Heute vor 50 Jahren starb der Architekt, der mit seinen menschenfeindlichen Visionen die Zerstörung der klassischen Stadt propagierte
Die Welt vom 27.08.2015 - Von Rainer Haubrich Stv. Ressortleiter Meinung

Den Sessel kennt fast jeder. Wenn das Gespräch auf den Architekten Le Corbusier kommt, fällt den meisten als Erstes dieser würfelförmige Sessel mit den schwarzen Lederkissen ein, der von einem Chromgestell zusammengehalten wird. Dieses zeitlos-elegante Möbel des schweizerisch-französischen Baumeisters aus dem Jahre 1928 ist tatsächlich ein Klassiker geworden. Genauso wie die "Corbusier-Liege" aus dem gleichen Jahr mit ihren geschwungenen Kufen.

Was Le Corbusier aber bis zu seinem Tod durch Ertrinken am 27. August 1965 an verheerenden Ideen und Visionen in die Welt gesetzt hat, davon weiß das Publikum wenig.

Der hagere Mann mit der charakteristischen runden Brille war einer der großen Zerstörer all dessen, was über Jahrhunderte die Lebendigkeit und Schönheit traditioneller Städte ausmachte. "Man muss die Korridorstraße töten!", schrieb er in einer seiner berühmten Wachskreide-Skizzen. Mit "Korridorstraße" meinte er die Art, wie seit ewigen Zeiten Häuser links und rechts entlang einer Straße errichtet wurden, mit Geschäften, Restaurants und Cafés im Erdgeschoss und einem privaten Hof zur Rückseite. Le Corbusiers Vision einer Stadt der Zukunft war radikal anders, und sie sollte für jeden Winkel der Welt gleich aussehen, egal ob sie in den Tropen lag oder am Polarkreis: riesige Wohnscheiben auf Stelzen in einer Parklandschaft, dazwischen breite Schnellstraßen für ungebremsten Autoverkehr. Fußgänger waren nicht vorgesehen, und öffentliche Plätze gab es auch nicht mehr.

Ausgerechnet im Herzen von Paris hätte er das zu gern einmal exemplarisch umgesetzt. Sein "Plan Voisin" von 1929 sah vor, die gesamte Altbausubstanz mehrerer Arrondissements nördlich des Louvre abzuräumen und durch einheitliche, 60-stöckige Hochhäuser auf kreuzförmigem Grundriss zu ersetzen. Und er war empört, dass seine Genialität nicht erkannt wurde: "Die Stadtverwaltung hat sich nie mit mir in Verbindung gesetzt. Sie nennt mich ,Barbar!'" Hellsichtige Leute müssen das gewesen sein. Vor allem totalitäre Systeme waren empfänglich für solche Vorschläge. Deshalb bewunderte Le Corbusier zunächst die Sowjetunion ("Bolschewismus heißt: alles so groß wie möglich, die größte Theorie, die größten Projekte"), später das Dritte Reich ("Hitler kann sein Leben mit einem großartigen Werk krönen: der Neugestaltung Europas").

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Le Corbusiers Ideen dann auch von Stadtplanern in westlichen Demokratien begierig übernommen und umgesetzt. Bis auch der Letzte gemerkt hatte, wie menschenfeindlich diese neuen Quartiere waren. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass solche Metropolen nicht funktionieren – einer der letzten Stadtentwürfe Le Corbusiers für Chandigarh im Norden Indiens ist ein solcher. 1952 wurde der Grundstein gelegt, und schon bald eilten die Anhänger der Moderne herbei, um spektakuläre Fotos davon zu machen. Aber die Kolosse aus Sichtbeton hatten mit dem Leben der Menschen vor Ort nichts zu tun, und sie wurden schnell unansehnlich im tropischen Klima.

Eine seiner standardisierten "Unités d'habitation" (Wohneinheiten) auf Stelzen baute Le Corbusier auch in Deutschland, zur Internationalen Bauausstellung in Berlin 1957, in der Nähe des Olympiastadions. Man kann nicht behaupten, dass dieses Gebäude Schule gemacht hätte. Was nicht nur am Sichtbeton liegt oder an den Dimensionen (es ist 140 Meter lang und 56 Meter hoch), sondern auch an den Etagen-"Straßen" im Inneren, die an Gefängnisflure erinnern. Le Corbusier hatte eigentlich nur 2,26 Meter Deckenhöhe vorgesehen, doch man zwang ihn, wenigstens den deutschen Sozialbaustandard von 2,50 Meter zu erfüllen.

Das seltsame Maß für die in seinen Augen ideale Raumhöhe ergab sich aus seinem "Modulor" – noch so einer Kopfgeburt des Großmeisters. Der "Modulor" war ein von ihm aus den Maßen des menschlichen Körpers abgeleitetes Proportionsschema, das er zur Grundlage seiner Bauten machte. Deshalb sind die Mönchszellen seines berühmten Klosters La Tourette lediglich 2,26 Meter hoch und 1,83 Meter breit. Viele Gefängnisse bieten mehr Raum.

1957 nahm Le Corbusier am irrwitzigen Hauptstadtwettbewerb Berlin teil, den Senat und Bundesregierung ausgeschrieben hatten. Fast die gesamte Bebauung zwischen Alexanderplatz und Potsdamer Platz, die den Krieg überlebt hatte, wurde zum Abriss freigegeben, erhalten bleiben sollten nur einzelne historische Bauwerke. Anstelle des alten Straßenmusters hatten die Planer, ganz in Le Corbusiers Sinne, ein dichtes Netz von Autobahnen und Schnellstraßen vorgegeben. 151 Büros machten Vorschläge, einer grotesker als der andere. Le Corbusier entwarf dreiflügelige Wolkenkratzer für die Altstadt und säuberlich aufgereihte Monotonie für die südliche Friedrichstadt. So stellten sich damals die tonangebenden Architekten der Welt die Stadt der Zukunft vor, und in Brasilia wurde eine solche aseptische Fantasie im gleichen Jahr tatsächlich prämiert und später gebaut.

Wie alle Großmeister der Moderne war Le Corbusier der Hybris verfallen, zu glauben, mit ihnen beginne eine vollkommen neue Architektur, die allem Gebauten davor weit überlegen sei. Als Walter Gropius 1937 seine Professur in Harvard antrat, ließ er erst einmal die gesamte bauhistorische Bibliothek entsorgen. Und Le Corbusier schrieb: "Es bleibt uns nichts mehr von der Architektur früherer Epochen, so wenig wie uns der literarisch-historische Unterricht an den Schulen noch etwas geben kann."

Es war ein Jahrhundertirrtum. Keine der Visionen Le Corbusiers für eine neue Architektur oder neue Städte hat sich als zukunftsfähig erwiesen. Schlimmer noch: Die Bauwerke, die in seinem Geist überall auf der Welt entstanden, sind heute überwiegend Denkmäler eines epochalen Scheiterns. Die "Korridorstraße", die Le Corbusier einst töten wollte – sie ist putzmunter wie eh und je, weil sie den idealen Rahmen bildet für ein lebendiges, vielfältiges urbanes Leben der kurzen Wege.

Das Gegenteil von Le Corbusiers Prophezeiung ist eingetreten: Die "Architektur früherer Epochen" ist begehrter denn je. In allen Städten erblühen jene historischen Viertel, in denen die Moderne keinen Schaden anrichten konnte. Dort in den Altbauwohnungen sitzen auch jene, die von der Großartigkeit moderner Architektur schwärmen und – wie ihr Idol Le Corbusier – ständig neue Visionen einfordern. Unter prächtigen Stuckdecken der Gründerzeit stapeln sich die Bildbände über die Villa Savoye und die Wallfahrtskirche in Ronchamp. Und davor steht, auf 100 Jahre altem Intarsienparkett: der Corbusier-Sessel. Der war wirklich nicht schlecht.

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