Die Welt vom 09.06.2019 - von Dankwart Guratzsch

Möglichst viele Wohnungen in möglichst kurzer Zeit zu bauen und dabei möglichst hohe Gewinne einzustreichen – das ist das Rezept für die Überwindung der Wohnungsnot. Doch die Wirklichkeit stellt ganz andere Forderungen.

Entlarvend sind die Nachrichten, Interviews und Regierungsprogramme zur Beseitigung der aktuellen Wohnungsnot. Von allem ist die Rede, was sich schnell und billig herstellen lässt. Nur ein Begriff fehlt: Schönheit. Wie kann man aber annehmen, dass sich die Wohnungsnot beseitigen lässt, wenn man nur für das nackte Bedürfnis baut, anstatt die gestiegenen Ansprüche und die Wohnzufriedenheit, die neuen Wohnstile, die neue Gesellschaftsstruktur zu berücksichtigen?

 

Die Mieten explodieren in jenen Stadtteilen, deren Gepräge all das bereithält. Es sind überwiegend die Gründerzeitquartiere. Die zeitgenössische Architektur, der moderne Städtebau hat dem nichts Adäquates an die Seite zu stellen.

Wer in einem vor mehr als 100 Jahren gebauten Quartier wohnt, genießt heute alle Vorzüge, die die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ der EU aus dem Jahre 2007 den Bürgern versprochen hat. Aber solche Quartiere werden heute nicht neu konzipiert, sondern man redet vom schnellen Bauen, von Kostengünstigkeit, gar von Enteignung, die – Wohnungsbauexperten sollten es wissen – in der DDR zum flächenhaften Verfall der Innenstädte geführt hat.

Aber da die Grenze in vielen Köpfen noch immer nicht überwunden ist, orientiert man sich am Erbe des gewerkschaftlichen Wohnungsunternehmens „Neue Heimat“, das gerade in einer Ausstellung in München Wiederauferstehung feierte. Massenquartiere, Schlafstädte, Arbeiterschließfächer, Flachdachkisten, Plattenbaudiscount – das ist es, was der Wohnungswirtschaft vorschwebt.

Mit wenig Geld, wenig Komfort, wenig „Kunst“, wenig Fantasie möglichst viele Wohnungen in möglichst kurzer Zeit zu bauen und dabei möglichst hohe Gewinne einzustreichen – das ist das Rezept für die Überwindung der Wohnungsnot. Das ist der Wohnungsbau, der staatlich gefördert wird.

Die Wirklichkeit stellt ganz andere Forderungen. Denn die Gründerzeitquartiere sind ja nicht deshalb gefragt, weil sie alt sind. Sondern weil sie all das bieten, was das urbane Leben spannend, unterhaltsam, lebendig, „urban“ macht.

Soziale Mischung, sogar im selben Haus, kurze Wege, Läden und Kneipen, stille private, grüne Höfe, die mitten in der Stadt eine abgeschirmte Idylle bieten – all das hält die Stadt der Kaiserzeit bereit, die damals allein aus Privatmitteln erschaffen wurde, ohne einen einzigen Pfennig „Staatsknete“, ohne sozialen Wohnungsbau, ohne Bürgerbefragungen, ohne Dutzende Forschungsinstitute und Hunderte Forschungsreihen.

Verständlich, dass die, die hier wohnen, nicht ausziehen wollen, und die, die neu in die Städte zuziehen, genau hier eine Wohnung suchen und jeden Preis dafür zu bezahlen bereit sind. Genau deshalb explodieren die Mieten. Denn Wohnungen gibt es in Deutschland genug – nur nicht dort, wo sie nachgefragt werden.

Überall versucht man, in das Gefüge der Stadt durch Gängelung – Mietpreisbremse, Grundsteuer, Absenkung von Baustandards, meistbietende Verscherbelung von Landes- und Kommunalgrundstücken – die Abwürgung des Marktes und die Entstehung neuer steriler Dutzendsiedlungen im Hauruckverfahren von oben durchzudrücken. Eigentlich hätte die Erfolglosigkeit dieser Instrumente längst darüber belehren müssen, dass auf diese Weise die tatsächlichen Wohnbedürfnisse nicht befriedigt werden können.

Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte ist der soziale Wohnungsbau diesen Bedürfnissen gerecht geworden und hat auch nur die Wohnungsnot lindern können – nicht einmal in der dirigistisch gesteuerten Wohnungsbaupolitik der DDR. Aber man tut so, als gingen einen Lehren aus der Geschichte nichts an und man müsse in einer geschichtlich einmaligen Situation das Rad neu erfinden.

Jüngst veranstaltete das Institut für Stadtbaukunst mit Sitzen in Dortmund und Frankfurt am Main zum zehnten Mal seine „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ in Düsseldorf. Schon der Titel besagt (und das schon seit 2009), dass beide Begriffe zusammengehören. Architekten, Ingenieure, Planer diskutierten dort drei Tage lang, wie die städtische Lebenswelt menschenfreundlich gestaltet, das wahre Wohnglück gesteigert werden kann.

Aber viele Bürgermeister, Planer, Wohnungsgesellschaften oder Immobilienkonzerne interessieren sich immer noch nicht dafür, wie zu dem jahrhundertealten Gesetz zurückgefunden werden kann, wonach gut gestaltete Städte ihren Preis wert sind. Sondern sie zeigen sich nur an Schnelle-mach-hurtig im Städtebau interessiert. Und so sehen die Ergebnisse auch aus.

Idealbild gründerzeitlicher Stadtgestaltung
Besonders begehrt scheint derzeit die Pracht- und Vorzeigestraße der DDR, die Karl-Marx-Allee in Berlin, zu sein. Zwei Wohnungskonzerne und der Senat von Berlin höchstselbst rangeln um den Besitz des Ensembles. Aber anstatt 30 neue Straßen von diesem Anspruch zu bauen und damit die Nachfrage zu befriedigen, streitet man sich lieber vor Gericht. Das Verfahren hat bereits Millionen verschlungen, die der geduldige Steuerzahler berappt oder die über den Länderfinanzausgleich von allen Deutschen bundesweit eingefordert werden.

In Wahrheit hat hier gegen den Widerstand moderner Architekten und sogar des Designers dieser Straße, des DDR-Architekten Hermann Henselmann, das Idealbild gründerzeitlicher Stadtgestaltung, der bürgerliche Boulevard, Wiederauferstehung gefeiert.

Den DDR-Bürgern sagte man: Auch ihr sollt in Palästen wie einst der Adel und die Großbourgeoisie wohnen. Das würden sich auch heute viele wünschen. Aber in der reichen Bundesrepublik macht man lieber auf modisch karg und spießig funktionell. Und deshalb kann sich die gründerzeitliche Stadt vor Nachfrage kaum retten.

Dabei hat die Leipzig-Charta unter dem damaligen Vorsitz des Leipziger Oberbürgermeisters Wolfgang Tiefensee schon 2007 Wohnungsbaugrundsätze aufgestellt, die genau das bezweckt hatten: das Leitbild der so erfolgreichen, auch noch nach mehr als 100 Jahren aktuellen und beliebten Stadt der Kaiserzeit neu zu beleben und sozial wie funktional gemischte, schöne und lebendige Städte der kurzen Wege, der Energieeinsparung und des ökologischen Gleichgewichts zu schaffen.

Alle europäischen Regierungen, auch die deutsche, hatten das unterschrieben. Jetzt stellte die „Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ in einem Aufruf fest: „Nichts ist erledigt!“, und erstmals forderten 50 Stadtbauräte und Planungsdezernenten in einem gemeinsamen Papier von der Bundespolitik eine Änderung der Baugesetzgebung.

Die Umsetzung der Ideen erfordert geistige Beweglichkeit und Fantasie. Doch man bleibt in den Kommunen, den Länderregierungen und den Bundesbehörden lieber beim bequemen Trott und beim Schematismus der trivialen Funktionalität. Im Städtebau fehlt es nicht an Geld, sondern an Geist.

Aber solange die gewählten Vertreter mit dieser Anforderung nicht klarkommen, wird sich nichts ändern. Nur die Schurigelei wird zunehmen, aus der Städte und Wohnquartiere hervorgehen, wie wir sie in den Schöpfungen der „Neuen Heimat“ unseligen Angedenkens vor uns haben. Ein schreckliches, teures, kulturloses Erbe.

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