Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.5.2019 - von Niklas Maak

Pünktlich zum Frühjahrsbeginn arbeitet man in Berlin daran, einen Teil der Spree zum größten Freibad der Welt umzubauen. Solche Ideen haben Tradition: Die großen Utopien waren immer Träume, die hohe Temperaturen verlangen.

Zum Frühling gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Meinungen: Für die einen kommen mit der einsetzenden Wärme sogenannte Frühlingsgefühle und andere euphorische Stimmungen auf, die anderen werden vom Gegenteil, der sogenannten Frühjahrsmüdigkeit, geplagt und hängen grimmig unter den knospenden Bäumen herum. Es ist wie mit dem Föhn, dem warmen Wind, der von den Bergen in die bayerischen Städte fegt und den einen Kopfschmerzen, den anderen Hochstimmung beschert. Die Mediziner haben es mittlerweile aufgegeben, irgendwelche Erklärungen dafür abzugeben, wie der Mensch an sich auf den Frühling reagiert, eben weil jeder anders reagiert. Dichter mögen den Frühling in der Regel, Fontane sieht „den schweren Traum“ des Winters abgeschüttelt, Mörike freut sich über das durch die Lüfte flatternde „blaue Band“, die Primaveraphobiker dagegen sind genervt von den hormonvollen Überschwänglichkeiten und beklagen die Folgen, die das frühlingshafte Aufplatzen der Dinge mit sich bringt: Das Cabrio, das aufknospende Auto, ist schlecht, weil nun die Musik, die der erregte Fahrer hört, ungebremst auf die Straße dröhnt, die kurze Hose ist eine Zumutung, weil sie die winterweiße Wade freigibt, die Sandale sowieso, weil das, was sie an die Luft lässt, der Fuß, halt so aussieht wie alles, was lange nicht an die Luft gelassen wurde: weiß, käsig, unappetitlich.

 

In diesem Jahr stellten sich all diese Fragen sehr lange nicht, weil es so aussah, als ob der Frühling, der offiziell am 20. März begonnen hatte, einfach ausfallen würde: Während anderswo schon die Kirschblüte begonnen hatte, tauchte in Deutschland das Wort Frühling nur auf der gleichnamigen Quarkpackung auf, die Kinder suchten mit der Schneeschaufel nach Ostereiern, und jeden Morgen schaute man aus dem Fenster in einen energiesparlampenhaft matten Himmel und dachte über die Wahrscheinlichkeit der Möglichkeit nach, dass durch den Klimawandel der Frühling einfach ausfallen und die Temperaturen sich bis Ende Mai um den Gefrierpunkt einpendeln würden, während der Sprecher des Deutschen Wetterdienstes, der den in diesem Zusammenhang doppelt schönen Namen Gerhard Lux trägt, immer neue Negativrekorde zu Lichtmangel und Kälte vermeldete - keine hundert Stunden Sonnenschein seit Dezember! Seit mindestens dreiundvierzig Jahren der trübste Winter in Deutschland!

Ein über siebenhundert Meter langes Schwimmbad
Im Winter werden gern Dinge für ein sommerlicheres Leben gekauft: hauchdünne Kleider für Sommerpartys, die dann wegen Regen und Temperaturen unter 22 Grad nie stattfinden, Surfbretter, Rennräder, die Anfang Mai einen Platten bekommen, dann monatelang nicht geflickt werden und zusammen mit den anderen Trägern eines wärmeren, leichteren Lebens Anfang Oktober in den Keller verbannt werden. Und es sah so aus, als komme es in diesem Jahr wieder genauso.

In diese Dystopie einer eventuell ewigen Lichtlosigkeit und Kälte trat die Berliner Künstlergruppe „realities:united“ mit einer Idee, die den seit Monaten unterbelichtet im Permafrost festsitzenden Berlinern wie eine kälte- und dunkelheitsbedingte Halluzination vorkam: Pünktlich zum Frühjahrsbeginn erhielt das Kollektiv den mit fünfzigtausend Dollar dotierten Holcim Award für den schon einmal prämierten Vorschlag, den sogenannten Kupfergraben, einen Spreearm, der um die sogenannte Museumsinsel herumfließt, in ein über siebenhundert Meter langes öffentliches Schwimmbad zu verwandeln - in das größte Freibad der Welt.

Entwürfe für gutes Wetter
Nun ist man in Berlin große Visionen, aus denen nichts wird, gewohnt. Der Architekt Jakob Tigges hatte vor drei Jahren vorgeschlagen, auf dem Gelände des stillgelegten Flughafens Tempelhof einen künstlichen Berg aufzutürmen, tausend Meter hoch, mit Skigebiet, Seilbahn und Gemsenbesiedlung. Solche Ideen sind immer schön, dachte man sich im kalten Berlin, aber wie groß sind die Chancen, einen Berg bauen zu können, wo ein Flughafen war, und das in einer Stadt, in der man es nicht mal schafft, dort, wo kein Berg ist, einen neuen Flughafen zu bauen?

Jetzt aber, pünktlich zum Frühjahrsbeginn, scheint die Hitzephantasie aber Wirklichkeit werden zu können: Das Flussbad scheint tatsächlich machbar zu sein, und wenn man den Planern glaubt, soll, noch bevor die Kopie des Berliner Schlosses wieder steht, unterhalb von Schlossplatz und Bodemuseum das größte Freibad der Welt eröffnen. Man weiß nicht, was die Freunde des historischen Berlins davon halten, wenn statt Kutschen und Kurfürsten das Volk, wie in einem königlichen Albtraum, auf dem Schlossplatz weitgehend nackt herumläuft und ins Wasser springt; die Stadt hat jedenfalls bekundet, sie wolle das Projekt gern realisieren, Teile der Kaimauern sollen zu Freitreppen umgebaut werden, unter dem zukünftigen Einheitsdenkmal soll eine zentrale Umkleideanlage entstehen. Gereinigt wird das Spreewasser durch einen bepflanzten Kiesfilter, im obersten Abschnitt des bisherigen Kanals soll ein Biotop, eine neue innerstädtische Parklandschaft entstehen; aus der Stadtmitte, die zu einem ganz anderen Biotop für Touristenbusse, Luxuswohnanlagenbewohner und Politiker zu verkommen drohte, wird ein Ort für alle - vorausgesetzt, die Temperaturen liegen deutlich über zwanzig Grad. Womit wir bei einem Thema angekommen wären, das aus den Diskussionen um die Zukunft der Städte immer gern ausgeblendet wird: Die moderne Stadt, die Moderne überhaupt, die allermeisten großen Entwürfe der vergangenen hundert Jahre sind Entwürfe für gutes Wetter.

Sommerlich nacktes Bauhaus
Moderne Architektur ist nur in Ausnahmefällen Architektur für regnerische Tage; sie ist um die Utopie eines ständigen Sommers herumgebaut. Buckminster Fuller wollte über die Stadt der Zukunft gleich eine gigantische geodätische Kuppel bauen, damit in den Straßen immer Sommer sein würde. Oscar Niemeyers Häuser in den Superquadras der Retortenstadt Brasília, die auf Betonbeinen stehen, unter denen eine Schattenzone entsteht, sind ein großer Erfolg; Händler und Kinder versammeln sich dort, ganze Märkte finden hier, im Schutz vor der brennenden Hitze, statt. In Deutschland wirken solche Zonen zumindest während der gefühlten neun licht- und wärmelosen Monate eher unangenehm zugig; die Moderne braucht Temperaturen über dreißig Grad. Schlechtes Wetter war in den allermeisten modernen Visionen nicht vorgesehen. Das Versprechen der Moderne, die neue Welt, beinhaltete sommerliches Wetter. Le Corbusier selbst beschrieb Architektur als „das weise, korrekte und großartige Spiel der Körper unter dem Sonnenlicht“ - völlig undenkbar, dass er sie als die „gemütliche, warme, wohlige Höhle für die kalten Tage des Lebens“ definiert hätte.

Auch in den Möbeln des Bauhauses herrscht ewiger Sommer: In ihrer eleganten Reduktion und freischwingenden, stählernen Leichtbeinigkeit haben sie etwas Entkleidetes: Geräte für eine Welt ohne Kälte. Dabei wirken sie selbst oft kalt, worin das Temperaturparadox der Moderne liegt: Weil sie von einer heißen Welt träumt, müssen ihre Bewohner heruntergekühlt werden; je heißer die Visionen waren, desto cooler mussten ihre Bewohner sein.

Ein Mahnmal für die Erhitzung
Wenn all das so ist, muss man die Frage stellen, was das Verschwinden des Sommers aus dem Design und die winterliche Verpanzerung der aktuellen Dinge bedeuten: Viele neuere Autos sehen aus wie in Daunenjacken aus Blech eingewickelt, die Kühlerfratzen wie von eisiger Kälte verzerrt. Manche Fassade sieht aus wie die Vergrößerung der Wärmedämmplatte, die sie vor der Kälte schützen soll, ins Hausformat, und in den Wohnzeitschriften kann nichts dick, gemütlich und doppellagig genug sein, um die Kälte und die Kanten des Lebens abzufedern.

Bei so viel wärmender Ummantelung, gewissermaßen Verwinterung der Dinge, die sich genauso festzusetzen schien wie die kalte Dauerlichtlosigkeit dieses Jahres, ist jede Versommerlichung der Form eine gute Nachricht. Was leider nicht gebaut werden wird, ist das, was der Architekt Axel Schultes im Jahr 2001 anstelle des nachgebauten Stadtschlosses vorgeschlagen hatte: ein Gebäude, in dessen Zentrum sich eine riesenhafte Düne auftürmen sollte. Der Sand wäre über die Fahrbahn geweht, Gebäude, Plätze, die ganze öde Rechtwinkelei der neuen Mitte wäre in einer Welle aus Sand aufgelöst worden, die Düne wäre die Vollendung des Versprechens der Versommerlichung Deutschlands gewesen, die Utopie der Versandung, die ideale Skulptur der Moderne: eine Form, die sich immer verändert, die alles umfließt, überall eindringt, alles überformt und in Bewegung hält.

Das war am Ende doch zu viel, um wirklich gebaut zu werden. Das Spreebad bringt aber immerhin ein wenig vom modernen Geist der Erwärmung ins kalte Zentrum der Stadt. Es wird vielleicht nur wenige Wochen im Jahr funktionieren - aber auch während des langen Winters wird es ein Mahnmal sein für die utopische Erhitzung der Dinge und dafür, was alles ginge, wenn man die Temperaturen nur entschlossen genug erhöhen könnte.

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