Im vergangenen Jahr ist die soziale Bindung von knapp 9000 Wohnungen in Berlin gefallen. Bis 2025 wird das Angebot weiter schrumpfen. Der Neubau kommt nicht nach.
Tagesspiegel vom 5.10.2017 - von Ralf Schönball

Die schlechten Nachrichten aus der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung reißen nicht ab. Die neueste Hiobsbotschaft trifft die Koalition ins Mark, denn sie besagt im Kern: Noch nie war Rot-Rot-Grün so weit entfernt von dem eigenen, im Koalitionsvertrag festgelegten Ziel, Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung zu schaffen und die soziale Mischung der Quartiere zu bewahren. Dazu bedarf es günstiger, öffentlich geförderter Wohnungen. Doch deren Zahl steigt nicht, sondern schrumpft in schwindelerregendem Tempo. Das könnte tausende Mieter in wirtschaftliche Not stürzen.

 

Denn wenn die Fristen für die Bindungen der Mieten von Sozialbauten auslaufen, dann dürfen Hauseigentümer die Mieten kräftig anheben. Und allein im vergangenen Jahr sind 8718 Wohnungen wegen ausgelaufener Bindung aus dem Bestand der Berliner Sozialwohnungen „abgegangen“. Anfang dieses Jahres besitzt das Land nur noch 115.644 geförderte Mietwohnungen zur Versorgung von Menschen mit geringen Einkünften. Und weil bestenfalls 1100 neu gebaute Sozialwohnungen in diesem Jahr hinzukommen, sinkt das Angebot weiter. Ein Ende der Schrumpfungskur ist nicht abzusehen, jedenfalls nicht bis zum Jahr 2025.

In Berlin hat die Wohnungsnot längst die Mittelschicht erreicht
Dieses düstere Szenario trifft eine Stadt, in der die Wohnungsnot längst die Mittelschicht erreicht hat. Und es stammt nicht von der Opposition, sondern von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung selbst. Mit der „roten Nummer 0644“ informierte der Staatssekretär der Verwaltung Sebastian Scheel am 18. September das Abgeordnetenhaus über die besorgniserregende Entwicklung beim sozialen Wohnungsangebot. Dabei hat der Senat sogar noch großzügig gerechnet und dem „Abgang“ von Sozialwohnungen zahlreiche Neubauten gegenübergestellt: Fast 34.000 sollen in nur einem Jahr entstehen, im Jahr 2025. Viele Experten bezweifeln jedoch, dass es dafür genügend Bauland gibt.

Der Senat hat zu spät auf die Wohnungsnot reagiert
In diese missliche Lage gebracht hat Berlin der rot-rote Senat unter Klaus Wowereit (SPD). Dessen Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hatte die Förderung des Sozialen Wohnungsbaus abrupt beendet mit der Absicht, den Haushalt dadurch um die Fördermillionen zu entlasten. Mangels „Anschlussförderung“ kommen die Sozialwohnungen nun auf den freien Markt.

Verantwortlich für den Verlust tausender Sozialwohnungen ist auch die damalige Senatorin Ingeborg Junge-Reyer (SPD): Mit dem Wohnraumgesetz 2011 legalisierte sie die Flucht aus dem Sozialen Wohnungsbau, weil so beim ersten Verkauf einer Sozialbaus alle sozialen Bindungen wegfielen und die Wohnungen zu Marktmieten angeboten werden durften. Gebaut wurde unter Junge-Reyer nichts. Dabei überwies der Bund jährlich Millionen Euro für Berlins sozialen Wohnungsneubau.

„Drei viel zu lange Jahre hat es gedauert, bis der Senat auf die Wohnungsnot reagiert hat, deshalb nimmt das Drama jetzt seinen Lauf“, sagt der Chef des Berliner Mietervereins Reiner Wild. Bereits im Jahr 2011 habe es deutliche Anzeichen für die Wohnungsnot in Berlin gegeben. Doch erst 2014 kam eine neue Förderung. Erst weitere zwei Jahre später wurden die ersten neuen Wohnungen fertig: 100 an der Zahl, im vergangenen Jahr.

Dass immer mehr Hauseigentümer aus den Förderprogrammen aussteigen, hat außerdem handfeste wirtschaftliche Vorteile: Wer das Förderdarlehen zurückzahlt, spart Zinsen und Sanierungskosten ohne Einschränkungen auf die Mieten umlegen. Weil viele Immobilien in guter Innenstadtlage stehen, spekulieren Investoren oft auf deren Umwandlung in teuer gehandelte Eigentumswohnungen.

Berlin fehlt es an Baukapazitäten, Bauland und Zustimmung für Neubaupläne
Bei der Bauverwaltung hieß es, man wolle durch einen Bündel von Maßnahme den Verlust an Sozialwohnungen ausgleichen. So sollen landeseigene Firmen „60 Prozent der neuvermieteten Wohnungen an WBS-Empfänger vergeben“. Mehr Geld soll für den geförderten Wohnungsbau fließen, damit „bis 2021 jährlich 5000 neue Wohneinheiten“ entstehen. Auch arbeite der Senat an einer „Novellierung des Wohnraumgesetzes“.

Doch nach einer Umfrage von Berlins größtem Wohnungsverband BBU unter seinen Mitgliedern fehlt es in der Stadt an Baukapazitäten, an Bauland und an Zustimmung in der Bevölkerung für Neubaupläne. Diese Hürden stünden dem Ziel im Wege, bis zum Jahr 2030 die auch vom Senat für nötig erachteten zusätzlichen 200.000 neuen Wohnungen zu schaffen.

Zuletzt hatten die sechs landeseigenen Wohnungsunternehmen in einem Brandbrief an Bausenatorin Lompscher gewarnt, dass sich die Bereitstellung der vom Land Berlin zugesagten Flächen für den Bau günstiger Wohnungen verzögere. Sprecher von Finanzsenator Matthias Kollatz-Ahnen (SPD), zuständig für die Liegenschaftspolitik, weist das zurück: „Fünf Tranchen mit insgesamt 140 Grundstücken mit einem Wertvolumen von rund 281 Millionen Euro“ würden an die Firmen gehen und „Projektverträge“ verpflichteten diese dazu, darauf bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.

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