, deren markige Konturen unfreiwillig die Vorliebe des NS-Regimes für Wagners Meistersänger-Theatralik verrieten; aus demselben Grund wurde auch das angrenzende Haus trotz seines reizvollen Fachwerks verputzt.
Das nun für die Rekonstruktion der beiden historischen Rebstockhäuser zuständige Frankfurter Architekturbüro Müller & Jourdan, das zunächst gemäß der aktuellen Gestaltungssatzung des Viertels auch die Rekonstruktion der Fassade von 1936 vorgesehen hatte, besann sich glücklicherweise eines anderen: Statt des NS-Plagiats wird nun eine Interpretation der spätromanisch-gotischen Giebelwand entstehen. Und das keineswegs als Plagiat. Denn aus einem Steinbruch, der schon das mittelalterliche Frankfurt mit Baumaterial versorgte, wird Kalkstein geliefert, aus dem die Giebelwand einst gemauert worden war. Mit ihm werden die ehemaligen Konturen samt der Fragmente des Treppengiebels nachgezeichnet. Auf Kopien der ehemaligen vermauerten Fenster haben die Architekten verzichtet. Stattdessen werden Fensterschlitze die Massivität der Wand veranschaulichen und deutliche Zeichen des Heute setzen.
Über uns „die Sterne, die wir kennen“
Leicht wird es diese Giebelwand, die so gar nichts Trauliches bieten wird, ihren Betrachtern nicht machen. Doch wer sich ihrem Menetekel-Charakter öffnet, der dürfte entschädigt werden mit einem ergreifenden Blick in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser Stadt, die sich gewöhnlich im Zehnjahrestakt um Kopf und Kragen baut. Endlich ein Bauwerk, das nicht nur die glanzvolle Geschichte dieser Kaufmannsstadt beschwört, sondern auch ihre barbarische Zerstörung durch den Krieg und einen überhasteten Wiederaufbau eindringlich in Szene setzt und mit diesen ungeteilten Erinnerungen Wege in die Zukunft weist. Das heißt Bindung, heißt Kontinuität und Halt im rasenden telematischen Zeitalter.
Man mag Müller & Jourdan, frei nach Thomas Mann, ob ihres freien schöpferischen Umgangs mit Zitaten des Einst und Motiven des Jetzt einige „träumerische Ungenauigkeiten des Denkens“ unterstellen. Doch sicher ist, dass ebendieser Mut zum Traum dem deutschen und sogar dem europäischen Städtebau, der momentan haltlos zwischen Bedürfnissen nach Tradition und bedingungsloser Innovation schlingert, entscheidende Impulse geben kann. „Die Augen auf, wenn ihr sie in der Abfahrt verkniffet. Seht, über uns gehen die Sterne, die wir kennen.“ So endet Thomas Manns Erkundung des Brunnens der Vergangenheit.
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