Sozialistische Moderne
Berliner Zeitung vom 02.07.2018 - von Maritta Adam-Tkalec

Kein Zweifel, es wehte der Geist des Vergangenen im Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster. So sehr sich FDJ und SED mühten – sie kamen nicht an gegen das bürgerliche Gedankengut in den Schülerhirnen, gegen christliche Einstellungen, bürgerlich-humanistische Bildungstradition inklusive alter Sprachen.

400 Jahre hatte die Schule in den Gemäuern des Franziskanerklosters bestanden, war das erste und älteste Berliner Gymnasium. Nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg war sie schließlich in die Niederwallstraße gezogen – doch brachte die Distanz zum Gemäuer keinen Traditionsbruch. 1958 entzog man der Institution den alten Namen und nannte sie schlicht 2. Oberschule Mitte. Auch das half nichts.

Kulturkampf in der Schule
Der mit der Umerziehung beauftragte neue Direktor Walter Franz beklagte am 17. Juni 1959 als Volkskorrespondent in der Berliner Zeitung „falsche Schülerträume“. Zum Aufsatzthema „Wie stelle ich mir meine Zukunft vor“ hätten die Zehntklässler – in „gar nicht schlechter Form“ übrigens – reaktionäres Denken offenbart.

Ein Schüler schrieb, er wolle „so schnell wie möglich eine eigene Rechtsanwaltspraxis, ein Haus an einem See, dazu Auto und Segeljacht“. Ein anderer strebte an, als „Arzt mit eigener Praxis“ zu arbeiten und eine Weltreise zu machen – „nach Ägypten, Indien und in die USA“. Direktor Franz reagierte empört: „Kaum ein Schüler hatte den Wunsch, in einem staatlichen Institut, einem volkseigenen Werk zu arbeiten. Diese Begriffe fielen überhaupt nicht.“

So könne das große Ziel, der Schule den Namen eines Arbeiterführers zu geben, nicht erreicht werden. Dazu müsse die Schule zeigen, dass „sie mit den verstaubten reaktionären Traditionen“ aufräume.

Flucht nach Westberlin
Im Jahr zuvor hatte ein Drittel des Abiturientenjahrgangs nach Westberlin rübergemacht, und ein Leitartikler der Berliner Zeitung hatte am 28. Juni 1958 festgestellt: „Traditionen haben es in sich! Nun aber stehen wir mitten in einer Kulturrevolution und müssen lernen, umzudenken.“ Die Jugend sei „in engster Beziehung zur sozialistischen Produktion zu bilden, ihr Bewusstsein als Söhne und Töchter eines Arbeiter-und-Bauern-Staates zu entwickeln“. Also: Russisch statt Latein, FDJ statt Christengemeinde, Arbeiterkinder statt Bürgerliche. Ganz so radikal kam es nicht. Bis 1984 bestand in den Räumen die EOS Berlin-Mitte als einzige staatliche Schule Ostberlins mit altsprachlichen Klassen für Kinder der neuen Elite.

Mittelalterliches Bauwerk 
Die Ruinen alten Denkens abzuräumen, blieb aber Kampfauftrag, und ungünstig stand es auch um die steinernen Ruinen des Berlinischen Gymnasium zum Grauen Kloster am angestammten Ort an der Klosterstraße. 700 Jahre hatten die ältesten Gebäude dort gestanden, bevor sie unter den Bomben zusammenfielen. Bis dahin galten die Klostergemäuer als wichtigste mittelalterliche Bauwerke der Stadt.

Die Reste, die dort nach 1945 noch standen, wurden zunächst notdürftig stabilisiert: die Ruinen der Kirche, des Refektoriums und des Kapitelsaals. 1951 erlitten sie massive Schäden beim Bau eines U-Bahn-Verbindungstunnels unter dem Grundstück. Für Refektorium (Erdgeschoss) und Kapitelsaal (1. Obergeschoss) mit ihren eindrucksvollen gotischen Gewölben bestand trotzdem Überlebenshoffnung, weil die DDR-Planer eine Nutzung als romantisches Weinrestaurant erwogen. Die Trümmer der anderen Gebäudeteile des Klosters wurden nach 1959 abgeräumt. 1961 erfolgte der Abriss des 1519 angefügten Nordflügels. Einzig für die Klosterkirche nahm man eine bauliche Sicherung vor und erhielt sie als Mahnmal gegen den Krieg.

Im September 1962 berichtete die Berliner Zeitung: „Um die Klosterkirche türmten sich die abgebauten historischen Mauersteine; man fragte sich, was wird übrigbleiben? Heute, nach der Amputation der baufälligen Teile, steht die Ruine fest und gesichert, Überbleibsel des finsteren Mittelalters, aber auch Erinnerung an die Zeit der Entstehung unserer Stadt.“

Nützliche Brüder
Da hatte der Autor namens „Fridolin“ doch tatsächlich einen Gedanken für die Einzigartigkeit des Ortes übrig. Doch weder Weinstubenpläne noch historische Bedenken retteten die letzten Spuren der Schule, die Relikte von Refektorium und Kapitelsaal wurden vor 50 Jahren, am 25. Juni 1968, eingeebnet. Die Utopie der autogerechten Stadt siegte. Die DDR-Führung wollte den gigantischen Straßendurchbruch Gertraudenstraße-Grunerstraße zum Alexanderplatz. Seither pfeift der Geist der Moderne über den Asphalt.

Mit dem Plattmachen der Überbleibsel des Grauen Klosters endete eine 700-jährige Geschichte. Im Jahr 1271 hatten die brandenburgischen Markgrafen Otto V. und Albrecht III. aus dem Hause der Askanier den in Berlin bereits tätigen Franziskanerorden durch eine Grundstücksschenkung zum Bau ermuntert. Den Platz darf man getrost als privilegiert bezeichnen: in direkter Nachbarschaft zur markgräflichen Residenz, dem Hohen Haus, zugleich ruhig nahe der Stadtmauer. Die Markgrafen erhofften sich von der Klostergründung Vorteile bei der Besiedlung und Christianisierung der erst 120 Jahre zuvor eroberten, slawisch geprägten Region.

Dem grauen Habit der in betonter Armut lebenden Ordensbrüder verdankt sich der Name des Klosters, das das heutige Areal zwischen Klosterstraße, Grunerstraße und Littenstraße umfasste. Die Vielzahl der Grablegen bedeutender Personen zeugt vom guten Verhältnis zwischen Mönchen, Adel und Bürgerschaft. Dank einer Grabplatte mit eingeritzter Figur, die über Jahrhunderte in der Klosterkirche lag, haben wir Kunde vom ältesten bildlich bekannten Berliner: Conrad von Beelitz, Großkaufmann und einer der reichsten Patrizier der Stadt. Die lateinische Inschrift der Platte, die heute das Märkische Museum verwahrt, teilt mit: „Am 15. Mai im Jahre des Herrn 1308 ist Conrad von Belitz gestorben, dessen Seele in Frieden ruht. Amen.“ Das war vor 710 Jahren.

Kabinett des Wissens
Die Reformation, so milde sie sich in die Mark Brandenburg und nach Berlin vorgearbeitet hatte, bedeutete für das Kloster die Schließung. Kurfürst Joachim II. löste es 1539 auf, doch durften die Mönche noch bis zum Tod des letzten Bruders wohnen bleiben. Der starb 1571. Drei Jahre später kamen die Schüler.

In den drei Jahrzehnten der Ruhe hatte sich allerdings ein unkonventioneller Zwischennutzer eingestellt. Der Schweizer Leonhard Thurneysser, Alchimist und kurfürstlicher Leibarzt, machte die Gewölbe zum Laboratorium, braute Heiltränke, betrieb einen schwunghaften Medikamentenhandel, machte angeblich Gold, richtete das erste naturwissenschaftliche Kabinett Brandenburgs ein, legte einen botanischen Garten an, hielt exotische Tiere im Klosterhof. Und er betrieb im alten Kloster neueste, auch aufs Internationale ausgerichtete Technik: die erste Druckerei Berlins. Dort wurde auch das erste Berliner Plakat hergestellt. Es mahnte die Einwohner der Stadt angesichts einer schweren Pestepidemie 1576 zu „guter politischer Ordnung an allen Orten“ sowie „Säuberung, Reinigung von stinkender Materie und Unrat“. Thurneysser druckte über Jahre diverse Schriften mit deutschen, hebräischen, lateinischen, griechischen und arabischen Lettern. Er belebte das geistige Leben Stadt erheblich und darf auch als inspirierender Wegbereiter des Gymnasiums gelten.

Dieses rief Kurfürst Johann Georg 1574 als Lateinschule ins Leben und begründete damit die fortan führende Berliner Bildungsanstalt. Die Zahl großer Namen in der Schülerschaft zeugt vom Rang: die Architekten Johann Gottfried Schadow und Karl Friedrich Schinkel gehören dazu, der große Kunstmäzen James Simon wie auch Reichskanzler Otto von Bismarck. Dieser schrieb in seiner Autobiografie, er habe das Graue Kloster verlassen „mit der Überzeugung, dass die Republik die vernünftigste Staatsform sei“.

Wiederaufnahme der Tradition
Zahlreiche Anbauten erweiterten im Lauf der Jahrhunderte den Betrieb. Von Anbeginn sammelte das Gymnasium Bücher, Schul- und Personalschriften, Karten, Atlanten, etc., immer wieder ergänzt durch Schenkungen wie die der Schüler Sigismund Streit oder Friedrich Nicolai, sodass eine der größten deutschen Schulbibliotheken herangewachsen war. Der im Krieg reduzierte Bestand war zunächst mit in die Niederwallstraße gezogen, heute verwahrt ihn die Zentral- und Landesbibliothek.

Bis zur Gründung der Berliner Universität 1810 durch Wilhelm von Humboldt stand das Berlinische Gymnasiums zum Grauen Kloster als Bildungsstätte allein auf weiter Flur. Bei den Vorarbeiten für die Universitätsgründung stützte sich Humboldt in erster Linie auf die Hilfe des alten Gymnasiums. Die ersten Professoren, zum Beispiel der Theologe und Altphilologe Friedrich Schleiermacher, hatten zuvor im Grauen Kloster gelehrt. Wie ein roter Faden zieht sich das Wirken des Gymnasiums durch die Berliner Geistesgeschichte.

Über die Zeit war das Verhältnis zur Krone abgekühlt – je deutlicher sich das Graue Kloster als Schule des Bürgertums entfaltete. Nicht zufällig schufen die Hohenzollern 1706, quasi als Gegengewicht, das Joachimsthalsche Gymnasium in Templin als Fürstenschule für begabte Knaben.

Man muss es als großes Verdienst werten, dass die Evangelische Kirche diese Tradition nicht verloren geben wollte, die die DDR mit der Löschung des Namens mutwillig weggeworfen hatte. 1963 wurde dem 1949 gegründeten, seit 1954 in Wilmersdorf ansässigen evangelischen Gymnasium nicht nur der alte Name Graues Kloster übertragen, sondern auch ausdrücklich die Fortsetzung der Tradition. Die Schüler nennen sich Klosteraner, pflegen einen Schulgeist der Gemeinsamkeit und eines gewissen Elitegefühls. Sie lernen alte Sprachen und feierten 1974 stolz das 400-jährige Bestehen der ältesten Schule Berlins.

In sechs Jahren steht das 450-jährige Jubiläum an. Dass es schon in dem vorgesehenen neuen Gebäude neben der alten Klosterkirche gefeiert werden kann, ist wenig wahrscheinlich.

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