Berliner Zeitung vom 20.04.2015 - von Uwe Aulich

Es ist ein großes Experiment, auf das sich Berlins Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD) einlässt. Anders als beim Tempelhofer Feld oder bei anderen Großprojekten dürfen die Berliner jetzt diskutieren, wie die historische Mitte genutzt und später gestaltet werden soll. Es geht um das Gebiet zwischen Fernsehturm und Spree sowie Marienkirche und Rotem Rathaus. Am Sonnabend hat Geisel die breit angelegte Stadtdebatte im Berlin Congress Center eröffnet. Einen derartigen öffentlichen Dialog gibt es in der Hauptstadt zum ersten Mal. Rund 700 Berliner hatten sich angemeldet. Ganz so viele sind dann zwar nicht gekommen, trotzdem war der Kuppelsaal der früheren Kongresshalle gut besucht.  

Was die Berliner von dem zwölf Hektar großen Areal halten, das in den 60er- und 70er-Jahren von der DDR als Zentrum der sozialistischen Hauptstadt gestaltet wurde, haben sie auf Hunderte Karten geschrieben. Die Mitte ist eine "Leerstelle ohne Aufenthaltsqualität", sie ist "öde und beängstigend". Die Bürger empfinden den Ort als einen "anonymen Angstraum", der dreckig und verkommen ist.  

Und deshalb wünschen sie sich Veränderungen. Nur welche? Viele wollen die großen Freiflächen bis zur Spree auf jeden Fall erhalten, das ist schon jetzt klar. Natürlich müssten sie schöner gestaltet werden, vielleicht wie der Lustgarten, der im Sommer gleichermaßen Touristen, Angestellte der umliegenden Büros und die Berliner anzieht. Das Marx-Engels-Forum könnte vielleicht ein Park werden oder eine große Liegewiese an der Spree mit Denkmal, lauten erste Vorschläge im Internet.  

Auch die Verfechter einer historisierenden Bebauung mit kleinteiligen Bürgerhäusern, wie sie die Gesellschaft Historisches Berlin vorschlägt, bringen sich in Stellung. So informiert der Verein Bürgerforum Berlin in einer Open-Air-Ausstellung am Neptunbrunnen seit Sonnabend über den alten Stadtkern. Er setzt sich "für die Realisierung lebendiger und schöner Straßen und Plätze ein, wie sie bis 1933 bestanden haben".  

Viele Widersprüche  
Senator Geisel weiß, dass das Gebiet voller Widersprüche steckt. Er habe zuletzt viel über die DDR-Moderne und das Rathausforum gelernt. "Jeder hat ein Bild von diesem Ort. Aber es ist nicht klar, welche Nutzungen wir uns vorstellen." Wenn es zum Beispiel neue Wohnhäuser gebe, müsse bedacht werden: Wer kann es sich leisten, darin zu wohnen? Bei der Gestaltung von Freiflächen müsse "Qualität gewonnen werden".  

Vorgaben machen Geisel und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher nicht. Architektenentwürfe legen sie auch nicht vor. Im Gegenteil, sie verhängen ein Bilderverbot, um die Debatte nicht zu beeinflussen. Dennoch können sie die Vision eines riesigen Wasserbeckens am Humboldt-Forum und andere Entwürfe, die als Planspiele 2009 im Senatsauftrag entstanden, nicht aus den Köpfen verbannen. Geisel bekräftigte, dass der Dialog "ergebnisoffen geführt wird". Lüscher hofft, dass trotz der widersprüchlichen Vorstellungen etwas Neues gelingen kann. "Das scheint im Moment aber noch schwer vorstellbar zu sein."

Die Stadtdebatte  
Der Bürgerdialog zur historischen Mitte wird von der Agentur Zebralog unter dem Titel "Alte Mitte - neue Liebe?" im Auftrag des Senats organisiert. Er wird bis zum Jahresende geführt.  

Führungen, Workshops und Ausstellungen gehören dazu. Am 15. und 22. 6. gibt es Kolloquien, am 5. 9. ein Halbzeitforum. Als Fazit wird ein Bürgermanifest formuliert.  

Das Manifest soll 2016 Basis für einen Parlamentsbeschluss und einen Wettbewerb sein. Im Internet kann bis 18. Mai diskutiert werden:

www.stadtdebatte.berlin.de

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK Wenn das Humboldt-Forum fertig ist, wird das große Auswirkungen auf die Mitte haben. Ob dann Neptun ans Schloss zurückkehrt, ist offen.


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